Organizing unter der Diskokugel

Berliner Clubarnbeitenden-Gewerkschaft gegründet

Die Clubkultur stellt einen wichtigen Faktor der Berliner Wirtschaft dar. Beschäftigte arbeiten teils unter »mittelalterlichen« Bedingungen. Daher haben sie nun die Berliner Clubarbeitenden-Gewerkschaft (BCG) gegründet.

Christian Lelek

Jedes Wochenende bewegen sich Tausende Berliner*innen und Tourist*innen durch die Clubs der Hauptstadt. An den Orten, an denen nachts und zuweilen auch am Tag gefeiert wird, arbeiten auch Menschen – viele von ihnen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Gleichzeitig werden die Clubs in der Regel als privatwirtschaftliche Unternehmen geführt. Wer »nd« liest, weiß, dass in derlei Betrieben in der Theorie und oft auch in der Praxis Interessengegensätze wirken.

Die Berliner Clubarbeitenden-Gewerkschaft (BCG), die sich Ende 2023 gegründet hat, ist nun angetreten, um als »politisches Sprachrohr« für die Clubarbeiter*innen zu fungieren, wie es der Sprecher der BCG im Gespräch mit »nd« ausdrückt. Entstanden sei die Idee aus einer Gruppe ehemaliger Kolleg*innen, die sich an ihrem Arbeitsplatz organisieren wollten, um ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern. Ohne konkrete Namen von Einrichtungen zu nennen, spricht die BCG von Mitgliedern in fast allen Berliner Technoclubs. In einem sei bereits mehr als die Hälfte der Kolleg*innen Mitglied der BCG. Insgesamt liege die Mitgliedschaft »im mittleren zweistelligen Bereich«, sagt der Sprecher. »Dabei kommen unsere Mitglieder aus allen Gewerken: Booker, Runner, Barkeeper, Garderobenkräfte, Awareness und Security.«

»In der Szene herrschen teilweise mittelalterliche Arbeitsverhältnisse.« Die meisten Einkommen seien auf Mindestlohnniveau oder knapp darüber. Der Sprecher erwähnt 13 oder 14 Stunden lange Schichten und Doppelschichten, also eine Unterschreitung der für die Gastronomie schon herabgesetzten notwendigen Ruhezeit von zehn Stunden. In der Tendenz herrsche Saisonarbeit mit einer hohen Fluktuation an den Arbeitsplätzen. Das stelle die Gewerkschaft vor Herausforderungen, da »wir nicht sicher sein können, dass Menschen, die nächstes Jahr in den Clubs arbeiten, noch die sind, die wir dieses Jahr als Mitglieder gewonnen haben«. Die meisten Clubs würden nur Mini- oder Midijobverträge abschließen, weswegen jene, die nur von Clubarbeit leben, normalerweise meh­rere Jobs in verschiedenen Clubs hätten.

Den Dreisatz aus »Bilden, Vereinigen und Grundrechte durchsetzen« habe sich die BCG für das erste Jahr zum Ziel gesetzt – und natürlich Wachstum. Man wolle ansetzen an den Erfahrungen, die es in der Branche schon gibt. Einerseits hätten sie selbst schon mit vielen branchenspezifischen Problemen umzugehen gelernt, woraus sich eine Expertise für Kolleg*innen ergebe. Andererseits wolle man bei Betriebsratsgründungen unterstützen, in Kooperation mit bestehenden Betriebsratsstrukturen – zum Beispiel im Berghain oder Schwuz.

Tarifverträge oder gar Streiks seien aufgrund des Entwicklungsstandes der BCG nicht angedacht, es gehe eher darum, Hilfe zur Selbsthilfe bereitzustellen und Sichtbarkeit zu erzeugen, sodass die Kolleg*innen aller Clubs von der Gewerkschaft erfahren. Die Mitgliedschaft kostet fünf Euro im Monat, dafür biete die BCG Kontakt zu Kolleg*innen in fast alle Clubs. Darüber hinaus sei man erfahren mit den spezifischen Problemen der Branche. »Wir haben Kooperationen mit Anwält*innen aufgebaut.«

Zahlreiche sozial- und kulturwissenschaftliche Studien widmen sich der Berliner Clubkultur, als Wirtschafts- und Arbeitssektor ist die Branche hingegen kaum erfasst. Eine Untersuchung der Berliner Clubcommission von 2019 im Auftrag der Senatsverwaltung für Wirtschaft ergab, dass etwa 9000 Beschäftigte einen Jahresumsatz von 168 Millionen Euro erarbeiten. In ganz Berlin ließen die Clubtouristen etwa 1,5 Milliarden Euro pro Jahr. Das entspricht einem Prozent des Berliner Bruttoninlandsprodukts in diesem Jahr.

»Wir haben viele migrantische Kolleg*innen«, sagt der BCG-Sprecher, »da müssen wir sehen, dass sie nicht aufgrund mangelnder Sprach- und Rechtskennt­nisse mehr unterdrückt werden als ohnehin schon in der Wirtschaft.« Gerade in der Personalpolitik beobachte die BCG, dass rassistische Muster bei Neueinstellung zum Tragen kämen.

Mit den etablierten Gewerkschaften sei man nicht zusammengekommen, weil diese wenig mit der BCG zu tun haben wollten. Die Anforderungen, die sie gestellt hätten, seien sehr, sehr schwierig zu erreichen gewesen.

Henrik R. Grunert, Betriebsratsvorsitzender des Schwuz sagte »nd«, er verfolge die Entwicklungen um die BCG mit großem Interesse. Der Betriebsrat des Schwuz stehe »uneingeschränkt hinter der Gründung einer Gewerkschaft für Personen innerhalb der Club-Szene, die sich speziell für die Rechte und Bedürfnisse unserer nachtarbeitenden Kolleg*innen einsetzt«. Der Betriebsrat habe sich intern dazu verpflichtet, so Grunert, die BCG mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterstützen.

