Vor uns der Abgrund

Der „Rechtsstaat“ in rasender Fahrt vom Autoland in die Klimakatastrophe

Von Hans Christoph Stoodt

Wegen des „überragenden öffentlichen Interesses“ soll die Betonierung grosser weiterer Flächen, auf denen sich jetzt zum Teil noch Wiesen, Wald, Gärten und Wohnungen befinden, zu jenen 145 Teilprojekten des Bundesverkehrswegeplanes gehören, die im Eilverfahren mit reduzierten Naturschutz- und sonstigen Einspruchsmöglichkeiten durchgezogen werden sollen. Eine Machbarkeitsstudie zum zehnspurigen Ausbau der A5 liegt im Bundesverkehrsministerium seit Herbst 2022 vor, wird aber geheim gehalten und noch nicht einmal den Bundestagsabgeordneten der vom Ausbau bedrohten Stadtteile ausgehändigt.

Wenn man sich vor Ort die Konsequenzen eines solchen Vorhabens stellt (Überblick), kommt man sehr schnell an den Punkt, an dem man an der Zurechnungsfähigkeit der Verantwortlichen auf allen Ebenen zweifeln muss.

Das ist keine polemische Behauptung, sondern bitterer Ernst. Ausgehend von den Erfahrungen in einer Frankfurter Bürger*innen-Initiative, die sich mit Mut und Engagement seit etwas über einem Jahr mit der ihr drohenden Gefahr in Gestalt des von oben geplanten Betonmonsters quer durch den Stadtteil beschäftigt – hier einige grundsätzliche Überlegungen.

Sie geben mein Erleben und Überdenken der Situation wieder, für das ich allein verantwortlich bin. Keineswegs sind sie Konsens der Bürger:inneninitiative „Es ist zu laut“ (esistzulaut.org).

Seit langem sind immer wieder juristisch mehr als zweifelhafte Aktivitäten der Exekutive(n) in Deutschland zu beobachten, die von höchster politischer Stelle offenbar nicht nur akzeptiert, sondern massgeblich vorangetrieben werden. Krasse Beispiele dafür sind die bis heute nie völlig aufgeklärten Vorgänge rund um die Verwicklung staatlicher Stellen in den Oktoberfestanschlag 1980, die Morde des NSU, die ebenso wenig aufgeklärten Umstände, unter denen offenbar über Monate die Obama-Administration der USA via NSA und in Kooperation mit deutschen „Diensten“ auch deutsche Regierungskommunikation inklusive des Smartphones der damaligen Kanzlerin abhörte, die Vorgänge rund um die Mordanschläge auf Walther Lübcke und in Hanau sowie andere mehr. Ein laxer Umgang mit Recht im Regierungsamt ist wahrlich keine sensationell neue Erscheinung hierzulande.

Die derzeitige Ampelkoalition in Berlin geht aber derzeit einen Schritt weiter. Sie bricht ein von ihr selber verabschiedetes geltendes Gesetz und dessen Durchsetzung öffentlich und mit Ansage – und zwar nicht irgendein Gesetz, sondern das Klimaschutzgesetz. Sie bricht es, weil sie behauptet, es sei nicht einhaltbar, was offensichtlich nicht den Tatsachen entspricht. Sie bricht es mit der Lüge, „die Menschen“ wollten es halt so, wie gern am Beispiel der obsessiven Bedeutung des Autofahrens (samt seiner klimapolitischen Konsequenzen) gezeigt werden soll: „Man steigt ein und fährt los – das bieten Bus, Bahn und Flugzeug in dieser Form nicht. Millionen Menschen wollen an diesem individuellen Freiheitsversprechen festhalten“, so Christian Lindner in einem bekenntnisartigen Artikel über die letzte IAA, die in Frankfurt stattfand.

Dass dieser Vorgang unter einem „Klimakanzler“ und mit den GRÜNEN in der Regierungskoalition stattfindet, zeigt den realen Status der Klimafrage für Regierungspolitik in Deutschland. Es ist billige Ablenkung, dass in der öffentlichen Wahrnehmung bis weit in die gesellschaftliche Linke hinein Verkehrsminister Wissing von der rechtsliberalen Splitterpartei FDP daran vor allem schuld sein soll. Das ist natürlich Unsinn. Die gesamte Ampel-Koalition hat bei einer Klausurtagung ihres Koalitionsausschusses Ende März 2023 in Meseberg verabredet, ihr eigenes und geltendes Klimaschutzgesetz zu sabotieren.

Damit begeht die gesamte Regierungskoalition mit Ankündigung einen Rechtsbruch – denn das Klimaschutzgesetz ist nach wie vor in Kraft.

Sie begeht zudem einen Verfassungsbruch – denn das aktuell geltende Klimaschutzgesetz wurde erst kurze Zeit vor seiner nun vereinbarten Aushöhlung aufgrund einer saftigen Rüge des Bundesverfassungsgerichts so formuliert, wie es nun offenbar als „Belastung“ empfunden wird – die Belastung besteht in der Rücksichtnahme auf die Möglichkeit nachfolgender Generationen, im Rahmen der Grundrechte der Verfassung leben zu können.

Sie begeht schliesslich einen Völkerrechtsbruch – denn ohne die drastische Reduzierung von Treibhausgasemissionen gerade auch im Verkehrsbereich wird die Grenze von 1,5 – maximal 2 Grad Celsius Erderwärmung bis 2100, verglichen mit dem Durchschnitt des vorindustriellen Zeitalters, nicht einzuhalten sein. Dieselbe Trias von Rechts-, Verfassungs- und Völkerrechtsbruch wurde bereits 2021 in Bezug auf den derzeit geltenden Bundesverkehrswegeplan festgestellt (Bündnis „Wald statt Asphalt“, hier auch Links zu Rechtsgutachten zur Frage der Verfassungsmässigkeit des Bundesverkehrswegeplans).

Zur Erinnerung: das derzeit weiterhin geltende Klimaschutzgesetz ist in seiner aktuellen Fassung das Ergebnis einer Ohrfeige, die das Bundesverfassungsgericht im April 2021 den Verfasserinnen und Verfassern des Vorgängergesetzes verpasst hatte:

„Die zum Teil noch sehr jungen Beschwerdeführenden sind durch die angegriffenen Bestimmungen … in ihren Freiheitsrechten verletzt. Die Vorschriften verschieben hohe Emissionsminderungslasten unumkehrbar auf Zeiträume nach 2030. Dass Treibhausgasemissionen gemindert werden müssen, folgt auch aus dem Grundgesetz. Das verfassungsrechtliche Klimaschutzziel des Art. 20a GG ist dahingehend konkretisiert, den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur dem sogenannten „Paris-Ziel“ entsprechend auf deutlich unter 2 °C und möglichst auf 1,5 °C gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen. Um das zu erreichen, müssen die nach 2030 noch erforderlichen Minderungen dann immer dringender und kurzfristiger erbracht werden. Von diesen künftigen Emissionsminderungspflichten ist praktisch jegliche Freiheit potenziell betroffen, weil noch nahezu alle Bereiche menschlichen Lebens mit der Emission von Treibhausgasen verbunden und damit nach 2030 von drastischen Einschränkungen bedroht sind. Der Gesetzgeber hätte daher zur Wahrung grundrechtlich gesicherter Freiheit Vorkehrungen treffen müssen, um diese hohen Lasten abzumildern. Zu dem danach gebotenen rechtzeitigen Übergang zu Klimaneutralität reichen die gesetzlichen Massgaben für die Fortschreibung des Reduktionspfads der Treibhausgasemissionen ab dem Jahr 2031 nicht aus“.

Das auf diese Weise für zum Teil verfassungswidrig erklärte Gesetz war erst im Dezember 2019 von Kabinett und Bundestag verabschiedet worden. Nun musste es umgebaut werden. Erst im August 2021 wurden abrechenbare Sektorziele für Teilbereiche der treibhausgasverursachenden gesellschaftlichen Bereiche veröffentlicht: Energiewirtschaft, Industrie, Gebäude, Verkehr, Landwirtschaft und Abfallwirtschaft / Sonstiges.

