Inzwischen gibt es eine weit verzweigte Diskussion über die „Brandmauer“. Handelt es sich nicht eher um eine Gummiwand, bei der sich Diskurs und politische Praxis der regierenden Parteien der sogenannten Mitte immer weiter nach Rechts verschieben? Wird nicht gerade die wichtigste Lehre nach 1945 – „Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg! Das gehört zusammen!“ – von den herrschenden Parteien mit Füßen getreten? Das gilt auch für den Schwur, nie wieder einen militärisch-industriellen Komplex als ökonomische Basis für ein faschistisch imperialistisch agresssives Regime in Deutschland zu dulden. Die aktuelle Praxis, einen dominanten industriellen Hochrüstungskomplex mit finanziellen Mitteln ohne Limit aufzubauen, ist das Gegenteil. Kriegstüchtig ist mehr als Verteidigungsfähig. Extensiver Militarismus frisst sich in die gesamte Gesellschaft und geht mit Rechtsextremismus schwanger. Militarismus bedarf letztlich überzeichneter Feindbilder, nach außen, aber auch nach innen, bedarf der Sündenböcke, der Bereitschaft Gegner zu töten. Und vermeintliche „Verräter“ müssen ausgegrenzt bis schließlich physisch ausgemerzt werden. Karim Akerma hat jetzt einige der Kernbegriffe der „Zeitenwende“ unter die Lupe genommen. Seine Recherchen fördern Bedenkliches zu Tage. Wortschatz und damit Geist der Nazizeit miefen wieder – ganz Staatsräson und auch hochoffziell – durch unser Land. (Peter Vlatten)
„Kriegstüchtig wie nur je“? Von Zeitenwende, Kriegstüchtigkeit und Heimatschutz
Karim Akerma, 3. Mai 2025, Tabularasa
„Zeitenwende“ – dieses Wort brachte Olaf Scholz im Februar 2022 im Anschluss an die russische Invasion in die Ukraine in Umlauf. Das Wort klang unerhört fundamental. Wie etwas, das unweigerlich über uns kommt. Nach abgründiger Ahnung um die Tiefen des Seins. Nach Heidegger und Geschick, nicht nach Menschengemachtem.
Was hat es mit dieser ominösen Zeitenwende auf sich? Eine Konturierung des Begriffs lieferte Verteidigungsminister Boris Pistorius, als er sich anschickte, eine neue „Kriegstüchtigkeit“ zu verlangen: Am 29. Oktober 2023 sagte Pistorius in der ZDF-Sendung Berlin direkt:
„Wir brauchen einen Mentalitätswechsel. In der Truppe, da ist er in vollem Gange. (…) Wir müssen uns wieder an den Gedanken gewöhnen, dass die Gefahr eines Krieges in Europa drohen könnte, und das heißt, wir müssen kriegstüchtig werden, wir müssen wehrhaft sein und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen.
Mit dieser Aussage konkretisierte Pistorius den bis dato recht auslegungsoffen gebliebenen Befund seines Kanzlers. Jetzt zeichnete sich ab, dass es die „Kriegstüchtigkeit“ war, die im perspektivischen Fluchtpunkt der Zeitenwende lag. Dem mythischen Ei der Zeitenwende war etwas nicht minder Archaisches entschlüpft: der Wille zum Krieg.
Nun steht die Forderung nach „Kriegstüchtigkeit“ zum einen in eklatantem Widerspruch zum Friedensgebot des Grundgesetzes. Letzterem zufolge gab sich das deutsche Volk sein Grundgesetz, um
„… in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen …“
Zum anderen knüpft der Ruf nach „Kriegstüchtigkeit“ unmittelbar an einen ausgiebigen Wortgebrauch in der Zeit des Nationalsozialismus an, wodurch der Begriff für alle Zeiten naiver Verwendbarkeit entzogen worden war. In seinen digital ohne Weiteres zugänglichen Tagebüchern bedient sich Reichspropagandaminister Goebbels des Unwortes „Kriegstüchtigkeit“ über Jahre hinweg:
Mit Blick auf deutsche Soldaten, die sich in Kriegsgefangenschaft befinden notiert Goebbels:
„Man soll im Kriege nicht vom Frieden reden, (…) es liegt im Interesse unserer Gefangenen, dass wir den Krieg gewinnen und dafür tüchtig und innerlich abwehrbereit bleiben und nicht durch vorzeitige Sentiments die Kriegstüchtigkeit des deutschen Volkes vermindern.“
Man erinnere sich, dass Friedens-Aspirationen zu Beginn des Ukrainekriegs öfters mit der Bemerkung zurückgewiesen wurden, es sei jetzt nicht die Zeit, über Frieden zu reden.