Um die Gewerkschaft und die Interessen der Clubbeschäftigten bekannt zu machen, plant die BCG als nächste öffentliche Etappe am Tag der Arbeit eine Rave-Parade. Die Teilnehmer*innen sollen vorher noch zur klassischen Gewerkschafts­demo gehen können. Man habe jedoch bewusst eine Überschneidung mit der Revolutionären 1.-Mai-Demo gewählt, »weil wir als Syndikalist*innen der Meinung sind, dass Arbeitskampf auch Inhalte braucht und nicht nur eine große Menge von Leuten. Wir wollen auf syndikalistische Arbeit hinweisen und zeigen, dass wir uns mit Themen auseinandersetzen sollten, die uns und unser Umfeld betreffen. Denn das ist der Punkt, wo wir am meisten verändern können.«

Erstveröffentlicht im nd v. 28.2. 2024
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1180351.arbeitsbedingungen-berliner-clubgewerkschaft-organizing-unter-der-diskokugel.html?sstr=Diskokugel

Wir danken für das Publikationsrecht.

Antiamerikanismus allein macht noch keine Friedenspartei

Der deutschnationale Militarismus der AFD unter falscher Flagge

von: Merle Weber (IMI) | Veröffentlicht am: 7. Februar 2024
https://www.imi-online.de/2024/02/07/antiamerikanismus-allein-macht-noch-keine-friedenspartei/

Es läuft gut für die AfD. Seit bald zwei Jahren geht es in den Wahlumfragen auf Bundesebene steil bergauf: Von rund zehn Prozent im Frühjahr 2022 zu über 20 Prozent heute.1 Inzwischen ist die für Faschisten offene Partei zweitstärkste Deutschlands. Der Anstieg findet genau in dem Zeitraum statt, in dem die AfD anfing, unter der Friedensfahne zu marschieren. Im Februar 2023 hatte die AfD mit einem Antrag im deutschen Bundestag ihre sogenannte „Friedensinitiative“ gestartet. Sie pocht darin auf die „Verantwortung Deutschlands für den Frieden in Europa“ und fordert, Deutschland solle in einer Vermittlerrolle für eine Verhandlungslösung des Ukraine-Krieges eintreten. Im April letzten Jahres setzte sie die im Parlament begonnene Kampagne auf der Straße fort. In mehreren Städten demonstrierte die AfD unter dem Motto „Dem Frieden eine Chance geben“ nach eigenen Angaben „für den Frieden in der Ukraine“2. Als „einzige politische Kraft“3 die sich gegen die „Kriegstreiberei“4 der Bundesregierung stelle, will die AfD „zwei Dritteln der Deutschen eine Stimme“ geben5. Die Strategie scheint Früchte zu tragen.

Der Wolf im Schafspelz

Die AfD benennt die regierenden Parteien zurecht als Kriegstreiber. Das hält die angebliche Alternative jedoch nicht davon ab, deren Politik der Kriegsvorbereitungen mitzutragen. Die Hochrüstungsprojekte der Regierung begrüßt die AfD in der Regel. Dass die Ampel für den Wehretat 1,7 Milliarden mehr eingeplant hat, war für einen Redner der angeblichen Friedenspartei in den Debatten um den Haushalt 2024 „erstmal eine gute Nachricht“. Auch dass über das sogenannte Sondervermögen weiterhin Milliardenbeträge in die Aufrüstung fließen, sei „grundsätzlich auch erstmal gut“ – „endlich passiert was“. Aber eben nicht genug. Jedenfalls nicht in den Augen der AfD. Die Regierung habe „immer noch viel zu wenig Munition auf dem Einkaufszettel“. Auch hier fordert die AfD „deutlich mehr“. Auf die nächste 25-Millionen-Euro-Vorlage, also das nächste rüstungspolitische Großprojekt, „freue“ er sich „jetzt schon“, lässt der AfD-Redner den Verteidigungsminister wissen. Und versichert dem Verteidigungsminister der Kriegstreiber, die AfD werde an der Hochrüstung Deutschlands „weiterhin konstruktiv mitwirken“.6 Auch die Grundsatzpapiere der AfD schlagen in dieselbe Kerbe: Es sei „unstrittig, dass die Bundeswehr derzeit erhebliche Mängel“ aufweise. Die Bundeswehr sei „umfassend zu ertüchtigen“.7 Die deutsche Armee müsse befähigt werden, „durchhaltefähige sowie personell und materiell voll einsatzbereite […] Großverbände aller Teilstreitkräfte und Organisationsbereiche bereitzuhalten“. Die AfD träumt von einer „starken Bundeswehr“ – „anerkannt, geachtet“ und „gefürchtet“. Das koste „natürlich Geld, viel Geld“. Aber „nur so“ lasse sich „die sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit Deutschlands“ steigern.8 Für „deutsche Männer“ fordert die AfD die Wiedereinführung der „allgemeinen Wehrpflicht“, 9 und eine „kriegsnahe Ausbildung“ die sich den „Bedingungen auf dem Gefechtsfeld so weit an[nähert], wie es die Regeln der Menschenführung“ in einer Demokratie „zulassen“.10
Und nicht nur die Bundeswehr will die AfD stärken. Neben einer schlagkräftigen Armee sei auch eine starke nationale Rüstungsindustrie „unverzichtbar“ für die „Souveränität Deutschlands“.11 Die für den Ausbau der nationalen militärischen Fähigkeiten „notwendigen Großaufträge“ möchte die AfD an die „deutsche Industrie“ vergeben wissen12. Für eine effizientere und schnellere Aufrüstung wünscht sich die AfD, wie die amtierenden Parteien auch, eine Beschleunigung der „militärischen Beschaffungsprozesse“. Und auch „jegliches Bestreben“ die NATO und die Bundeswehr von Interventionskriegen auf die sogenannte Landes- und Bündnisverteidigung auszurichten, unterstützt die AfD nach eigenen Angaben.13 Unter dem Schlagwort der Rückbesinnung auf die sogenannte Landes- und Bündnisverteidigung vollziehen die NATO und auch Berlin seit 2014 die Vorbereitungen auf einen Krieg mit Russland und zunehmend auch China. Auch diese Politik trägt die angebliche Friedenspartei AfD mit. Denn die Kriegsvorbereitungsmaßnahmen der NATO „korrespondieren“ nach Einschätzung der AfD mit ihrem Ziel, Deutschlands nationale militärische Schlagkraft auszubauen14.

