Offener Brief an Bundeskanzler Scholz fordert Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine

Nach einer Meldung der „Berliner Zeitung“ haben Prominente, die eine weitere Eskalation des Krieges befürchten, den folgenden „Offenen Brief“ an Scholz geschickt:

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Scholz,

wir sind Menschen unterschiedlicher Herkunft, politischer Einstellungen und Positionen gegenüber der Politik der NATO, Russlands und der Bundesregierung. Wir alle verurteilen zutiefst diesen durch nichts zu rechtfertigenden Krieg Russlands in der Ukraine. Uns eint, dass wir gemeinsam vor einer unbeherrschbaren Ausweitung des Krieges mit unabsehbaren Folgen für die gesamte Welt warnen und uns gegen eine Verlängerung des Krieges und Blutvergießens mit Waffenlieferungen einsetzen.

Mit der Lieferung von Waffen haben sich Deutschland und weitere NATO-Staaten de facto zur Kriegspartei gemacht. Und somit ist die Ukraine auch zum Schlachtfeld für den sich seit Jahren zuspitzenden Konflikt zwischen der NATO und Russland über die Sicherheitsordnung in Europa geworden.

Dieser brutale Krieg mitten in Europa wird auf dem Rücken der ukrainischen Bevölkerung ausgetragen. Der nun entfesselte Wirtschaftskrieg gefährdet gleichzeitig die Versorgung der Menschen in Russland und vieler armer Länder weltweit.

Berichte über Kriegsverbrechen häufen sich. Auch wenn sie unter den herrschenden Bedingungen schwer zu verifizieren sind, so ist davon auszugehen, dass in diesem Krieg, wie in anderen zuvor, Gräueltaten begangen werden und die Brutalität mit seiner Dauer zunimmt. Ein Grund mehr, ihn rasch zu beenden.

Der Krieg birgt die reale Gefahr einer Ausweitung und nicht mehr zu kontrollierenden militärischen Eskalation ‒ ähnlich der im Ersten Weltkrieg. Es werden Rote Linien gezogen, die dann von Akteuren und Hasardeuren auf beiden Seiten übertreten werden, und die Spirale ist wieder eine Stufe weiter. Wenn Verantwortung tragende Menschen wie Sie, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, diese Entwicklung nicht stoppen, steht am Ende wieder der ganz große Krieg. Nur diesmal mit Atomwaffen, weitreichender Verwüstung und dem Ende der menschlichen Zivilisation. Die Vermeidung von immer mehr Opfern, Zerstörungen und einer weiteren gefährlichen Eskalation muss daher absoluten Vorrang haben.

Trotz zwischenzeitlicher Erfolgsmeldungen der ukrainischen Armee: Sie ist der russischen weit unterlegen und hat kaum eine Chance, diesen Krieg zu gewinnen. Der Preis eines längeren militärischen Widerstands wird ‒ unabhängig von einem möglichen Erfolg ‒ noch mehr zerstörte Städte und Dörfer und noch größere Opfer unter der ukrainischen Bevölkerung sein. Waffenlieferungen und militärische Unterstützung durch die NATO verlängern den Krieg und rücken eine diplomatische Lösung in weite Ferne.

Es ist richtig, die Forderung „Die Waffen nieder!“ in erste Linie an die russische Seite zu stellen. Doch müssen gleichzeitig weitere Schritte unternommen werden, das Blutvergießen und die Vertreibung der Menschen so schnell wie möglich zu beenden.

So bitter das Zurückweichen vor völkerrechtswidriger Gewalt auch ist, es ist die einzig realistische und humane Alternative zu einem langen zermürbenden Krieg. Der erste und wichtigste Schritt dazu wäre ein Stopp aller Waffenlieferungen in die Ukraine, verbunden mit einem auszuhandelnden sofortigen Waffenstillstand.

Wir fordern daher die Bundesregierung, die EU- und NATO-Staaten auf, die Waffenlieferungen an die ukrainischen Truppen einzustellen und die Regierung in Kiew zu ermutigen, den militärischen Widerstand ‒ gegen die Zusicherung von Verhandlungen über einen Waffenstillstand und eine politische Lösung ‒ zu beenden. Die bereits von Präsident Selenskyi ins Gespräch gebrachten Angebote an Moskau ‒ mögliche Neutralität, Einigung über die Anerkennung der Krim und Referenden über den zukünftigen Status der Donbass-Republiken ‒ bieten dazu eine reelle Chance.

Verhandlungen über den raschen Rückzug der russischen Truppen und die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine sollten durch eigene Vorschläge der NATO-Staaten bezüglich berechtigter Sicherheitsinteressen Russlands und seinen Nachbarstaaten unterstützt werden.