Nachstehend konstatiert Goebbels, dass ein „Mentalitätswechsel“ zugunsten der Kriegstüchtigkeit längst abgeschlossen und konsolidiert sei. Den vollzogenen „Mentalitätswechsel“ nennt er „moralische Kriegstüchtigkeit“:
„Die moralische Kriegstüchtigkeit unseres Volkes an der Front und in der Heimat ist vollkommen unantastbar.“
Im Folgenden erläutert Goebbels, dass für vollumfängliche Kriegstüchtigkeit nicht allein die materielle Rüstung entscheidend ist, sondern eben auch die „Moral“ – dass Kriegstüchtigkeit immer auch eine Frage der „Mentalität“ ist:
„Neben dem Krieg der Waffen, der soeben in ein neues Stadium eingetreten ist, spielt sich ein erbitterter Krieg der Nerven ab. Er verdient mehr Beachtung, als ihm im allgemeinen geschenkt wird. Selbstverständlich können nur die Waffen die letzte Entscheidung bringen, aber dazu bedürfen sie einiger wichtiger Voraussetzungen, unter denen die Kriegstüchtigkeit der Moral von hervorragendster Bedeutung ist. Es wurde schon öfter darauf hingewiesen, daß wir den ersten Weltkrieg auf diesem Felde verloren haben, ein Beweis dafür, daß das Fehlen dieser Voraussetzung kriegsentscheidend sein kann.“
Goebbels sorgte sich nicht allein um die deutsche Kriegstüchtigkeit, sondern auch um diejenige der italienischen und japanischen Alliierten. Man müsse sich vergegenwärtigen, so Goebbels in seinem Tagebuch, „dass ein Wiederaufflammen der Luftoffensive gegen Italien die defaitistischen Strömungen im italienischen Volk wesentlich verschärfen und verstärken wird. Das italienische Volk ist nicht mehr als kriegstüchtig anzusprechen.“
Während Goebbels Italien bereits im August 1943 als kriegsuntüchtig abgeschrieben hatte, titelte das Nazi-Wochenblatt DAS REICH am 9. Juli 1944: „KRIEGSTÜCHTIG WIE NUR JE“. Unter dieser Überschrift findet sich ein Leitartikel von Joseph Goebbels namens „Der Krieg in der Sackgasse“.
Blieb die „Kriegstüchtigkeit“ unerreicht? Wenige Tage nach dem Anschlag auf Hitler am 20. Juli 1944 bemerkt Goebbels in einer Rede am 26.7.1944: „Ich verspreche dem deutschen Volke, nichts unversucht zu lassen, um in wenigen Wochen die Heimat in jeder Beziehung kriegstüchtig zu machen.“
Blieb die „Kriegstüchtigkeit“ unerreicht? Wenige Tage nach dem Anschlag auf Hitler am 20. Juli 1944 bemerkt Goebbels in einer Rede am 26.7.1944: „Ich verspreche dem deutschen Volke, nichts unversucht zu lassen, um in wenigen Wochen die Heimat in jeder Beziehung kriegstüchtig zu machen.“
Japan betreffend, den faschistischen Alliierten im fernen Osten, notiert Goebbels wohl zur Selbst-Beruhigung am 22. Januar 1945 im Tagebuch:
„Der japanische Reichstag ist zusammengetreten, um Reden des Ministerpräsidenten Koiso und des Außenministers Schigemitsu entgegenzunehmen. Diese Reden ergehen sich in allgemeinen Floskeln; aber sie sind verhältnismäßig kriegstüchtig.“
Unmittelbar vor der deutschen Niederlage findet sich in Goebbels Tagebucheintrag folgende Ausführung, die nicht etwa die unabweisliche Niederlage eingesteht, sondern allein die Kriegstüchtigkeit der deutschen Luftwaffe in Frage stellt:
„Es ist bezeichnend, dass in den Beratungen für den totalen Kriegseinsatz jetzt der Vorschlag gemacht wird, die gesamte Luftwaffe überhaupt abzuschaffen, und das, was von ihr an Kriegstüchtigkeit überhaupt noch übriggeblieben sei, auf die anderen Wehrmachtsteile zu übertragen.“
Der Befund, dass es sich bei „kriegstüchtig“ um einen durch die deutsche NS-Vergangenheit diskreditierten Begriff handelt, ist kaum von der Hand zu weisen. Dies wirft offene Fragen auf. Etwa: Wie ist es erklärlich, dass der deutsche Verteidigungsminister hartnäckig versucht, einem durch die Nazi-Vergangenheit unmöglich gewordenen Begriff von Untergang und Tod neues Leben einzuhauchen? Warum rückte er niemals von diesem Begriff ab? Weshalb hielt er selbst dann noch an diesem unsäglichen Begriff fest, als Kritik geäußert worden war? Pistorius verteidigte seinen ungeheuerlichen Wortgebrauch im Juni 2024 folgendermaßen: „Es ist notwendig, auch durch die richtigen Begriffe deutlich zu machen, worum es geht.“