Mittelmacht zwischen den Großmächten

Wieso schwenkt eine deutschnationale Aufrüstungspartei-Partei die Friedensfahne? Um das zu verstehen, braucht es einen Blick über den deutschen Tellerrand hinaus. Denn entscheidend für die Positionierung der AfD bezüglich des Ukraine-Krieges ist nicht die Friedens- sondern die Bündnisfrage. Die Verschiebungen im globalen Kräfteverhältnis stellen den deutschen Staat vor strategische Grundsatzentscheidungen. Durch die globalen Machtverschiebungen steht die US-dominierte internationale Ordnung der letzten Jahrzehnte zunehmend infrage. Als rohstoffarme Mittelmacht mit exportzentrierter Wirtschaft ist Deutschland in besonderem Maße abhängig von eben dieser Ordnung. Deutschland verfügt auf seinem Territorium weder über die Rohstoffe noch über den Absatzmarkt, die notwendig sind, um seine Volkswirtschaft in ihrer gegenwärtigen Form zu erhalten. Gleichzeitig ist Berlin auf sich allein gestellt auf internationaler Ebene weder politisch noch militärisch in der Lage, seine Interessen eigenständig gegen Widerstände durchzusetzen. Deutschland droht im Tauziehen der Großmächte um die Weltordnung seine gewohnte Position unter dem Schirm des US-Imperialismus zu verlieren. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Bündnisfrage für den deutschen Staat zurzeit mit großer Dringlichkeit. Soll Deutschland trotz aller Spannungen mit Washington weiterhin auf eine Juniorpartnerschaft mit den USA setzen, wie es die Transatlantiker fordern? Oder doch lieber danach streben, die militärische Abhängigkeit von den USA abzubauen und stattdessen Berlins Weltgeltung durch eine Führungsposition in einer geeinten und militärisch gestärkten EU verwirklichen, so wie es die Strategischen Autonomisten gerne hätten? Oder soll Deutschland den Fortbestand seiner Exportwirtschaft durch zwischenstaatliche Zusammenarbeit insbesondere mit dem ressourcenreichen Nachbarn Russland sicherstellen, wie es unter anderem die AfD fordert?


Souveränität über alles

Vor allem „Deutschland“ drohe zwischen den „Großmächten zerrieben zu werden“, warnt die Fraktionsvorsitzende der AfD. Berlins Bedeutung in „internationalen Gesprächen“ auch gegenüber den „Großmächten“ habe in den letzten Jahren „deutlich“ abgenommen“. Der Bundesregierung sei es „bisher nicht“ gelungen eine angemessene Reaktion auf die Verschiebungen in den internationalen Kräfteverhältnissen und den damit einhergehenden Politikwechsel der USA zu finden.15 Bei der „Bewältigung“ der „großen globalen Herausforderungen“ verschreibt sich die AfD in einem Grundsatzpapier einer „nationalen Außenpolitik“, die sich „stets“ des „Nutzens für Deutschland vergewissert“. Die Grundlage der „Bestimmung und Wahrnehmung deutscher Interessen“ sei dabei die „Souveränität Deutschlands“. Dazu gehöre, dass die „Freiheit des deutsche Volkes nicht durch auswärtige Mächte“ beeinflusst werde. „Ein souveränes Deutschland“ ist oberstes Ziel der AfD. Dass Deutschland sich „für ein friedliches Miteinander der Völker“ einsetzt, schreibt die AfD hingegen ausdrücklich an letzter Stelle ihrer außenpolitischen Prioritätenliste. Die Völkerverständigung kommt für die AfD nicht nur nach der deutschen Souveränität, sondern auch nach einer Politik, die Deutschlands „Wohlstand mehrt“. Der „Zugang zu allen Rohstoff- und Absatzmärkten“ begreift die AfD als „für unser Land überlebenswichtig“.16 Auch die AfD kommt dabei zu der Einschätzung, dass Berlin nicht in der Lage ist, seine Interessen „alleine durchzusetzen“ – jedenfalls nicht „immer“. Deutschland falle als „Mittelmacht militärisch nicht ins Gewicht“ und solle seine „Rolle unter den Nationen der Welt“ deswegen lieber als „Vermittler, als ehrlicher Makler“ verstehen17 – wohlgemerkt während es gleichzeitig seine Armee und nationale Rüstungsindustrie stärkt, um sein militärisches Gewicht zu erhöhen. Solange die militärische Eigenständigkeit noch nicht erreicht ist, will die AfD den deutschen Wohlstand durch „zielorientierte“ Kooperationen mit anderen Staaten durchsetzen18. In diesem Zusammenhang ist der „Ausgleich mit Russland“ für die AfD von „größter Wichtigkeit“.19 Denn „pragmatisch betrachtet“ müsse anerkannt werden, dass Russland „über die in Deutschland dringend benötigten Rohstoffe in mehr als ausreichenden Mengen verfügt“. Diese „Situation“ hofft die AfD, „zu beiderseitigem Vorteil zu nutzen“.20
Die deutschen Interessen durch eine Juniorpartnerschaft zu den USA oder eine gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik der EU zu verfolgen, lehnt die AfD ab. Denn die Ansätze der Transatlantiker und der Strategischen Autonomisten stehen beide im Widerspruch zur obersten Priorität der AfD: die nationale Souveränität Deutschlands. Die Transatlantiker sind bereit, Deutschlands militärische und damit machtpolitische Abhängigkeit von den USA zu akzeptieren – undenkbar für die AfD. Die Strategischen Autonomisten wollen zwar im Verhältnis zu den USA (wie die AfD) die deutsche „Souveränität“ erlangen, allerdings indem sie die Abhängigkeiten vom überlegenen Washington auf die von Berlin dominierte EU verlagern. Immerhin ein Fortschritt in den Augen der Autonomisten – für die AfD ein Schritt vom Regen in die Traufe. Auch die Beteiligung der Bundeswehr an „katastrophalen“ Kriegen wie in Afghanistan oder Mali lehnt die AfD ab – beides Kriege, die Berlin ohne seine Partner in Washington bzw. Paris selbstständig nicht zu führen in der Lage gewesen wäre. Wozu auch, wenn die Rohstoffe der deutschen Industrie doch in Russland liegen?