Um jetzt weitere massive Zerstörungen der Städte so schnell wie möglich zu stoppen und Waffenstillstandsverhandlungen zu beschleunigen, sollte die Bundesregierung anregen, dass sich die derzeit belagerten, am meisten gefährdeten und bisher weitgehend unzerstörten Städte, wie Kiew, Charkiw und Odessa zu „unverteidigten Städten“ gemäß dem I. Zusatzprotokoll des Genfer Abkommen von 1949 erklären. Durch das bereits in der Haager Landkriegsordnung definierte Konzept konnten im Zweiten Weltkrieg zahlreiche Städte ihre Verwüstung verhindern.

Die vorherrschende Kriegslogik muss durch eine mutige Friedenslogik ersetzt und eine neue europäische und globale Friedensarchitektur unter Einschluss Russlands und Chinas geschaffen werden. Unser Land darf hier nicht am Rand stehen, sondern muss eine aktive Rolle einnehmen.

Hochachtungsvoll,

PD Dr. Johannes M. Becker, Politologe, ehem. Geschäftsführer des Zentrums für
Konfliktforschung in Marburg

Daniela Dahn, Journalistin, Schriftstellerin und Publizistin, Pen-Mitglied

Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt und Publizist, Internationale Liga für Menschenrechte

Jürgen Grässlin, Bundessprecher DFG-VK und Aktion Aufschrei ‒ Stoppt den Waffenhandel!

Joachim Guilliard, Publizist

Dr. Luc Jochimsen, Journalistin, Fernsehredakteurin, MdB 2005-2013

Christoph Krämer, Chirurg, Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges IPPNW (deutsche Sektion)

Prof. Dr. Karin Kulow, Politikwissenschaftlerin

Dr. Helmut Lohrer, Arzt, International Councilor, IPPNW (deutsche Sektion)

Prof. Dr. Mohssen Massarrat, Politik- und Wirtschaftswissenschaftler

Dr. Hans Misselwitz, Grundwertekommission der SPD

Ruth Misselwitz, evangelische Theologin, ehem. Vorsitzende von Aktion Sühnezeichen
Friedensdienste

Prof. Dr. Norman Paech, Völkerrechtler, ehem. Mitglied des Deutschen Bundestages

Prof. Dr. Werner Ruf, Politikwissenschaftler und Soziologe

Prof. Dr. Gert Sommer, Psychologe, ehem. Direktoriummitglied des Zentrums für
Konfliktforschung in Marburg

Hans Christoph Graf von Sponeck, ehem. Beigeordneter Generalsekretär der UNO

Dr. Antje Vollmer, ehem. Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages

Konstantin Wecker, Musiker, Komponist und Autor

Stoppt den türkischen Krieg!

Mitte April begann die Türkei mit Luftangriffen kurdische Siedlungsgebiete im Irak zu bombadieren. Dem sind dann Angriffe von Bodentruppen gefolgt. Diese werden zum einen von der mit der Türkei kooperierenden Peschmerga-Regierung eingesetzt. Zum anderen setzt das türkische Militär Soldaten per Hubschrauber ab. „Die türkische Regierung versucht mit ihrem Krieg, die kurdische Bevölkerung zu vertreiben und strebt eine dauerhafte Besatzung und Annexion der Region an“, erklärte Zübeyde Zümrüt, Ko-Vorsitzende von KON-MED,dem deutschlandweite Dachverband der kurdischen Vereine. Die Angriffe der Türkei seien völkerrechtswidrig und verletzten die Souveränität des Iraks. Dies stellte der wissenschaftliche Dienst des Bundestages bereits bei den Angriffen der Türkei auf Nord- und Ostsyrien im Jahr 2019 fest. In einer Erklärung der kurdischen ANF-news wird zur aktuellen entwicklung wiefolgt Stellung gezogen: „Der NATO-Staat Türkei hat in der Nacht zum Montag einen neuen Angriffskrieg gegen Südkurdistan (Kurdistan-Region Irak) gestartet. Der Irak hat den Völkerrechtsbruch und die Verletzung der Souveränität seitens der Türkei zwar verurteilt, ist jedoch nicht gewillt, die kurdische Bevölkerung zu schützen. Die „westliche Wertegemeinschaft“ hüllt sich wieder mal in Schweigen. … Die internationale Staatengemeinschaft muss ihr Schweigen über den Angriffskrieg, den Völkerrechtsbruch und die Kriegsverbrechen der Türkei brechen und scharf verurteilen“ … Mit ihrem erneuten Angriff auf Südkurdistan will die Türkei ihren Einfluss auf Ölquellen sichern, ihr Staatsgebiet nach osmanischem Vorbild erweitern und von innenpolitischen Problemen ablenken. Als Vorwand nutzt die Türkei, wie so oft, vermeintliche Sicherheitsinteressen.“ Von der Bundesregierung fordert KON-MED einen sofortigen Stopp aller Waffenlieferungen an ihren NATO-Partner.