Für alle diese Teilbereiche waren Verfahren festgeschrieben worden, mittels deren die Umsetzung der Klimaziele überwacht werden und bei deren Grenzüberschreitung Sanktionen greifen sollten.

Ziel war es demzufolge, die im Pariser Klima-Abkommen von der Bundesrepublik völkerrechtlich verbindlich unterschriebenen Klimaschutz-Ziele im Rahmen des Pariser Klimaabkommens und der UNO-Strategie gegen die Klimakatastrophe auch nachvollziehbar umzusetzen: „Die Emissionen sollen bis 2030 um mind. 65 % und bis 2040 um mind. 88 % gesenkt werden (gegenüber 1990). Zudem gelten in einzelnen Sektoren bis 2030 zulässige Jahresemissionsmengen. Die deutsche Klimapolitik ist eingebettet in Klimaschutzprozesse der Europäischen Union sowie der UNO.“ (ebenda)

Der Bereich Verkehr (und auch der Bereich der Bauwirtschaft) verfehlte seine Sektorziele aber erheblich – sowohl 2021 als auch 2022. Zudem legte Wissing nicht, wie gesetzlich vorgeschrieben, entsprechende Berichte und Massnahmenplanungen zur Frage vor, wie im Bereich Verkehr künftig die CO2-Minderungsziele eingehalten werden könnte.

Dieses gesetzeswidrige Verhalten deckte und deckt offenbar „Klimakanzler“ Scholz. Es wurde einfach weitergebaut, weiterabgeholzt, weiterbetoniert und weitergefahren wie bisher – ein besonders abstossendes und gewalttätiges Beispiel war der Ausbau der A49 mitten durch ein Natur- und Trinkwasserschutzgebiet im Dannenröder Forst. Es fand nicht nur mit den GRÜNEN in der Bundesregierung, sondern auch in der mitverantwortlichen hessischen Landesregierung statt. Selbst ein so minimaler, europaweit ansonsten überall akzeptierter Schritt wie die Vereinbarung eines Tempolimits auf Autobahnen gilt in Deutschland amtlich als undurchsetzbar „ideologisch“ und „freiheitsfeindlich“, obwohl Umfragen immer wieder die gesellschaftliche Akzeptanz eines solchen Schritts dokumentieren.

Im März 2023 beschloss dann die Regierungskoalition ganz offiziell, sich nicht mehr an ihr eigenes Gesetz halten zu wollen: da es den Verkehrsminister ja sowieso nicht schere, könne man auch die unter anderem ihn betreffenden und alle anderen Sektorziele eigentlich gleich ganz abschaffen. Nach der Sitzung des Koalitionsausschusses in Meseberg blieb es wie so oft Klimaschutz-Minister Robert Habeck, vorbehalten, diesen U-Turn nachgerade lyrisch zu „begründen“: „In der grossen Koalition und auch in der Ampel-Regierung hat der Verkehrssektor nicht geliefert und es hat niemanden interessiert.

Es gab das Klimaschutzgesetz und es gab die politische Realität.“ Mit dem neuen Gesetz müsse die Zielverfehlung besonders durch die verfehlenden Ressorts aufgeholt werden, stellte er klar. Es sei zwar juristisch nicht mehr scharf, aber es gebe eine politische Verantwortung.“ Nichts anderes als schlechte politische Lyrik ist das insofern, als man mit gleicher Berechtigung auch genau das Gegenteil sagen könnte: bislang gab es immerhin rechtlich verbindliche Sektorziele. Nach deren Abschaffung, zu der auch Habeck loyal stehe, seien die Verantwortlichen in den einzelnen Sektoren nur mehr politisch solche – was auch immer das heisst. Derzeit: nichts.

Mit anderen Worten: nach Abschaffung der Sektorziele des Klimaschutzgesetzes ist genau der Zustand wieder hergestellt, den es bereits einmal gab, und den Habeck selber als den der zwei nebeneinander existierenden Realitäten von Klimaschutz und politischer Realität gekennzeichnet hatte.

Man muss nicht lange rätseln, wessen Interessen und Imperativen Verkehrsministerium und Bundesregierung mit ihrem Vorgehen sich unterwerfen: „Wirtschaft und Wohlstand“ würden schweren Schaden erleiden, wenn zB. ein als kritischer Gegenentwurf zu den Machenschaften der Ampelkoalition gemeinter Vorschlagskatalog zu klimagerechterer Verkehrspolitik von Fridays for Future umgesetzt würde, meinte Verkehrsminister Wissing.

Das geltende Klimaschutzgesetz ist bis zu seiner Novellierung im Sinn der Meseberger Beschlüsse in Kraft – was wahrscheinlich bis Herbst 2023 dauern wird. Es sieht auch weiterhin vor, dass die für die einzelnen, gekennzeichneten Sektoren verabschiedeten Reduktionsziele klimaschädlicher Emissionen nicht überschritten werden dürfen und was erfolgt, wenn ein solches Ziel nicht eingehalten wird.

Das Gegenteil davon wird in der Praxis nicht nur einfach getan, sondern auch noch politisch gerechtfertigt – vom Klimakanzler und von Habeck, von Lindner und von Wissing unisono: „Ich hätte das jetzt nicht gebraucht, diese Gesetzesänderung, aber sie ist verabredet worden und da sind wir natürlich vertragstreu – und ich auch“ erklärte Habeck nach vollbrachter Tat von Meseberg. Vertragstreue ist wichtiger als Rechtstreue, ein „Ehrenwort“ gilt mehr als Recht und Verfassung – das kennt man ja bereits aus früheren Zeiten der Republik.

So verständlich der hin und wieder zur Schau getragene Ärger über die ostentative Verachtung für eine klima- und sozialgerechtere Verkehrspolitik besonders der FDP-Vertreter im Ampelkabinett sind – niemand zwingt die beiden anderen und grösseren Parteien, sich dieses Verhalten länger bieten zu lassen. Niemand hindert sie, die Regierungskoalition aufzukündigen.

Sie tun es nicht und werden es auch in Zukunft nicht tun.

Die Frage ist ihnen also, wie soll man das anders verstehen, einfach nicht wichtig genug. Der kurzfristige Machterhalt ist ihnen wichtiger, als das, was mittel- und langfristig aus ihrer Politik mit eiserner Konsequenz folgt: eine weitere Eskalation der Klimaprobleme – die allerdings möglicherweise sehr viel schneller und umfassender Zusammenbrüchen der menschlichen Zivilisation führen wird, als gedacht: „Laut den besten Daten, die wir momentan haben, wird in den kommenden zehn Jahre das langfristige Schicksal unserer industriellen Zivilisation entschieden“.

Wir haben eine Bundesregierung, die die Zeichen der schnell verrinnenden Zeit nicht erkennt oder nicht erkennen will – man kann sich darüber streiten, welche der beiden Möglichkeiten schlimmer wäre – und wenn im vorangegangenen Zitat vom „Schicksal unserer industriellen Zivilisation“ geredet wird, so ist das natürlich ungenau ausgedrückt. Gemeint ist: das Schicksal der massgeblich global vom Kapitalismus bestimmten Art des gesellschaftlichen Lebens; unklar ist, was hier „unser“ heissen soll und das Wort „Schicksal“ hat den Klang unvorhersehbarer Kontingenz, was völlig falsch ist – siehe oben. Wir reden hier über die Ergebnisse absichtlichen Handelns oder auch Nichthandelns bis hin zum aktiven und öffentlich angekündigten Rechtsbruch.