Hauptfeind USA

Aus diesen außenpolitischen Grundsatzlinien ergibt sich die Position der AfD in der Ukraine-Frage. Für sie ist der Krieg in der Ukraine ein Krieg der USA; ein Krieg, in den die USA Deutschland gegen sein nationales Interesse hineingezogen haben. Also ein Krieg im Gegensatz zur Souveränität und den nationalen Interessen Deutschlands. Fragt man den Fraktionsvorsitzenden Chrupalla, dann sind es „die Amerikaner“, die vom Krieg in der Ukraine profitieren21. „Völlig ohne Not“ habe Deutschland seine Rolle als neutraler Mittler aufgegeben, und „dem unbeteiligten deutschen Volk“ die „horrenden Kosten“ der Kriegstreiberei „aufgezwungen“, heißt es in der bereits erwähnten sogenannten Friedensinitiative. Weder die Regierung unter Merkel noch unter der Ampel habe in der Ukraine-Frage Deutschlands nationale Interessen vertreten. Denn der „große Verlierer“ im Ukraine-Krieg wird nicht etwa Kiew oder Moskau sein, sondern Berlin, kann Fraktionsvorsitzende Alice Weidel „prophezeien“. Der Krieg in der Ukraine ist für sie vor allem ein „Wirtschaftskrieg gegen Deutschland“ – geführt von den USA. Es seien „Prozesse angestoßen worden“ die Deutschland nicht „beeinflussen“ können wird. „Darum“(!) trete die AfD für Friedensverhandlungen ein.22 Die AfD lehnt Deutschlands Eingreifen in den Ukraine-Krieg ab: nicht, weil Krieg schrecklich ist, sondern weil es in ihren Augen „nicht unser Krieg“ sei.23 Mit dem Ukraine-Krieg droht Deutschland den Zugriff auf die russischen Ressourcen nachhaltig einzubüßen. Gleichzeitig stärkt der Ukraine-Krieg die USA in ihrer Position als atomare Schutzmacht Europas. Das macht den Ukraine-Krieg für die AfD doppelt unerträglich. Sie schielt auf die russischen Ressourcen und will unbedingt raus aus der sicherheitspolitischen Abhängigkeit von den USA. Lieber mit den russischen Ressourcen und neuer militärischer Stärke gegen die USA, als mit den USA gegen Russland – die AfD betreibt in der Ukraine-Frage keine Friedenspolitik, sondern anti-amerikanische Bündnispolitik.

Auf dem deutschen Auge blind

Dass Berlin sich seit der Kapitulation 1945 in einer bis heute andauernden militärischen und politischen Abhängigkeit von Washington befindet, soll hier gar nicht in Abrede gestellt werden. Es wäre allerdings ein Trugschluss, deswegen anzunehmen, dass der deutsche Staat keine nationale Agenda verfolgt. Und ja: es stimmt, dass ein deutsch-russisches Bündnis US-Geostrategen ein Dorn im Auge wäre. Das heißt aber noch lange nicht, dass Berlin die Partnerschaft zu Moskau nicht aus eigenem Kalkül auf Eis gelegt hat. Deutschland opferte seine partnerschaftlichen Beziehungen zu Russland nicht aus Vasallentum gegenüber den USA, sondern wegen nationaler Interessen: Die Erweiterung der EU und der NATO nach Osten diente auch der Ausweitung der deutschen Einflusssphäre.

Dass die AfD ausgerechnet in Osteuropa kein eigenständiges machtpolitisches Interesse Deutschlands erkennen kann, ist im besten Fall geschichtsvergessen. Russlands Einfluss in Osteuropa zurückzudrängen und die Region deutschen Interessen unterzuordnen, ist seit Jahrhunderten eine Grundsäule deutscher Machtpolitik. Es ist nicht das erste Mal, dass die herrschende Klasse in Deutschland das Risiko eines Weltkrieges in Kauf nimmt, um ihren Ostimperialismus durchzusetzen. Schon während des Ersten Weltkrieges zielten die führenden Köpfe in Militär, Staat und Wirtschaft auf eine Eroberung von Rohstoffen, Siedlungsland, Arbeitskraft und Handelsrouten in Osteuropa. Von Finnland über die Baltischen Staaten, Polen und die Ukraine bis nach Rumänien wollten die Deutschen herrschen – das meiste davon damals nicht nur Einflusszone Moskaus, sondern russisches Staatsgebiet. Selbst das durch die Abspaltung der „Randstaaten“ geschwächte Restrussland hoffte der eine oder andere deutsche Industrielle seinem Profit unterzuordnen. Der Glaube an einen Kampf der überlegenen germanischen Kultur gegen das Slawentum war weit verbreitet. „Rassenhass“ sei der Grund der deutschen „Gegnerschaft zu Russland“, so beispielsweise Paul von Hindenburg, Teil der Obersten Heeresleitung und späterer Reichspräsident.24 Während des Zweiten Weltkrieges verfolgten die Deutschen den sogenannten „Generalplan Ost“, ein siedlerkolonialistisches Projekt in Osteuropa. 31 Millionen Menschen wollten sie vertreiben um den Deutschen „Lebensraum im Osten“ zu erobern.25 Heinrich Himmler, führende Figur des deutschen Faschismus, plante „rassisch Wertvolle aus dem Brei [der Bevölkerung Osteuropas] herauszufischen“ um sie zu germanisieren. Der Rest der Osteuropäer habe den Deutschen als „führerloses Arbeitsvolk zur Verfügung [zu] stehen“ und „jährlich Wanderarbeiter [zu] liefern“.26