Bereits zu Beginn des Jahres hatten kurdische Medien einen Hilferuf abgesetzt, da sie sich mit dem Einsatz chemischer Kampfmittel durch die Türkei konfrontiert sahen. Die türkische Regierung sieht sich durch die militärischen Selbstverteidigungskräfte der dortige Kurd:innen, die sie „Terroristen“ nennt, bedroht. Ebenso wie der russische Präsident Putin die Existenz von bewaffneten Kräften in der Ukraine, die einer Naziideologie anhängen, als Vorwand nimmt, einen völkerrechtswidrigen Krieg zu führen, tut es Erdogan. Sachlich besteht natürlich schon deshalb ein Unterschied, weil die kurdischen Milizen völlig auf sich allein gestützt und gar nicht in der Lage sind, den NATO-Staat Türkei zu bedrohen. Sie tut dies nur durch die Attraktivität ihres sozialrevolutionären und multiethnischen Gesellschaftsentwurfs. In der Ukraine ist das Asow-Bataillon integraler Bestandteil der NATO-Strategie gegenüber Russland.

Während die allermeisten Medien in Deutschland uns im einen Fall jeden Abend Bilder des Schreckens senden und verzweifelte Menschen – und es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln, dass dieser Krieg – wie alle anderen auch – barbarisch ist – blenden sie im anderen Fall die Vertreibung der angestammten Bevölkerung in den kurdischen Gebieten und das nicht enden wollende Leiden durch den Angriffskrieg der Türkei fast vollständig aus und rechtfertigen es mit dem „Recht auf Selbstverteidigung“ Dies ist nur das aktuellste Beispiel dafür, wie wenig überzeugend es ist, an echte Empathie der Sendungsverantwortlichen in den dominanten Medien zu glauben. Die Bilder des Leidens sind selektiv und politisch kalkuliert.

Dies wurde auch in den Reden deutlich, die auf der Demonstration der kurdischen Community und ihrer deutschstämmigen Unterstützer:innen gestern in Berlin gehalten wurden. Eine Rednerin sagte wörtlich: „Ein Verbrechen ist kein Verbrechen, wenn der Staat, der es durchführt, ein NATO-Partner ist.“ Diese Doppelmoral müsse endlich aufhören.

Ostermarsch 2022 in Berlin – eine erste Nachlese

Der diesjährige Berliner Ostermarsch fand in Kreuzberg statt. Das Demonstrieren gegen Kriegsgefahren an Ostern hat hier eigentlich keine Tradition. In den letzten Jahren fanden die Ostermärsche vorwiegend in Mitte statt. Doch heißt dies nicht, dass dieses Thema die Kreuzberg:innen nie bewegt hätte. Erinnert sei nur an den Besuch des damaligen US-Präsidenten Ronald Raegan 1987. Der führte zu Randale in Kreuzberg. Denn der Teil der Bevölkerung, insbesondere der junge, der keinerlei Verständnis für die Stationierung atomarer US-Mittelstreckenraketen in Deutschland hatte, wollte diesem Präsidenten ein „Not welcome“ signalisieren. Rund um das Brandenburger Tor gab es jedoch ein Demonstrationsverbot. Das offizielle Berlin applaudierte dort der für die Geschichtsbücher gedachten Inszenierung Reagans, der weihevoll die Worte sprach: „Mr. Gorbatschow – please open this gate“. Die Polizei hatte die Aufgabe zu verhindern, dass die Demonstrant:innen Richtung Brandenburger Tor marschieren. Denn das hätte dort andere Bilder produziert als erwünscht waren. Die Aktiven der Friedensbewegung der 80er Jahre wussten, dass die US-Adminstration sich einer Strategie verschrieben hatte, die Sowjetunion „totzurüsten“ und für diesen Endkampf zwischen dem „Reich des Guten und des Bösen“ Europa, und hier vor allem Deutschland, als Schlachtfeld auserwählt war. Das mobilisierte schließlich Hunderttausende. Im historischen Rückblick wissen wir, dass die US-Strategie des Totrüstens erfolgreich war und auch gerade deshalb wohl dort als erprobtes Rezept gilt. Die von der Friedensbewegung geforderte Auflösung der beiden großen Militärblöcke wurde von den „Siegern“ auch schlicht ignoriert und man nutzte die Zeit, den frei werdenden Raum nun selbst zu besetzen und sich nach Osten auszuweiten.

