Vergleichen wir die Situation von gestern mit der vor einem Jahr, als wir noch in der 1. Welle der Pandemie steckten, wird offensichtlich: das Versammlungsrecht ist wieder hergestellt und es wird weidlich genutzt.
Insgesamt sollen nach offiziellen Zahlen um die 30 000 Menschen auf den Straßen gewesen sein, um ihre sozialen und politischen Anliegen öffentlich sichtbar zu machen. Hatte die Linke im abgelaufenen Jahr alle Mühe, eine geeignete Antwort auf die unerwartet starke Präsenz der Coronaleugner und der mit ihnen verbundenen Naziszene zu finden, die sich Berlin als europaweite Protestzentrale ausgesucht hatten, so schienen diese Irritationen am Samstag der Vergangenheit anzugehören.
Bereits am Freitag konnte das Weddinger 1.Mai-Bündnis 1.500 Menschen für die Forderung „Solidarisch leben und arbeiten ohne Krisenwirtschaft“ mobilisieren. Der Sonntag begann mit einer recht handverlesenen Aktion des Berliner DGB vor dem Brandenburger Tor, Die Teilnehmer*innen der auf 200 Personen begrenzten Aktion konnten per Video ein Livestream des DGB verfolgen.
Das hielt viele gewerkschaftlich aktive Mitglieder nicht davon ab, sich anschließlich an der Demonstration zu beteiligen, die unter dem Motto „Lohnabhängige und Gewerkschaften in die Offensive“stand. Die Demo begann vor dem DGB-Haus am Hackeschen Markt und endete am Urbankrankenhaus in Kreuzberg. Die 1000 Teilnehmer*innen repräsentierten vor allem das antikapitalistische Spektrum der organsierten Linken, das sich in der Tradition der sozialistischen Arbeiterbewegung sieht.
Parallel dazu startete der Fahrradkorso „MyGruni“, der seit Jahren den Kampf und Feiertag der Lohnabhängigen nutzt, um die Büger*innen der Villenviertel daran zu erinnern, dass es viele Krisenopfer gibt, die sich nicht einfach in ihr Schicksal fügen wollen. Diese stets mit Kreativität, Witz und Phantasie durchgeführten „Stadtführungen“ konnten in diesem Jahr sage und schreibe 10 000 Neugierige begrüßen.
Außer den Fahrradkorsi von DGB-Jugend und GEW sah der Nachmittag eine in Kreuzberg organisierte Demo von 2000 Feministinnen, die öffentlich ihre Gegnerschaft zu Kapitalismus und Patriarchat ideenreich Ausdruck verliehen.
Den Abschluss des Tages bildete die traditionelle „revolutionäre 1. Mai-Demonstration“ durch Kreuzberg und Neukölln. Auch an dieser Demo beteiligten sich erneut 10 000 Menschen. Ein Mitglied unserer Gruppe war dabei und formulierte später seine Eindrücke:
„Als ich um kurz vor 18 Uhr am Hermannplatz ankam war ich überwältigt von der großen Menge der Teilnehmer*innen. Dicht gedrängt standen die Leute, dass man es kaum schaffte, über die Kreuzung zu kommen. An der Spitze der Demo die sich schon Richtung Rathaus Neukölln aufgestellt hatte, sah man schon ein große Anzahl von Fahnen mit den kurdischen Farben gelb, grün, rot und auch die Banner türkischer Gruppen. Ich landete dann in einer Gruppe indischer Teilnehmer*innen. Unübersehbar waren die Wiphala Flaggen, die die verschiedene indigene Völker in Bolivien, Ecuador, Peru, aber auch in Teilen von Chile und Argentinien repräsentieren: Es warin ein großer Block mit Latino-Teilnehmer*innen. Aus Chile waren die charakteristischen Klänge der Andenmusik zu hören. Auch unsere Freundinnen vom Koreaverband habe ich getroffen. Es war ein sichtbarer Ausdruck des internationalistischen Charakters der Demo. Natürlich waren die zahlreichen Intitativen der Stadt- und wohnungspolitischen Gruppen sehr präsent. Ein Block aus der Bewegung der Krankenhhausbeschäftigten und die verschiedenen Geflüchteten-Initiativen von Seawatch u.a. waren da. Kurz: es war so gut wie alles aus der linken und linksradikalen Bewegung vertreten. Selten habe ich auf einer 1.Mai Demo eine politisch so breit aufgestellte Beteiligung gesehen. Um so bedauerlicher war, dass es der Polizei gelang, die Demo zu spalten, so dass sie am Ende gar auf gelöst wurde Das erinnert mich etwas an Hamburg G20 ,als die Polizeigewalt alle tollen Ansätze einer breiten kapitalismuskritischen Bewegung in den Schatten stellte, die dann kaum noch registriert wurde.“
Coronaleugner*innen und Nazis hatten sich Lichtenberg als Demozentrum ausgesucht. Doch das dort erschienene Häuflein blieb auf etwa 250 Personen beschränkt. Gestört wurde dieser Versuch, die Tradition des 1. Mai ins Gegenteil zu verkehren, durch Gegenproteste. Auch die Polizei griff diesmal etwa 60 Personen heraus, die sich demonstrativ weigerten, die Vorsichtsmaßnahmen gegen Ansteckungen durch das Corona-Virus einzuhalten.
Die hier präsentierten Bilder haben wir auf der Demo vom Hackeschen Markt aufgenommen. Wir stellen sie gerade deshalb hier in den Fokus, weil diese Demonstration in den Medien am Sonntag durch völlige Nichtbeachtung bestraft wurde und der Presse des heutigen Tages gerade mal ein bis zwei Sätze entlocken konnte.