Die volkswirtschaftlichen Schäden dieser Politik allein in Deutschland sind nicht absehbar, sie werden aber, so viel weiss man schon jetzt, in die Hunderte Milliarden gehen. Das ist seit vielen Jahren bekannt. Aber in einem Land, dessen Regierung ohne mit der Wimper zu zucken eine knappe halbe Milliarde für das bewusst rechtswidrige Verhalten eines ehemaligen Bundesverkehrsministers auf den Tisch zu legen bereit ist, ist es vermutlich auch egal, wie viele Milliarden an Schäden durch absichtliches Tun und Lassen aufgrund der Verkehrspolitik seines Nachfolgers im selben Amt verursacht werden.

Natürlich wäre es grundsätzlich möglich, auf diesem Planeten so zu wirtschaften und zu leben, dass dessen natürliche Grenzen respektiert werden und gleichzeitig allen Menschen – und nicht nur privilegierten Minderheiten – ein Leben in Würde möglich wäre. Eckpunkte, innerhalb deren sich ein solches Leben aller bewegen müsste, um aus naturwissenschaftlicher Sicht global zukunfts- und verallgemeinerungsfähig zu sein, beschreibt aktuell die Studie „Safe and just Earth system boundaries“ des Forscher:innenkreises um Johan Rockstroem. Einzig ein Modell gesellschaftlichen Lebens, das, anders als der globale Kapitalismus, wenigstens potentiell in der Lage wäre, die natürlichen planetarischen Grenzen allen Lebens zu schützen, wäre mit Art. 1(1) des Grundgesetzes in Übereinstimmung zu bringen (ganz zu schweigen von den viel weiter gehenden Forderungen der jüdisch-christlichen Selbstverpflichtung zur Nächsten-, Fernsten- und Feindesliebe).

Wer sich an die schlicht vernünftigen Vorgaben wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung innerhalb der einzuhaltenden planetaren Grenzen nicht halten möchte und auf perverse Weise die eigene „Freiheit“ in einem wodurch auch immer fantasierten Recht zu höherem Ressourcenverbrauch sieht, als es der übrigen Menschheit zusteht oder im Rahmen der planetaren Grenzen verantwortbar ist, ist im strikten Sinn des Wortes ein antisoziales und amoralisches Wesen, das dem Rest der Welt wissentlich schaden will. Ein solches Verhalten sollte justiziabel und strafbar sein.

Wie aber eine Form des Wirtschaftens und gesellschaftlichen Lebens durchsetzbar sein soll, die nicht den Partikularinteressen privilegierter Reicher, sondern dem Leben Aller dient, das ist die Frage, die innerhalb einer immer kürzer werdenden Zeit über Gelingen oder Misslingen des offenen Experiments der menschlichen Geschichte, wie wenigstens wir sie kennen, entscheidet.

Eine Betrachtung von „Wirtschaft und Wohlstand“ aus diesem einzig verantwortbaren Blickwinkel ist der Regierung schon deshalb fremd, weil es ihr offensichtlich mehr um das Privateigentum von Produktionsmittelbesitzern geht als um die Gesellschaft insgesamt, nicht um citoyens sondern um bourgeois.

Die Klimapolitik der Ampelkoalition vertritt nicht das Interesse der Gesellschaft, sondern das einer winzigen, partikularen Minderheit, das gerne „Weiter so!“ machen möchte, weil sie ahnt: jeder Versuch, Wirtschaft und Gesellschaft grundlegend anders, sozial und klimagerecht, zu organisieren wird sie für immer ihre mörderischen Privilegien kosten, die nicht etwa in der individuellen „Gier“ individueller Menschen (so sehr es die auch gibt), sondern in der objektiven Struktur der Bewegungsgesetze des Kapitals ihre Wurzel haben. Sinn und Aufgabe der historischen Epoche, in der wir uns befinden, besteht darin, dieses Problem grundsätzlich, das Übel an der Wurzel packend, also radikal zu lösen.

Im Unterschied zu dieser Aufgabe muss es der Gegenseite darum gehen, möglichst wenig an substantieller Änderung des status quo zuzulassen, also die anstehenden Aufgaben gesellschaftlichen Lebens eben nicht zu lösen. Zumindest, solange es irgendwie geht. Danach sollen dann wahrscheinlich andere zuständig sein. Von Wissing, Scholz, Merz, Söder, Habeck, Baerbock, Weidel und Höcke und wie sie alle heissen wird man dann vermutlich nichts mehr hören. Für den Rest der Menschheit gilt: „Die derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnisse sprechen eindeutig für beispiellose, dringende und ehrgeizige Klimaschutzmassnahmen, um die Risiken von Kipppunkten im Klimasystem zu begrenzen“.

Ob eine solche klimapolitische Wende im Rahmen der (fast) überall auf der Welt herrschenden Bedingungen der kapitalistischen Warenproduktion möglich und umsetzbar ist, scheint sehr fraglich.

Die aktuelle Bundesregierung jedenfalls tut alles, um den Beweis anzutreten, dass den ihr angehörigen Parteien und Politiker:innen die hiesige Verantwortung für die globale klimapolitische Entwicklung nicht so viel wert ist, als dass man dafür die Regierungsmacht riskieren wollte. Lieber beugt und bricht man das geltende Recht, die Verfassung und das Völkerrecht nicht an irgendeinem, sondern an dem für den Fortbestand der natürlichen Grundlagen menschlicher Zivilisation entscheidenden Punkt. Um „weiter so“ machen zu können.

Sollte dieses infame Verhalten der Regierung nicht durch die hiesige Rechtsprechung gestoppt werden, sollten die bislang doch nun wirklich absolut brav-systemkonform und gewaltfrei bleibenden Aktivitäten der Klimagerechtigkeitsbewegung wie Fridays For Future, Aufstand Last Generation, Extinction Rebellion, Ende Gelände usw. tendenziell auch noch zum Verstummen gebracht oder ins „terroristische“ Abseits manövriert werden – welche Mittel und Wege blieben dann noch, um das Schlimmste zu verhindern?

Erstveröffentlicht im Untergrund Blättle v. 31.7.23
https://www.untergrund-blättle.ch/politik/deutschland/frankfurt-autobahn-a5-ausbau-autoland-klimakatastrophe-7823.html
Wir danklen für das Abdruckrecht.

Eine unrühmliche Geschichte des ukrainischen Nationalismus – ein Anti-Kriegs-Entwurf

Einige, zu oft ausgeblendete Aspekte aus antimilitaristischer Perspektive in gebotener Kürze.

Der Autor hat diesen Text schon am 11. April 2022 geschrieben. Er hat nichts an Aktualität eingebüßt. (Jochen Gester)

Von Ziegelbrenner

1. Es gibt keine Legitimation für einen Angriffskrieg. Das versteht sich eigentlich von selbst und das schliesst den von Putin nun angezettelten Krieg gegen die Ukraine mit ein. Komisch, dass man das heutzutage überhaupt betonen muss.

2. Kein Krieg fällt vom Himmel. Kriege sind immer das Resultat von ökonomischem, politischem und/ oder religiösem Machtstreben, oft begleitet von persönlicher Machtgier. Ein Putin ist vor dem Hintergrund kein Ausrutscher der Geschichte, kein historischer „Unfall“, sondern eine Konsequenz. Das macht ihn auch nicht charmanter, entschuldigt auch nichts. Ohne den Gesamtzusammenhang aber wird man Kriege nicht verstehen – und ist also dazu verurteilt, die gewalttätige Geschichte immer wieder neu zu durchleben.

3. Der Kitt, mit dem die „eigene“ Bevölkerung in den Krieg getrieben wird, mit dem also der Krieg ideologisch vorbereitet wird, heisst Nationalismus. Wer gegen Kriege ist, muss dementsprechend den ideologischen Unterbau, den Nationalismus, ablehnen. 4. Kriegführende Politik) handelt nicht irrational, sondern rational, wenn man die Grundlagen akzeptiert (kapitalistische Ausbeutung und Expansionslogik, Aufteilung der Welt in Staaten und daraus resultierender nationalistischer Konkurrenzkampf gegen andere Staaten, hierarchisierende Weltordnungs- und Wahnphantasien á la „wir sind auserwählt, unsere Interessen zählen mehr, wir haben den vorrangigen Zugang zu Rohstoffen verdient“, missionarisches Denken, aggressive Männlichkeitskonzepte). Wer von Staat, Nation, Kapitalismus und Patriarchat schweigt, der sollte auch im Ukraine-Krieg die Klappe halten.