Mit der in den Neunzigern begonnenen EU-Osterweiterung hat Deutschland eines seiner epochen-überdauernden machtpolitischen Ziele erreicht: Osteuropa aus dem russischen Einfluss herausbrechen und in den deutschen eingliedern. Mit einem Angriffskrieg gegen Jugoslawien, EU-Beitritten und Assoziierungsabkommen und einem Regime Change in der Ukraine hat Berlin den post-sowjetischen Raum zu seinem „Hinterland“ gemacht27. Dass jetzt deutsche Soldaten von Finnland über die Baltischen Staaten, Polen und die Ukraine bis nach Rumänien aufmarschieren, dass die Bundeswehr einen Stützpunkt in Litauen aufbaut, dass Berlin seine Armee und Rüstungsindustrie ausbaut und dabei auf einen Krieg gegen Russland ausrichtet – das alles ist keine Hörigkeit gegenüber den USA. Das ist deutschnationale Machtpolitik. Berlin ist spätestens seit 2014 dabei, die Gebietsgewinne der EU-Osterweiterung militärisch abzusichern. Deutschland führt in der Ukraine einen Stellvertreterkrieg um sein Hinterland. Wenn die AfD dafür allein die USA verantwortlich macht, verschleiert sie Deutschlands nationale machtpolitische Interessen in Osteuropa. Gleichzeitig trägt sie die Hochrüstung Deutschlands und die Kriegsvorbereitungen von Berlin und NATO mit. Mit der „Verantwortung Deutschlands für den Frieden in Europa“ hat das alles nichts zu tun.

Anmerkungen:

1 Sonntagsfrage Bundestagswahl 04.01.2024, https://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/sonntagsfrage/

2 Pressemitteilung der AFD vom 04.04.2023, „AfD demonstriert für den Frieden“

3 Ebd.

4 Friedensinitiative auf der Webseite der AFD, https://www.afd.de/friedensinitiative/

5 Pressemitteilung der AFD vom 04.04.2023, „AfD demonstriert für den Frieden“

6 Plenarprotokoll 20/118 des Deutschen Bundestages

7 Realpolitik im deutschen Interesse. Strategiepapier der AFD-Fraktion im Deutschen Bundestag zur Außen- und Sicherheitspolitik

8 Konzeption zur Ausbildung einer starken Bundeswehr, Arbeitskreis Verteidigung der AFD

9 Realpolitik im deutschen Interesse. Strategiepapier der AFD-Fraktion im Deutschen Bundestag zur Außen- und Sicherheitspolitik

10 Konzeption zur Ausbildung einer starken Bundeswehr, Arbeitskreis Verteidigung der AFD

11 Realpolitik im deutschen Interesse. Strategiepapier der AFD-Fraktion im Deutschen Bundestag zur Außen- und Sicherheitspolitik

12 Plenarprotokoll 20/118 des Deutschen Bundestages

13 Realpolitik im deutschen Interesse. Strategiepapier der AFD-Fraktion im Deutschen Bundestag zur Außen- und Sicherheitspolitik

14 Konzeption zur Ausbildung einer starken Bundeswehr, Arbeitskreis Verteidigung der AFD

15 Alice Weidel im Gespräch mit Volker Finthammer, Deutschland Funk, 16.10.2022

16 Realpolitik im deutschen Interesse. Strategiepapier der AFD-Fraktion im Deutschen Bundestag zur Außen- und Sicherheitspolitik

17 Realpolitik im deutschen Interesse. Strategiepapier der AFD-Fraktion im Deutschen Bundestag zur Außen- und Sicherheitspolitik

18 Tino Chrupalla bei Markus Lanz am 29.11.2022 https://www.youtube.com/watch?v=FTzxZG6Rwmc

19 Alice Weidel im Gespräch mit Volker Finthammer, Deutschland Funk, 16.10.2022

20 Realpolitik im deutschen Interesse. Strategiepapier der AFD-Fraktion im Deutschen Bundestag zur Außen- und Sicherheitspolitik

21 Tino Chrupalla bei Markus Lanz am 29.11.2022 https://www.youtube.com/watch?v=FTzxZG6Rwmc

22 Alice Weidel im Gespräch mit Volker Finthammer, Deutschland Funk, 16.10.2022

23 Pressemitteilung der AFD vom 04.04.2023, „AfD demonstriert für den Frieden“

24 Griff nach der Weltmacht, Fischer, 1961

25 Europastrategien des deutschen Kapitals, Opitz, 1994, S. 868-898

26 Europastrategien des deutschen Kapitals, Opitz, 1994, S. 653

27 Konrad Popławski: The Role of Central Europe in the German Economy. www.osw.waw.pl. 

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Wir danken für das Publikationsrecht.

Viele kleine Elsässers

Gerhard Hanloser: Die andere Querfront. Skizzen des antideutschen Betrugs.

Von Lou Marin

Bild: Jürgen Elsässer als Redner bei einer LEGIDA-Demonstration am 26. Oktober 2015. Foto: Alexander Böhm (CC BY-SA 4.0 cropped)

Wie ich selbst die Anfänge der Antideutschen erlebte: Die Friedens- und Antikriegsbewegung schien Anfang 1991 in einer Krise, als die USA – übrigens mit UN-Resolution im Rücken – zur Bombardierung der Truppen S. Husseins und zur Invasion Kuwaits, das Hussein besetzt hatte, übergingen.

Mitte Januar 1991, zwei Tage vor Ablauf des UN-Ultimatums, organisierten wir, die Graswurzelwerkstatt, gewaltfreie Aktionsgruppen und Antimilitarist*innen sowie Startbahngegner*innen in und um Frankfurt die allererste Kundgebung und Blockade gegen den kommenden Krieg direkt vor der Frankfurter Airbase, der US-Luftwaffenbasis, von der aus auch Bomber in diesen Krieg flogen. Es kamen 10000 Leute – der Auftakt zur massenhaften Anti-Golfkriegsbewegung.