Möglicherweise waren diese historische Lehren bei vielen Teilnehmer:innen des Osternarsches noch präsent, und sie waren dadurch stärker immunisiert gegen die im Moment verbreiteten Schwarz-Weiß-Erzählungen von den „Mächten der Freiheit“, denen gegen skrupellose Autokraten eine Art Notwehrrecht zustünde und nun eine „Zeitenwende“ notwendig mache, die im Kern all das infrage stellt, wofür die Friedensbewegung der 80er Jahre auf die Staße gegangen ist.

Denn im Gegensatz zu den ersten Demonstrationen, die von jungen Linken in Wedding organisiert wurden, und an denen auch in hohem Maße Gleichaltrige teilnahmen, war der Ostermarsch in Kreuzberg stark geprägt von der Altersgruppe, die mit diesem Thema schon in den 80er-Jahren konfrontiert war. In gewisser Weise hat hier die „alte“ Friedensbewegung wieder den Weg auf die Straße gewagt, um zu verhindern, dass eine radikale Wende rückwärts angetreten wird. Und ich hatte den Eindruck, dass es hier auch eine Ost-West-Begegnung gab und Menschen aus den beiden ehemaligen getrennten Stadthälften zusammengeführt hat, so dass hier frei nach Willy Brandt zusammenwächst, was wirklich zusammengehört. Geeint durch die Erkenntnis: „Nie wieder Krieg“ und nicht erneut wie schon in den letzten Weltkriegen „Alles für den Siegfrieden“.

Die Zahl der Teilnehmer:innen am Ostermarsch in Berlin entsprach zwar nicht dem, was politisch notwendig wäre, die Große Koalition von Bellizisten im Reichstag ernsthaft zu beeindrucken, doch lässt sie Hoffnungen zu, dass wir wachsen können. Mit etwa 1.500 Menschen auf der Demo, so die erste Einschätzung der Organisator:innen dürfte sich die Zahl des letzten Jahres mindestens verdopplt haben. „Zeit-online“ nannte zu diesem Zeitpunkt eine Zahl von 1.300, die von der Polizei gezählt wurde. Wenn nun der „Tagesspiegel“ in seiner Ostersonntagausgabe die Zahl „400“ angibt, die polizeilich autorisiert sei, ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass hier Leute am Werk sind, die sicherstellen möchten, dass eine politisch unerwünschte Bewegung kein mutmachendes Medienecho bekommt.

Bliebe noch zu erwähnen, dass es an diesem Ostermarsch auch einen „Alternativen Ostermarsch“ gab, an dem – auch hier differieren die Einschätzungen – zwischen 650 und 1.000 Friedensbewegte teilnahmen. Organisiert wurde er von ukrainischen und syrischen Gruppen und der Initiative „Leave no one behind“. Als Grund dafür, dass sie zu einer eigenen Aktion aufgerufen haben, gaben die Organisator:innen an, im Aufruf des traditionellen Ostermarsches werde Russland nicht als Agressor genannt und das Recht auf Selbstbestimmung nicht erwähnt. Dies trifft tatsächlich zu. Doch es ist ein Fehlschluss, aus dem Aufruf der Berliner Friedenskooperative (Friko) die These begründen zu wollen, dass die Teilnehmer:innen des Ostermarsches sich in ihrer großen Mehrheit weigerten, Russland als Agressor zu benennen. So sehr die Mehrheit der Demonstrierenden darüber einig sein dürfte, dass die NATO eine große Mitverantwortung für die Zuspitzung der Lage in Osteuropa trägt, so dürfte es noch nur eine kleine Minderheit sein, die Russland schlicht den Opferstatus zubilligen möchte. Einer Teilnahme am „offiziellen“ Ostermarsch wäre den Initiator:innen kaum verwehrt worden. Liest man ihren Aufruf, müssen sie sich eher die Frage gefallen lassen, warum in ihrem Aufruf die NATO mit ihren Weltordnungskriegen und ihrem militärischen Drohpotenzial überhaupt nicht vorkommt und warum dort das gewaltige Aufrüstungspotenzial, das jetzt in Deutschland mit Verfassungsrang angeschoben wurde, mit keinen Wort erwähnt wird. Der Friedensbewegung haben sie damit eher einen Bärendienst erwiesen.

Im Folgenden einige Impressionen vom Samstag aus Kreuzberg: (Bilder: Jochen Gester)

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