5. Es geht in Kriegen um geostrategische Interessen (so Putin in der Ukraine um Öl, Gas, Getreide) – übrigens auch in denen, in die die NATO involviert ist. Mehr noch: die „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ der Bundeswehr definieren bereits seit 2010 den ungehinderten Zugang zu Rohstoffen als legitimen Kriegszweck – wie will man mit einer solchen Agenda im Armeerucksack ethisch glaubwürdig gegen eine Kriegserklärung Putins agieren? Es geht der NATO im Krieg nicht um die Ukraine – diese ist nur das Spielfeld im Kampf um die globale Hegemonie, die man gegen Russland endgültig durchsetzen will, nachdem Putin dazu einen Vorwand lieferte. Nicht zuletzt geht es dabei im Grunde um einen innerkapitalistischen Konkurrenzkampf um Ressourcen.

6. Entsprechend sind Politiker – Frauen kommen hier bisher kaum vor -, die Kriege anzetteln, nicht einfach „irre“ oder „verrückt“ (die Verrücktheit müsste dann auch plötzlich vom Himmel fallen, denn meist sind diese zugegeben unsympathischen Gestalten ja solange nicht verrückt, wie man mit ihnen gute, d.h. den eigenen Interessen dienende, Geschäfte machen kann). Vergessen wir nicht: Krieg ist die Fortführung von Politik mit anderen Mitteln. Und vice versa.

7. Das einzelne Politiker überhaupt so viel Zustimmung und Macht erhalten können, hängt damit zusammen, dass die meisten Menschen diesen Herrschern zu eben dieser Macht verhelfen, weil sie sich eigene Vorteile versprechen (vgl. das 500 Jahre alte Manifest von Etienne de La Boetie, siehe. Tyrannen fallen nicht plötzlich in die Welt, sie sind ein Produkt von Interessenkämpfen.

8. „Wer hat angefangen?“ – diese Frage ist Sandkasten-Niveau, sie hilft in der derzeitigen Lage nicht weiter. Festzuhalten ist aber: von ukrainischer Seite aus ist jahrelang nichts gegen einen drohenden Krieg unternommen worden, im Gegenteil. Es ist interessant, wie gerade Linke nun die jahrelange Pro-NATO-Politik der Ukraine und die massiven Bemühungen der hochgerüsteten NATO um eine Osterweiterung „vergessen“. „Vergessen“ sind auch die kriegerischen Rückeroberungsversuche der „freien“ und „friedlichen“ und nun so unterstützenswerten Ukraine in der Donbass-Region, die laut UN über 14.000 Tote forderten.

9. Es rechtfertigt keinen Krieg, festzuhalten ist aber auch, dass 1. die NATO-Expansionspläne von Putin vor dem Hintergrund staatlicher Logik als Bedrohung betrachtet werden mussten, zumal angesichts des 20fachen Waffenarsenals der NATO gegenüber Russland und angesichts des Umstandes, dass Russland auch weltwirtschaftlich immer mehr unter Druck gerät und an den Rand gedrängt wird; und dass 2. die ukrainischen Provokationen der letzten Jahre in erster Linie einem ukrainischen nation building dienten. Ein Lesetipp dazu ist „Die Erfindung der Nation“ von Benedict Anderson. Staaten aber, siehe oben, sind nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.

10. Der Krieg ist nicht „gesichtswahrend“ (unter Maskulinisten ist so was ja immer wichtig) zu gewinnen. Die noch unblutigste Option: die Ukraine wird neutral á la Schweiz (ein Vorschlag, den u.a. der Ex-Innen- und Überwachungsminister Otto Schily vertritt – oder zweigeteilt. Die blutigere Option: die Ukraine wird nicht mehr sein, und Russland befindet sich in einem Bürgerkrieg nach Putin. Die NATO ist so oder so ein Gewinner. Sie wird hochgerüstet, und die Militarisierung der Köpfe wird voranschreiten. Der Westen hat sich im Krieg gegen die Ukraine vorerst zusammengeschweisst. Dies allerdings mit noch ungeahnten, jedenfalls alles andere als angenehmen Folgen für eine Menschheit, deren Interessen den ausufernden Militäretats untergeordnet werden. Ganz abgesehen davon, dass die NATO für den von ihr herbeigesehnten „Epochenbruch“ allerdings auch die Gefahr eines Atomkrieges nicht scheut. Nicht nur Putin ist eine Gefahr für die Welt – die NATO ist es auch.

11. So viel Faschismus wie derzeit war seit 1945 nicht mehr in Europa. In den ukrainischen Streitkräften kämpft bereits seit 2014 ein faschistisches (und teils von der NATO ausgebildetes) Freiwilligen-Regiment, das schon vor Jahren durch massive Menschenrechtsverletzungen bekannt wurde und das beste Beziehungen zu europäischen Neonazis unterhält. Die Seiten des Asow-Regiments und ihres politischen Armes waren zeitweise bei Facebook nicht zugänglich, das hat sich nun vor dem Hintergrund des Krieges wieder geändert – der Zweck heiligt offenbar die Mittel. Vorangetrieben wird in der Ukraine derzeit eine Politik der Ethnisierung. So soll u.a. das Russische aus der Öffentlichkeit verbannt werden (während zu Zeiten der Sowjetunion in der Ukraine auch ukrainisch gesprochen werden konnte).

12. Generell zeigt sich das Ausmass des ukrainischen Nationalismus derzeit wieder deutlich. Er hat eine unrühmliche Geschichte, immerhin kämpften schon im zweiten Weltkrieg ukrainische „Freiheitskämpfer“ an der Seite der Nazis gegen die Russen. Alleine die Waffen-SS-Division „Galizien“ umfasste 22.000 ukrainische Freiwillige. Kaum irgendwo sonst hatte der Nationalsozialismus ausserhalb des deutschen Reiches in der Zivilbevölkerung so viele willige Unterstützer. Deutsche haben im Nationalsozialismus über 25 Millionen russische Menschen umgebracht. Dass die Ukraine nun offensiv Deutsche im Kampf als Freiwillige gegen Russland anwirbt (darunter haben sich auch bereits etliche Neonazis gemeldet), ist vor diesem Hintergrund mehr als nur pikant.

13. Bereits der in der Ukraine mythenumworbene „Euromaidan“-Protest 2013/ 2014 war eine stark von den Rechtsextremen betriebene Bewegung, der für die Faschisten einen neuen Aufschwung bedeutete. Bis heute gibt es, nicht zuletzt ausserhalb des Asow-Regiments, reichlich Neonazis in der Ukraine. 2019 wies Amnesty International darauf hin, dass Präsident Selenskyj kein Interesse hatte, etwa Roma vor rassistischen Angriffen zu schützen (https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-journal/ukraine-regierung-hat-rechtsextreme-nicht-unter-kontrolle). Selenskyj traf 2019 Mitglieder der neofaschistischen, antisemitischen C14-Bewegung, die u.a. für Angriffe auf Roma-Lager verantwortlich ist (https://en.wikipedia.org/wiki/S14_(Ukrainian_group). Und noch 2022 traf sich Selenskyj mit Angehörigen der rechtsextremen, homophoben, rund 10.000 Mitglieder zählenden Bewegung „Rechter Sektor“ (zur Bewegung siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Prawyj_Sektor).