Auf die Kundgebung hatten wir u.a. mit Christian Sterzing einen Kriegsgegner des DIAK (Deutsch-Israelischer Arbeitskreis) geladen, der sowohl gegen den US-Krieg wie gegen die Bedrohung Israels durch von deutschen Firmen glieferte Giftgasanlagen an Hussein Stellung bezog. Die Ansagerin zwischen den Redebeiträgen, ein Mitglied der Gewaltfreien Aktionsgruppe Frankfurt sowie Autorin des Schwarzen Faden, wies mindestens fünfmal, bei ihren Ansagen zwischen allen Redner*innen, auf die Bedrohung Israels durch Giftgas und dessen historische Bedeutung hin. Doch was schrieb Eike Geisel seinerzeit in „konkret“ zur Anti-Golfkriegsbewegung? „Bei den ersten Demonstrationen gegen den Golfkrieg kam das Wort Gas nicht vor und erst recht nicht, wen es bedroht.“

Und sicher erinnern sich noch viele von uns an den damaligen Slogan von Hermann L. Gremliza – soeben verstorben – in der legendären, kriegstreiberischen „konkret“-Ausgabe 3/91, wonach beim US-Bombardement „mit falschen Begründungen das Richtige getan zu werden scheint“ (zit. nach Hanloser, S. 18). Primat der Ideologie über die Wirklichkeit Mit dieser beispiellosen theoretischen wie praktischen Bankrotterklärung der marxistischen Dialektik war meine Position zu den militaristischen und kriegstreiberischen (Hanloser benutzt in seinem Buch leider durchgängig den schon damals verharmlosenden Begriff „Bellizisten“) Antideutschen für immer geklärt. Leute wie Geisel, Gremliza oder auch Pohrt informierten sich über die herrschenden Medien; sie sassen im Fernsehsessel und guckten ARD oder ZDF, die unsere Inhalte auf der Airbase-Kundgebung natürlich nicht interessierte. Auf die Idee, bei uns selbst nachzufragen, sich seriös vor Ort zu informieren, kamen sie nicht. Ihre Demagogie spricht Bände über ihr Primat der Ideologie über die Wirklichkeit.

Das ist nur eine jener unsäglichen Debatten mit und von Antideutschen, die uns das kurzweilig zu lesende Buch von Hanloser in Erinnerung ruft. Richtig schreibt er von emanzipatorischen Anfängen, direkt nach der Vereinigung und Kohls weltmachtpolitischer Anerkennungspolitik neuer Nationalstaaten im Vorfeld der Jugoslawienkriege. Doch damals nannte sich diese Strömung noch „antinationale Linke“. Mit ihr teilten wir die Hoffnung, dass mit deren Kritik an den nationalen Befreiungsbewegungen auch der dort vorzufindende Militarismus stärker in der Linken kritisiert werde – also nicht nur aus unserem Spektrum des gewaltfreien Anarchismus. Doch weit gefehlt!

Der Golfkrieg 1991 war der Wendepunkt zum Antideutschtum; es folgten von ihren bekanntesten Protagonist*innen aberwitzige Kriegslegitimationen aber auch jedes kommenden Krieges, sei es für eine militärische Seite des Jugoslawienkrieges (oft genug die serbischen Milizen), sei es der Afghanistankrieg 2001 (pro USA), sei es die komplette, ungeheuerliche Zerstörung des Irak ab 2003 (pro USA), die bis heute anhält und Millionen Tote gekostet hat (schon der Golfkrieg 1991 forderte 450000 Tote). Innenpolitisch hat das Antideutschtum die gesamte noch übrig gebliebene Linke mittendurch gespalten, die Antifa-Szene zweigeteilt, die Autonomen zweigeteilt – immer in antiimperialistische oder antideutsche Fraktionen.

Uns als Graswurzelrevolutionär*innen und gewaltfreie Anarchist*innen hat das allerdings keineswegs gespalten: Wir blieben jenseits dieser aufgebauschten Dichotomie; wir hatten dritte, vierte, fünfte Positionen; der gewaltfreie Anarchismus verlief jenseits dieser Dichotomie. Wir hatten noch 1989 den autonomen Slogan auf den Häusern der Hafenstrasse „Boykottiert Israel! Waren, Kibbuzim und Strände!“ kritisiert und uns trotzdem 2008 mit dem Buch „Barrieren durchbrechen!“ (hg. von Sebastian Kalicha) mit israelischen Kriegsdienstverweigerer*innen und palästinensischen Gewaltfreien, die gegen den Barrierenbau kämpften, solidarisiert. Schon die Dichotomie der damaligen Diskussion Antiimps gegen Antideutsche – bist du nicht für mich, so gehörst du der anderen Fraktion an – war grundfalsch und strukturell autoritär. Erschreckende Karrieren nach rechts – viele kleine Elsässers Gerhard Hanloser, bereits Autor eines ähnlich antideutsch-kritischen Buches („Sie warn die Antideutschesten der deutschen Linken“, 2004), bricht in seinem Buch nicht wirklich aus dieser Dichotomie aus, stellt sie aber durch seinen eigenen politischen Weg infrage, der mit autonomem Antiimiperialismus begann, durch die Krise der Antiimps aber auch selbst erfrischend unabhängige, zuweilen libertäre Wege einschlug. Gemäss dem Beispiel des Werdegangs des Allerschlimmsten der Antideutschen, dem ehemaligen KB-Mitglied, konkret-Redakteur und heutigem Vollnazi Jürgen Elsässer spürt Hanloser sehr informiert und im Urteil meist überzeugend den Karrieren ehemals prägender Antideutscher nach, seien es Leute wie Joachim Bruhn vom ISF Freiburg, sei es die antideutsche Wendung der Dritt-Welt-Zeitschrift „iz3w“, seien es Leute wie Pohrt, Mathias Küntzel, Henryk M. Broder, Ivo Bozic, Justus Wertmüller oder die Zeitschriften „Jungle World“ oder „Bahamas“ – „konkret“ sowieso.

Nicht in jedem Einzelfall, aber doch erschreckend oft stellt Hanloser eine späte Wendung von deren Biografien in eine „andere Querfront“ fest, ins bewusste oder unbewusste Bündnis mit scharf-rechts. Bei manchen wie Elsässer und „Bahamas“ geht das direkt durch ins Neonazistische und Identitäre, manche wie Küntzel oder leider auch Deniz Yücel machten grade noch bei staatsapologetischen Herrschaftsmedien wie Springers „Welt“ Halt in ihrer Karriere.