14. 2019 wurde in der Ukraine zum „Stepan Bandera Jahr“ ausgerufen, zur Erinnerung an den Nazi-Kollaborateur, der als Nationalheld verehrt wird und nach dem in den letzten Jahren grosse Strassen benannt wurden. Die intensiven Beziehungen zwischen den ukrainischen Neonazis, der Regierung und der Gesellschaft sind hier nachzulesen. Angesichts dieser Tatsachen sind die Rechtsextremen kein „Fake-Narrativ“ (der ukrainische Botschafter in Berlin, auch er übrigens bekennender Bandera-Fan). Putins Verweise auf ukrainische Faschisten haben also eine sehr reale Grundlage – auch wenn die „Entnazifizierung“ ein vorgeschobenes Argument ist, zumal auch in Russland viele Rechtsextreme aktiv sind. Einziger Vorteil der allgegenwärtigen Rechtsextremen und des überbordenden Nationalismus auf beiden Seiten: die deutschen Rechten sind echt verwirrt, welcher Seite sie sich zuschlagen sollen – so viele Angebote überall, das erschwert die Einigkeit.

15. Natürlich gibt es auch eine andere Seite der Ukraine, tatsächlich emanzipatorische Traditionen der Freiheit und des libertären Sozialismus etwa (vgl. https://www.ziegelbrenner.com/produkt/freiheit-und-gerechtigkeit-die-geschichte-der-ukraine-aus-libertaerer-sicht/. Zu wenig davon ist bekannt, weshalb ich auf dieses Buch nur verschärft hinweisen kann. Auch dieses Buch, ein Zeugnis eines antibolschewistischen Sozialismus, erschienen in der von mir sehr geschätzten Edition Nautilus, will ich nicht verschweigen: https://edition-nautilus.de/programm/erinnert-euch-an-mich-ueber-nestor-machno/.

16. Kriege lassen sich nicht mit noch mehr Waffen bekämpfen. Das nun erstmals nach 1945 ganz offiziell deutsche Waffen Russen töten sollen ist eh schräg, gelinde gesagt. Es gibt auch keinerlei Garantie, dass die Waffen am Ende in der Ukraine den – international bestens vernetzten und in der Ukraine staatlich hofierten – Neonazis in die Hände fallen. Eine sehr reale Gefahr angesichts der oben skizzierten Verbindungen. Und das wird durch die Verbindungen des CIA zu den Neonazis nicht besser. Aber Geheimdienste und NATO, das ist eh eine unselige Allianz.

17. Obwohl man noch gar nicht so genau weiss, wofür das Geld eigentlich eingesetzt werden soll, warf man nun die gigantische Summe von 100 Milliarden Euro in den Ring, die als Sondervermögen der Bundeswehr zufliessen soll. Da schon die bisher üppigen Bundeswehr-Etats wenig effizient scheinen, ist von der jetzigen Planlosigkeit, mit der Geld verschleudert wird, nichts Gutes zu erwarten, einmal abgesehen davon, dass die Losung „Frieden schaffen mit noch mehr Waffen“ noch nie aufgegangen ist. Denn friedlicher ist die Welt auch nach über 20 Jahren ununterbrochenen Bundeswehr-„Engagements“ in aller Welt nicht geworden, im Gegenteil.

18. 100 Milliarden Euro, man vergleiche diese Summe mit den deutschen Etats für Ressorts wie Gesundheit (16,03 Mrd.), Bildung und Forschung (19,36 Mrd.), Innen, Bau und Heimat (18,52 Mrd.), Familie, Senioren, Frauen und Jugend (12,16 Mrd.), Umwelt (2,7 Mrd.), Zusammenarbeit und Entwicklung (10,8 Mrd.) sowie Ernährung und Landwirtschaft (6,98 Mrd.), dann hat man eine Ahnung, was in der neuen rot-grünen Regierung – die künftig zudem jährlich 70 Milliarden Euro für Rüstung ausgeben will – zählt. Gesundheit, Bildung und Umwelt sind es jedenfalls schon einmal nicht. Wem dies nicht gefällt: https://derappell.de. Wenn schon so viel Geld da ist sollte es, aufgrund von steigenden sozialen Gegensätzen (der berühmten, immer weiter auseinanderklaffenden Schere), Klimawandel etc. doch wohl eher für einen sozial-ökologischen Umbau ausgegeben werden.

19. Wer sich nun über die SPD oder die Grünen wundert, der hat nicht nur die Geschichte der letzten 100 Jahre vergessen (z.B. die Zustimmung der Sozialdemokratie zu den Kriegskrediten, vgl. https://www.ziegelbrenner.com/produkt/sozialdemokratie-krieg-und-frieden-die-stellung-der-spd-zur-friedensfrage-von-den-anfaengen-bis-zur-gegenwart/), sondern auch der letzten gut 20 Jahre. Der NATO-Krieg gegen Serbien (übrigens völkerrechtswidrig wie der Krieg Putins) war immerhin von deutscher Seite aus ein rot-grüner Krieg. Noch beunruhigender ist, dass nicht nur das Geschichtsbewusstsein auf den Hund gekommen ist, sondern sich kaum jemand mehr aus dem rot-grünen Milieu ernsthaft über die Kriegstreiberei aufzuregen scheint. Unverhohlen tobt die SPD-nahe Friedrich Ebert-Stiftung etwa, dass Putin die NATO-Erweiterung und die „europäische Sicherheitsordnung“ nun „untergraben“ will.

20. Die Grünen haben nun als erklärtes Ziel: „Russland ruinieren“ (Baerbock). Da holt man nun das Gas lieber aus Katar – einem autoritär-patriarchalen Staat, der auf Seiten des blutigen, hierzulande kaum wahrgenommenen Bürgerkrieges im Jemen islamistische Gruppen unterstützt und den Krieg damit seit Jahren regelrecht „anheizt“ (Die Presse. 3.9.2020). Bisher gab es dort weit über 200.000 Tote (https://www.deutschlandfunk.de/jemen-krieg-huthi-katastrophe-100.html ). „Viele islamistische Terroristen leben seit Jahren trotz internationaler Proteste unbehelligt in Katar… Die katarische Regierung räumt ein, die palästinensisch-islamistische Terrororganisation Hamas zu unterstützen ( https://de.wikipedia.org/wiki/Katar-Krise_2017_bis_2021). Aber Katar und Jemen sind ja weit weg, im Gegensatz zu der Ukraine und Russland…

21. Warum schlagen sich so viele in einem Land, das nach 1945 aus Gründen starke antimilitaristische Strömungen hatte, nun derart offensiv auf die Seite der rot-grünen Kriegsführungslinie? Es ist eine noch unbewiesene These: ich habe in meinen Publikationen darauf hingewiesen, dass gegenüber dem Coronavirus seit 2020 ein innerer Krieg erklärt wurde, der auch von den Medien massiv mit inszeniert wurde (https://www.ziegelbrenner.com/produkt/corona-gegenwart-und-zukunft-unter-dem-virus/). Im Pandemie-Regime wurde dabei auch die Staatsgläubigkeit unzähliger vormals scheinbar „kritischer“ Menschen offenbar. Die – von Ausrottungsphantasien begleitete – Kriegsanalogie, die Medieninszenierung und die Staatsfixierung von 2020/ 2021 scheinen mir die gegenwärtige Kriegszustimmung mit ermöglicht zu haben.

22. Warum soll oder muss mensch sich im Interessenkampf zwischen zwei Nationalstaaten nun überhaupt auf eine Seite schlagen? Warum verteilt eine zivilgesellschaftliche Organisation wie „Campact“ (Online-Petitionen u.a. gegen Atomenergie) nun Aufkleber in den Nationalfarben? Warum nun „Solidarität mit der Ukraine“, wie es bis weit in die Kreise der Impflings-Linken hineinschallt? Ja, es sind auffallend exakt jene, die während der Pandemie ständig „Solidarität“ einforderten (und dabei aggressiv Menschen ausschlossen, also ein sehr exklusives Solidaritätsverständnis an den Tag legten), die nun wieder besonders entschieden parteiergreifend sind.