Aus den libertären Zeitschriften berücksichtigt Hanloser für seine Analysen den „Schwarzen Faden“ und „Wildcat“ – leider ignoriert er gänzlich die Positionierungen der „Graswurzelrevolution“, wie das früher tpyischerweise Antiimps machten, die uns für irrelevant hielten. So entgehen leider auch Hanlosers guten Analysen wichtige Begründungen zum Thema, die von unserer Seite kamen und in seinem Buch nicht besprochen werden: z.B. die Position, dass wir innerhalb der BRD die BDS-Boykottkampagnen aufgrund der besonderen Rolle des Boykotts bei der Judenvernichtung in der deutschen Geschichte tatsächlich ablehnen müssen, uns aber international in Zusammenhängen wie der War Resisters‘ International bewegen, deren gewaltfreie BDS-Position wir genauso respektieren wie Hanloser die von Roger Waters explizit gewaltlose Boykott-Begründung (vgl. S. 266f.).

Auch die Solidarität nur mit explizit gewaltfrei kämpfenden Palästinenser*innen sorgt eben qua Kampfmittel dafür, dass israelische Bürger*innen nicht befürchten müssen, wortwörtlich „ins Meer geworfen“ zu werden, weil das gewaltfrei eben nicht, sondern nur bewaffnet möglich wäre. Dabei haben wir bei dieser Solidarität die Palästinenser*innen nicht etwa von Deutschland aus „auf Gewaltfreiheit verpflichtet“ (Geisel, zit. S. 282), sondern ein Teil ihrer selbst wählte den explizit gewaltfreien Kampf, wie das in anderen Weltregionen auch der Fall ist, im Moment etwa in Algerien, Armenien oder im Sudan – doch das wollen autoritäre Linke generell nicht wahrnehmen, dass es im Trikont massenhaft selbstbestimmte gewaltfreie Kämpfe gibt.

Die Apotheose der antideutschen Phobie vor Gewaltfreiheit und Antimilitarismus ist die absurde Wendung, das sei von deutschen Gewaltfreien den Trikont-Kämpfer*innen vorgeschrieben worden (s. oben Eike Geisel). Wie dies, so ist vieles, das die Antideutschen in 30 Jahren erfolgreicher Spaltung der deutschen Linken vollbracht haben, nur peinlich. Mit ihren theoretischen und praktischen Bankrotterklärungen haben Antideutsche zur politischen Bedeutungslosigkeit dieser Linken in der Gegenwart entscheidend beigetragen.

Mitte Januar 1991, zwei Tage vor Ablauf des UN-Ultimatums, organisierten wir, die Graswurzelwerkstatt, gewaltfreie Aktionsgruppen und Antimilitaristinnen sowie Startbahngegnerinnen in und um Frankfurt die allererste Kundgebung und Blockade gegen den kommenden Krieg direkt vor der Frankfurter Airbase, der US-Luftwaffenbasis, von der aus auch Bomber in diesen Krieg flogen. Es kamen 10000 Leute – der Auftakt zur massenhaften Anti-Golfkriegsbewegung.

Auf die Kundgebung hatten wir u.a. mit Christian Sterzing einen Kriegsgegner des DIAK (Deutsch-Israelischer Arbeitskreis) geladen, der sowohl gegen den US-Krieg wie gegen die Bedrohung Israels durch von deutschen Firmen glieferte Giftgasanlagen an Hussein Stellung bezog. Die Ansagerin zwischen den Redebeiträgen, ein Mitglied der Gewaltfreien Aktionsgruppe Frankfurt sowie Autorin des Schwarzen Faden, wies mindestens fünfmal, bei ihren Ansagen zwischen allen Redner*innen, auf die Bedrohung Israels durch Giftgas und dessen historische Bedeutung hin. Doch was schrieb Eike Geisel seinerzeit in „konkret“ zur Anti-Golfkriegsbewegung? „Bei den ersten Demonstrationen gegen den Golfkrieg kam das Wort Gas nicht vor und erst recht nicht, wen es bedroht.“

Und sicher erinnern sich noch viele von uns an den damaligen Slogan von Hermann L. Gremliza – soeben verstorben – in der legendären, kriegstreiberischen „konkret“-Ausgabe 3/91, wonach beim US-Bombardement „mit falschen Begründungen das Richtige getan zu werden scheint“ (zit. nach Hanloser, S. 18). Primat der Ideologie über die Wirklichkeit Mit dieser beispiellosen theoretischen wie praktischen Bankrotterklärung der marxistischen Dialektik war meine Position zu den militaristischen und kriegstreiberischen (Hanloser benutzt in seinem Buch leider durchgängig den schon damals verharmlosenden Begriff „Bellizisten“) Antideutschen für immer geklärt. Leute wie Geisel, Gremliza oder auch Pohrt informierten sich über die herrschenden Medien; sie sassen im Fernsehsessel und guckten ARD oder ZDF, die unsere Inhalte auf der Airbase-Kundgebung natürlich nicht interessierte. Auf die Idee, bei uns selbst nachzufragen, sich seriös vor Ort zu informieren, kamen sie nicht. Ihre Demagogie spricht Bände über ihr Primat der Ideologie über die Wirklichkeit.

Das ist nur eine jener unsäglichen Debatten mit und von Antideutschen, die uns das kurzweilig zu lesende Buch von Hanloser in Erinnerung ruft. Richtig schreibt er von emanzipatorischen Anfängen, direkt nach der Vereinigung und Kohls weltmachtpolitischer Anerkennungspolitik neuer Nationalstaaten im Vorfeld der Jugoslawienkriege. Doch damals nannte sich diese Strömung noch „antinationale Linke“. Mit ihr teilten wir die Hoffnung, dass mit deren Kritik an den nationalen Befreiungsbewegungen auch der dort vorzufindende Militarismus stärker in der Linken kritisiert werde – also nicht nur aus unserem Spektrum des gewaltfreien Anarchismus. Doch weit gefehlt!