23. „Solidarität mit der Ukraine“, das ist immer auch Solidarität mit der NATO, denn beides ist untrennbar verbunden. Ein Lesetipp zur NATO-Geschichte: https://www.ziegelbrenner.com/produkt/die-nato-anatomie-eines-militaerpaktes/. In einem Land, das einst eine grosse Friedensbewegung hatte (vgl. z.B. https://www.ziegelbrenner.com/produkt/was-nun-die-friedensbewegung-nach-der-raketenstationierung/) ist daran zu erinnern, dass z.B. das „verbündete“ US-Militär grundsätzlich bei Auslandseinsätzen im Voraus eine uneingeschränkte Straflosigkeit von US-Soldaten zur Bedingung macht. Wie verträgt sich ein solcher Blankoscheck mit vermeintlich „humanitären“ Anliegen? Die Antwort kann nur lauten: weder Putin, noch NATO!

24. Wer die Medien beobachtet kann sehen, wie um die Unterstützung der ukrainischen Kriegsflüchtlinge dort ein regelrechter Hype ausgebrochen ist. Warum lassen sich aber Flüchtlingsinitiativen vor diesen Karren spannen, anstatt freien Zugang auch für Geflüchtete aus dem Mittelmeer zu fordern? Wer erinnert sich noch daran, wie Geflüchtete aus Belarus Anfang 2022 in Polen festhingen und einem staatlichen Machtkampf ausgeliefert wurden? Wer erinnert sich an das schäbige Gerangel um Aufnahmekontingente für ein paar Tausend Geflüchtete nach dem Durchmarsch der Taliban in Afghanistan? Warum besetzen Linke nun Häuser nicht einfach für wohnungssuchende Menschen, nicht einfach für Geflüchtete, nein, für „ukrainische Flüchtlinge“? Offenkundig gibt es nun Geflüchtete erster und zweiter Klasse, und je mehr ukrainische Geflüchtete unterstützt werden (was an sich ja positiv ist), umso mehr werden nicht-weisse Geflüchtete (auch aus der Ukraine kommende) schikaniert und diskriminiert (https://www.proasyl.de/news/angriffskrieg-auf-die-ukraine-rassismus-auf-der-flucht/).

25. Die Ukraine nimmt alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren in Geiselhaft. Sie dürfen das Land nicht verlassen. Nur Frauen und Kinder dürfen raus. Wo bleibt der Aufschrei dagegen, wie selbstverständlich Menschen, ob sie wollen oder nicht, als Kriegsfutter und Material eingeplant werden? Wo bleibt der Aufschrei jener, die in Deutschland doch sonst immer auf Menschenrechte verweisen? Warum endet hier das sonst immer wieder betonte Mitgefühl gegenüber der Zivilbevölkerung in kriegerischen Auseinandersetzungen? Warum nun stattdessen überall an den Rathäusern blau-gelbe Flaggen (auch in Italien z.B., so bei der Kinder- und Jugendbuchmesse in Bologna)? Zynisch gefragt: weil es endlich wieder gegen Russland geht? Anders kann ich mir diese derart einseitige Parteinahme kaum erklären.

26. In dem Masse, in dem die Solidarität mit der Ukraine eingefordert wird, schwindet sie mit allem, was als „russisch“ identifiziert wird. Das ist natürlich kein Zufall, sondern das eine Folge des anderen. Logische Konsequenz eines „entweder/ oder“. In der – laut Eigenwerbung – „Zeitung für kluge Köpfe“, der FAZ, wütet ein Leser mit voller Namensnennung (sich also wohl der Volksmeinung sicher fühlend) am 20.3., man könne doch für „jeden Russenskalp eine Prämie zahlen“. Das ist in den „seriösen“ Medien zu lesen – ich erspare mir hier Zitate aus diversen Internet-Seiten.

27. Menschen in Deutschland trauen sich kaum noch, russisch zu sprechen (https://www.nachdenkseiten.de/?p=81936). Sie werden beschimpft und bedroht, und es nutzt ihnen wenig, dass die meisten von ihnen gegen den Krieg sind (Der Spiegel, 11/ 2022). Eine antirussische Volksgemeinschaft aber ist immer noch vor allem eines: nämlich Volksgemeinschaft. Wie kann es angehen, dass der Präsident des deutschen Schriftstellerverbandes PEN das Verbot aller russischen Literatur fordert (von da ist es nicht weit bis zur Bücherverbrennung)? Warum entschuldigt sich ein Dirigent, wenn er das Werk eines russischen Komponisten spielt (so geschehen in Berlin bei einem Schostakowitsch-Konzert)? Warum wird russischen Menschen nun überall ein „Gegen Putin“-Bekenntnis abgefordert? (übrigens wählen die Russlanddeutschen zu 15-17% die AfD – fordert man ihnen deshalb ein Bekenntnis gegen den Faschismus ab?)

28. Schon vor Putin gab es in der damaligen Sowjetunion Oppositionsbewegungen (vgl. https://www.ziegelbrenner.com/produkt/das-unterirdische-feuer-texte-der-russischen-gewerkschaftsopposition-smot-sammlung-von-artikeln-aus-informations-bulletin-und-poiski/). Wer regelmässig Nachrichten liest oder sieht weiss: seit Jahren gibt es in Russland auch eine massive Kritik an Putin. Wer nun alles Russische meint boykottieren zu müssen, der erweist Putin allerdings einen Bärendienst, denn da wird die Opposition gleich mit entsorgt. Ein Beispiel von linker Putin- und Faschismuskritik und deren Verfolgung gibt der ehemalige Diplomat Nikolai Platoschkin in dieser deutschsprachigen Aufzeichnung: https://www.youtube.com/watch?app=desktop&v=O9F4I0ZbqAg&cbrd=1 (auch wenn er irrt mit seiner Aussage, dass rätoromanisch in der Schweiz nur eine Sprache der Wissenschaftler sei…).

29. Die einzige emanzipatorische Position scheint mir darin zu bestehen, sich eben nicht auf eine (immer zugleich nationalistische) Seite zu schlagen, sondern die antimilitaristischen Kräfte in der Zivilbevölkerung und die Deserteure beider Seiten zu unterstützen. Jeder Nationalismus (russisch, ukrainisch…) ist dabei selbstverständlich ebenso abzulehnen wie die Osterweiterung der NATO. Nicht Staaten – oder Staatsangehörige – sind zu unterstützen, sondern Menschen. Diese entschieden antimilitaristische Haltung beinhaltet auch einen Generalstreik gegen den Krieg (siehe die über 100 Jahre alte Idee von Gustav Landauer, vgl. https://www.ziegelbrenner.com/produkt/nation-krieg-und-revolution/) innerhalb aller kriegführenden Staaten, mithin eine umfassende Verweigerung gegen den Krieg. Das schliesst ein, jene Kräfte zu einen, mit denen wir gemeinsam „verrückt“ (gemessen an den oben skizzierten Logiken) sein können, „um gegen den Wahnsinn der bestehenden Herrschaftsordnung zu bestehen“, wie es Jonathan Eibisch schrieb (https://www.untergrund-blättle.ch/gesellschaft/panorama/georges-sorel-ukraine-krieg-bibliothek-6936.html). Gerade zu Redaktionsschluss bekam ich noch den Hinweis auf ein Papier zur Ukraine aus Sicht – marginalisierter – ukrainischer Anarchist*innen, auf das ich gerne verweise: https://wolfwetzel.de/index.php/2022/03/30/der-krieg-und-die-anarchistinnen-in-der-ukraine/?fbclid=IwAR2pRs_v3K5IviQ9tlz4OBcWs-qAdowhX4VsCpZ8pFg2fEF6ssF_9rYgDI4

30. Eine antimilitaristische Kritik an Militär und Krieg müsste sich dabei auch mit den globalen Klimakämpfen verbinden, denn einer der grössten Klimakiller ist der Krieg, samt der Waffenproduktion (oder wird es demnächst klimaneutrale Waffen geben, versehen mit dem Öko-Siegel der kriegführenden Grünen?). Die Klimakatastrophe ihrerseits wird weit mehr Menschen auf die Flucht treiben als es jetzt in der Ukraine sind. Das ist wirklich verrückt: Waffen vernichten Klima vernichten Menschen vernichten Ressourcen erzeugen neue Kriege um Ressourcen vernichten Klima… Wann wird diese Spirale endlich durchbrochen?

Erstveröffentlicht im „Untergrundblättle“ v. 11. April 2022
Wir danken dem Autor für das Abdruckrecht.

Im November erscheint ein neues Buch des Autors im Mandelbaum Verlag.
Bücher sind die Software für´s Hirn!
Letzte Veröffentlichungen:
– G. Grüneklee/ C. Heni/ P. Nowak: Nie wieder Krieg ohne uns – Deutschland und die Ukraine (2022), ISBN 978-3-946193-38-8, 20 Euro
– G. Grüneklee: Wider den Impfzwang (Plädoyer gegen Impfpflicht, 2022), ISBN 978-3-935716-81-9, 5 Euro
– Johann Most: Kapital und Arbeit (Biogr. Nachwort von G. Grüneklee, 2021), ISBN 978-3-935716-80-2, 7 Euro
– G. Grüneklee: Corona – Gegenwart und Zukunft unter dem Virus (2021), ISBN 978-3-935716-79-6, 15 Euro

Bedrohte Heimat

Von Stephan Kaufmann

In Deutschland wird wieder vor »Deindustrialisierung« gewarnt. Dabei geht es um weit mehr als bloß Marktanteile

Als Außenministerin Annalena Baerbock diese Woche ihre Reise nach Australien wegen eines defekten Bundeswehrflugzeugs absagen musste, entdeckte die Öffentlichkeit ein weit größeres Problem als nur eine kaputte Landeklappe. »Deutschland blamiert«, jammerte die »Bild«. Und der britische »Economist« verwies darauf, dass Deutschland in der Vergangenheit aus »Selbstgefälligkeit« zu wenig investiert habe – in die Bundeswehr, in die notorisch verspätete Bahn und anderes. Damit reiht sich die Episode ein in die aktuelle Erzählung, Deutschland drohe die »Deindustrialisierung«. In der weltweiten Konkurrenz mit den USA und China könne es absehbar nicht mehr mithalten. Industrievertreter nehmen dies zum Anlass, der Bundesregierung ihre Wunschlisten vorzulegen: mehr Geld für die Unternehmen und mehr Arbeit für die Bevölkerung.

Die Warnung vor dem Niedergang des Industriestandortes ist ein wiederkehrendes Moment. In den 70er Jahren fürchtete man, die extrem gestiegenen Energiepreise würden das produzierende Gewerbe Deutschlands ruinieren. Anfang der 2000er wiederum galt die »Globalisierung« als Gefahr. »Bye-bye made in Germany«, titelte 2004 der »Spiegel« und schrieb: »Die Globalisierung erreicht eine neue Qualität: Sie bedroht die Basis der deutschen Wirtschaft – den industriellen Kern. Immer mehr Konzerne und Mittelständler verlagern Teile der Produktion ins Ausland. Lässt sich dieser Prozess noch stoppen?«

Hintergrund der Klage des »Spiegel« war, dass in den neunziger Jahren das deutsche Kapital in die osteuropäischen und asiatischen Billiglohnstandorte expandierte. »Kaum eine Woche vergeht, in der Unternehmen nicht ankündigen, Anlagen und Arbeitsplätze in Deutschland abzubauen und dorthin zu gehen, wo der Arbeiter ein bis zwei Euro pro Stunde kostet und nicht 27 bis 28 Euro«, schrieb das Magazin. »Das Land der Maschinenbauer und der Autohersteller, der Ingenieure, Mechaniker und Laboranten – es verliert allmählich seine industrielle Basis.«

Heute ist die Lage eine andere. Mit den hiesigen Lohnkosten scheinen Deutschlands Unternehmen ganz zufrieden zu sein. Geklagt wird eher über die teure Energie und über den Fachkräftemangel. Beides wiederum gilt als Bremse bei der Bewältigung der eigentlichen Aufgabe: den Wettlauf mit China und den USA um die Beherrschung der Zukunftstechnologien und -industrien zu gewinnen. In Sachen Digitalisierung liege Deutschland hoffnungslos hinter den USA, heißt es, und in Sachen E-Mobilität hinter China. Mit Milliardensubventionen bauen Washington und Peking Produktionskapazitäten für Batterien, Künstliche Intelligenz, Chips und Klimaschutztechnologien auf. Während also vor 20 Jahren sich das deutsche Kapital nach Osteuropa globalisierte und so seine Macht stärkte, gilt heute die industrielle Kapazität des Standortes an sich als gefährdet. »Wenn Deutschlands Autobranche verschwindet, täte sich ein riesiger ökonomischer Krater in der Mitte Europas auf«, zitiert der »Economist« Wolfgang Schröder vom Wissenschaftszentrum Berlin.

In der Umfrage »Elite-Panel« des Allensbach-Instituts stimmte zuletzt die Mehrheit der Topmanager und Unternehmer der These zu, Deutschland habe »seinen Zenit überschritten und seine besten Jahre hinter sich«. Die CDU fordert daher ein »Sofortprogramm für die Wirtschaft«, und die Ampel-Koalition hat ein »Wachstumschancengesetz« auf den Weg gebracht, vor allem Steuersenkungen für die Unternehmen.

Die Deindustrialisierungsklage erklingt allerdings von sehr hohem Niveau. Zwar wird darauf verwiesen, dass die deutsche Wirtschaft derzeit nicht mehr wächst und in den nächsten Jahren auch weniger zulegen wird als die in den USA, Frankreich oder Spanien. Allerdings war das deutsche Wachstum zwischen 2006 und 2017 auch höher als das der meisten Konkurrenten. Zudem ist die aktuelle Wachstumsschwäche vorübergehend – »jenseits des zyklischen Abschwungs sind die Aussichten für Deutschland nicht schlecht«, kommentiert die Berenberg Bank.

Und schließlich ist die aktuelle Wachstumsschwäche weniger einem allgemeinen Niedergang Deutschlands zuzuschreiben, sondern zum großen Teil seinen vergangenen Erfolgen: Während hier zulande der Anteil der industriellen Wertschöpfung an der Wirtschaftsleistung noch bei rund 20 Prozent liegt, ist er in den USA auf elf Prozent gesunken, in Frankreich und Großbritannien auf neun Prozent. »Außer Deutschland haben alle alten Industriemächte in den vergangenen 25 Jahren Marktanteile und Wettbewerbsvorteile an Asien verloren«, notiert die französische Bank Société Générale. Laut dem Index der ökonomischen Komplexität der Universität Harvard rangiert Deutschland weltweit an vierter Stelle hinter Japan, der Schweiz und Südkorea – die USA finden sich auf Platz 9, Frankreich auf Platz 17, dahinter folgt China. Als erfolgreiche Industrie- und Exportnation leidet Deutschland nun derzeit stärker als andere unter der schwachen Weltwirtschaft und den schrumpfenden Wachstumsraten Chinas.

Zwar besteht die Gefahr, dass die deutschen Unternehmen im Rennen um Zukunftstechnologien wie zum Beispiel Elektroautos zurückfallen. Noch aber ist Volkswagen weltgrößter Autobauer, wie auch Mercedes verzeichnete es zuletzt hohe Gewinne, die ihm Massen an Kapital einspielen, um im E-Auto-Rennen mitzuspielen. In den ersten sieben Monaten des laufenden Jahres hat Volkswagen bei den Erstzulassungen von Elektroautos in Deutschland den US-Konkurrenten Tesla wieder abgehängt.