Der Golfkrieg 1991 war der Wendepunkt zum Antideutschtum; es folgten von ihren bekanntesten Protagonist*innen aberwitzige Kriegslegitimationen aber auch jedes kommenden Krieges, sei es für eine militärische Seite des Jugoslawienkrieges (oft genug die serbischen Milizen), sei es der Afghanistankrieg 2001 (pro USA), sei es die komplette, ungeheuerliche Zerstörung des Irak ab 2003 (pro USA), die bis heute anhält und Millionen Tote gekostet hat (schon der Golfkrieg 1991 forderte 450000 Tote). Innenpolitisch hat das Antideutschtum die gesamte noch übrig gebliebene Linke mittendurch gespalten, die Antifa-Szene zweigeteilt, die Autonomen zweigeteilt – immer in antiimperialistische oder antideutsche Fraktionen.

Uns als Graswurzelrevolutionärinnen und gewaltfreie Anarchistinnen hat das allerdings keineswegs gespalten: Wir blieben jenseits dieser aufgebauschten Dichotomie; wir hatten dritte, vierte, fünfte Positionen; der gewaltfreie Anarchismus verlief jenseits dieser Dichotomie. Wir hatten noch 1989 den autonomen Slogan auf den Häusern der Hafenstrasse „Boykottiert Israel! Waren, Kibbuzim und Strände!“ kritisiert und uns trotzdem 2008 mit dem Buch „Barrieren durchbrechen!“ (hg. von Sebastian Kalicha) mit israelischen Kriegsdienstverweigerer*innen und palästinensischen Gewaltfreien, die gegen den Barrierenbau kämpften, solidarisiert. Schon die Dichotomie der damaligen Diskussion Antiimps gegen Antideutsche – bist du nicht für mich, so gehörst du der anderen Fraktion an – war grundfalsch und strukturell autoritär. Erschreckende Karrieren nach rechts – viele kleine Elsässers Gerhard Hanloser, bereits Autor eines ähnlich antideutsch-kritischen Buches („Sie warn die Antideutschesten der deutschen Linken“, 2004), bricht in seinem Buch nicht wirklich aus dieser Dichotomie aus, stellt sie aber durch seinen eigenen politischen Weg infrage, der mit autonomem Antiimiperialismus begann, durch die Krise der Antiimps aber auch selbst erfrischend unabhängige, zuweilen libertäre Wege einschlug. Gemäss dem Beispiel des Werdegangs des Allerschlimmsten der Antideutschen, dem ehemaligen KB-Mitglied, konkret-Redakteur und heutigem Vollnazi Jürgen Elsässer spürt Hanloser sehr informiert und im Urteil meist überzeugend den Karrieren ehemals prägender Antideutscher nach, seien es Leute wie Joachim Bruhn vom ISF Freiburg, sei es die antideutsche Wendung der Dritt-Welt-Zeitschrift „iz3w“, seien es Leute wie Pohrt, Mathias Küntzel, Henryk M. Broder, Ivo Bozic, Justus Wertmüller oder die Zeitschriften „Jungle World“ oder „Bahamas“ – „konkret“ sowieso.

Nicht in jedem Einzelfall, aber doch erschreckend oft stellt Hanloser eine späte Wendung von deren Biografien in eine „andere Querfront“ fest, ins bewusste oder unbewusste Bündnis mit scharf-rechts. Bei manchen wie Elsässer und „Bahamas“ geht das direkt durch ins Neonazistische und Identitäre, manche wie Küntzel oder leider auch Deniz Yücel machten grade noch bei staatsapologetischen Herrschaftsmedien wie Springers „Welt“ Halt in ihrer Karriere.

Aus den libertären Zeitschriften berücksichtigt Hanloser für seine Analysen den „Schwarzen Faden“ und „Wildcat“ – leider ignoriert er gänzlich die Positionierungen der „Graswurzelrevolution“, wie das früher tpyischerweise Antiimps machten, die uns für irrelevant hielten. So entgehen leider auch Hanlosers guten Analysen wichtige Begründungen zum Thema, die von unserer Seite kamen und in seinem Buch nicht besprochen werden: z.B. die Position, dass wir innerhalb der BRD die BDS-Boykottkampagnen aufgrund der besonderen Rolle des Boykotts bei der Judenvernichtung in der deutschen Geschichte tatsächlich ablehnen müssen, uns aber international in Zusammenhängen wie der War Resisters‘ International bewegen, deren gewaltfreie BDS-Position wir genauso respektieren wie Hanloser die von Roger Waters explizit gewaltlose Boykott-Begründung (vgl. S. 266f.).

Auch die Solidarität nur mit explizit gewaltfrei kämpfenden Palästinenserinnen sorgt eben qua Kampfmittel dafür, dass israelische Bürgerinnen nicht befürchten müssen, wortwörtlich „ins Meer geworfen“ zu werden, weil das gewaltfrei eben nicht, sondern nur bewaffnet möglich wäre. Dabei haben wir bei dieser Solidarität die Palästinenser*innen nicht etwa von Deutschland aus „auf Gewaltfreiheit verpflichtet“ (Geisel, zit. S. 282), sondern ein Teil ihrer selbst wählte den explizit gewaltfreien Kampf, wie das in anderen Weltregionen auch der Fall ist, im Moment etwa in Algerien, Armenien oder im Sudan – doch das wollen autoritäre Linke generell nicht wahrnehmen, dass es im Trikont massenhaft selbstbestimmte gewaltfreie Kämpfe gibt.

Die Apotheose der antideutschen Phobie vor Gewaltfreiheit und Antimilitarismus ist die absurde Wendung, das sei von deutschen Gewaltfreien den Trikont-Kämpfer*innen vorgeschrieben worden (s. oben Eike Geisel). Wie dies, so ist vieles, das die Antideutschen in 30 Jahren erfolgreicher Spaltung der deutschen Linken vollbracht haben, nur peinlich. Mit ihren theoretischen und praktischen Bankrotterklärungen haben Antideutsche zur politischen Bedeutungslosigkeit dieser Linken in der Gegenwart entscheidend beigetragen.


Gerhard Hanloser: Die andere Querfront. Skizzen des antideutschen Betrugs. Unrast Verlag, Münster 2019. 344 Seiten. ca. 23.00 SFr., ISBN 978-3-89771-273-7

Erstveröffentlicht in der „Graswurzelrevolution“
https://www.graswurzel.net/gwr/2020/03/viele-kleine-elsaessers/

Wir danken für das Publikationsrecht.

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