Die Gefahr, vor der derzeit gewarnt wird, scheint daher weniger in einer Deindustrialisierung Deutschlands zu liegen, sondern darin, dass seine industrielle Führungsposition infrage steht. Jahrzehntelang haben deutsche Produkte den europäischen Markt »dominiert«, so das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft. Noch immer habe Deutschland »bei anspruchsvollen Industriegütern die Nase vorn«, aber »China holt rasant auf«, die deutschen »Vorsprünge sinken«. Die Stellung als weltweit führender Autoexporteur teilten sich in der Vergangenheit stets Japan und Deutschland, nun aber ist China vorn – was angesichts seiner ökonomischen Größe kein Wunder ist und was zum Teil an den westlichen Konzernen liegt, die in China produzieren und von dort exportieren.

Der Standort Deutschland sei immerhin noch »europäischer Durchschnitt«, so die Berenberg Bank – doch »Durchschnitt« ist zu wenig, wenn man die Konkurrenz schlagen will. In diesem Sinne kündigt auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen regelmäßig an, »wir wollen die Führenden bei klimafreundlichen Industrien, Technologien und Finanzierungen sein«, Europa müsse sich »einen Vorsprung verschaffen« und »eine Vorreiterrolle übernehmen«, um den Rest der Welt abzuhängen. Das ist kein defensives Programm.

Es geht um »Technologieführerschaft«, mahnt der deutsche Industrieverband BDI. Denn wer führt, macht das Geschäft – und nicht nur das. Der Aufbau der Industrie hat längst eine geopolitische Dimension. Ohne Führungsrolle, warnt von der Leyen, drohe »Abhängigkeit« vom Ausland, also Erpressbarkeit. Daher sei beispielsweise Europas Abhängigkeit von Hochleistungschips aus Asien »nicht nur eine Frage unserer Wettbewerbsfähigkeit. Es ist auch eine Frage der technologischen Souveränität.« Unabhängig vom Ausland will man insbesondere in der Militärtechnologie sein. »Das Ziel strategischer Autonomie verlangt, dass Schlüsseltechnologien und Produktionsfähigkeiten für die Landes- und Bündnisverteidigung von Europa weitgehend selbst bereitgestellt und gesteuert werden«, so der BDI, der andernfalls »die politische Überlebens- und Gestaltungsfähigkeit Europas« gefährdet sieht.

Politik und Wirtschaftsverbände gehen offensichtlich davon aus, dass der Weltmarkt vermehrt zum geopolitischen Schlachtfeld wird. Daher sollen Chip- und Batteriefabriken in der Heimat entstehen, also unter politische Kontrolle gebracht werden. Schrittweise aufgegeben wird damit die alte Strategie aus den Zeiten der »Globalisierung«, Produktionskapazitäten im billigeren Ausland aufzubauen, um so die Kosten zu drücken. Denn eigene Fabriken im Ausland sind lediglich Rechtsansprüche unter fremder Herrschaft. Darauf wies bereits 2008 der Schweizer Wirtschaftshistoriker Jörg Baumberger hin: »Rechtsansprüche lassen sich in eine Bilanz schreiben. Aber man kann sie nicht essen, mit ihnen nicht bauen, in ihnen nicht wohnen, mit ihnen nicht Krieg führen. Die Finanzgeschichte internationaler politischer Konflikte zeigt deutlich, dass in zwischenstaatlichen politisch-ökonomischen Interessenkollisionen nicht der Rechtsanspruch, sondern die physische Herrschaft ausschlaggebend ist. Die politische Macht beruht letztlich auf der Möglichkeit, physischer Herrschaftsausübung und nicht auf dem Umfang angesammelter Rechtsansprüche.«

Der Weltmarkt ist damit nicht mehr länger nur eine große Chance. Stattdessen gilt das Ausland zunehmend als Angreifer, gegen den man sich zur Wehr setzen muss. Angesichts der staatlichen Investitionsprogramme in den USA und China »darf Deutschland sich nicht an den Spielfeldrand drängen lassen«, warnte Wirtschaftsminister Robert Habeck. Und die Grünen-Parteichefin Ricarda Lang rief dazu auf, »das wirtschaftliche Fundament Deutschlands zu verteidigen«.

Die lohnabhängige Bevölkerung ist damit dazu aufgerufen, sich mit der heimischen Industrie zu solidarisieren. Schließlich fliehen die Unternehmen »in zunehmendem Maße aus Kostengründen« aus Deutschland, so der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer Achim Dercks, und die daraus folgende »Deindustrialisierung ist eine Tragödie für unser Land«, klagt der Bundesverband der Mittelständischen Wirtschaft.

Angesichts der Bedrohung aus dem Ausland, das »unsere« Unternehmen wahlweise lockt oder bedrängt, legen Industrievertreter nun ihre Wunschlisten vor: Der Standort Deutschland müsse mehr »Investitionsanreize« bieten, also höhere Renditen. Dafür sollen Steuern und bürokratischer Aufwand sinken, im Gegenzug soll die staatliche Förderung ausgebaut werden. Die lohnabhängige Bevölkerung hingegen wird darauf hingewiesen, dass angesichts gestiegener Lohnstückkosten in den vergangenen Jahren »die errungenen Vorteile bei der preislichen Wettbewerbsfähigkeit wieder verloren« gegangen sind, so die Commerzbank.

Vor allem aber fordert die deutsche Industrie mehr Arbeitskräfte. »Der Mangel an Personal ist das größte Risiko«, erklärt Industrielobbyist Christoph Schemionek dem »Handelsblatt«. »Die Unternehmen könnten noch mehr Geschäfte machen, müssen aber Aufträge ablehnen.« Die Deutschen sollen also länger arbeiten, später in Rente gehen, zudem will man mehr Fachkräfte aus dem Ausland holen, um das Arbeitsangebot zu erhöhen. Denn letztlich läuft die internationale Konkurrenz der Standorte über den Vergleich der Lohnstückkosten und der Arbeitsproduktivität.

Das weiß auch die US-Regierung: »Amerikas Arbeiter können im Wettbewerb jeden aus dem Feld schlagen, sie brauchen nur eine Regierung, die für sie kämpft«, so hatte US-Präsident Joe Biden im Wahlkampf für sich geworben und versprochen, dass »die Zukunft hier in Amerika gefertigt wird«. So behandelt auch der nach eigener Aussage »gewerkschaftsfreundlichste Präsident, den die USA je hatten«, seine lohnabhängigen Landsleute als nationale Ressource im Kampf um globale Dominanz.

Die Politik nimmt die Aufgabe an. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann sieht sich »an die späten 1990er Jahre erinnert« und fordert für Deutschland »ein Gesamtkonzept im Sinne einer Agenda 2030«. Es gehe darum, so Lindemann am Freitag, dass »Leistung sich wieder lohnt, dass Fördern und Fordern wieder stattfinden«. Obwohl die ökonomische Situation heute eine andere ist als Anfang der 2000er Jahre, wird daraus der gleiche Schluss gezogen wie damals: Die Deutschen sollen mehr arbeiten, sich mehr anstrengen – damit ihnen das Ausland nicht die Arbeitsplätze wegnimmt. Das Timing damals war bemerkenswert: 2001 sagte Bundeskanzler Gerhard Schröder in der Bild-Zeitung, »es gibt kein Recht auf Faulheit«. 2003 folgte die Agenda 2010. 2004 wurde vor der Deindustrialisierung Deutschlands gewarnt. Und Anfang 2005 trat Hartz IV in Kraft.

Erstveröffentlicht im nd
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1175635.deindustrialisierung-industriestandort-deutschland-in-not.html?sstr=Stephan|Kaufmann
Wir danken für das Abdruckrecht.

Diese Seite verwendet u. a. Cookies, um die Nutzerfreundlichkeit zu verbessern. Mit der weiteren Verwendung stimmst du dem zu.

Datenschutzerklärung