Zeitenwende
Die wiedergeborene „Kriegstüchtigkeit“ erläuterte den mythischen Begriff der „Zeitenwende“. Auch dass Deutschland vor einer Zeitenwende stehe, hatte bereits Goebbels geraunt, als er sich am 24. Dezember 1942 in einer Rundfunkansprache an das deutsche Volk wandte: „Wir wissen, … dass wir an einer Wende der Zeit stehen …
„Zeitenwende“ und „Kriegstüchtigkeit“ sind durch die deutsche NS-Vergangenheit diskreditierte Begriffe. Es sind Unworte, von denen man annehmen durfte, dass sie mit dem Nationalsozialismus untergegangen waren. Insbesondere, dass sie jetzt in einem ähnlichen Verweisungszusammenhang wie in der NS-Zeit instrumentalisiert werden, ist skandalös. Und damit nicht genug: Fragen, die sich hinsichtlich Zeitenwende und Kriegstüchtigkeit stellen, müssen auch mit Blick auf den Begriff „Heimatschutz“ aufgeworfen werden.
Heimatschutz
Im aktuellen Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD steht geschrieben:
„Wir wollen die Reserve und den Heimatschutz weiter stärken …“
Nun war während der NS-Zeit der „Heimatschutz“ in der Slowakei eine der Waffen-SS unterstehende Organisation der deutschen Minderheit. Zeitweilig befehligte der Heimatschutz das KZ Sered. Ende September 1944 war der Heimatschutz in Bratislava an einer Razzia gegen Juden beteiligt. Und schließlich übernahmen im Oktober 1944 u.a. Angehörige des Heimatschutzes die Leitung einer sogenannten „Judensammelstelle“ in Bratislava.
Der Begriff Heimatschutz ist nicht nur durch die NS-Vergangenheit kontaminiert, sondern auch durch die jüngste deutsche Vergangenheit. So verkehrte der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) im „Thüringer Heimatschutz. – Laut Bundeszentrale für politische Bildung die militanteste Neonazi-Gruppierung Ostdeutschlands; so sprach sich die Partei „Der III. Weg“ für Heimatschutz aus; und schließlich benutzte auch die AfD– von der sich die Koalitionspartner doch distanzieren möchten – in ihrem Programm zur Bundestagswahl 2017 – an einer Stelle das Wort Heimatschutz. Die AfD verlangte bereits damals die Wiedereinführung der Wehrpflicht und notierte in ihrem Programm:
„Die allgemeine Wehrpflicht verwurzelt die Streitkräfte in der Gesellschaft. Dazu könnte der Wiederaufbau von Heimatschutzkräften oder ein Milizsystem nach Schweizer Vorbild mit kurzer Präsenzpflicht geeignet sein.“
Vielleicht weil es sich um einen diskreditierten Begriff handelt, gebrauchte die AfD den Begriff Heimatschutz 2017 nur an einer Stelle – und dann nicht wieder. Anders als der Koalitionsvertrag 2025, der hier keine Scheu an den Tag legt.
Die Verwendung eines derart belasteten Begriffes ist umso schäbiger, als man mit dem Koalitionsvertrag den Eindruck vermitteln möchte, alles nur Erdenkliche zum Schutz jüdischen Lebens in Deutschland zu tun: „Wir fördern die Vielfalt des jüdischen Lebens in Deutschland …“. Weit gefehlt, da man es nicht einmal für nötig hält, Worte aus einem Koalitionsvertrag und dem politischen Tagesgeschäft herauszuhalten, deren purer Klang einen halbwegs sensiblen Menschen schaudern lässt.
Bei alledem verfügt das Parlament über einen hervorragenden Recherche-Dienst – den Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestags. Eine souveräne Einrichtung wie der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags wird Anleihen beim Nazi-Vokabular kaum durchgehen lassen. Was die Frage umso lauter werden lässt, warum der schauderhafte Gesang von „Kriegstüchtigkeit“ und „Heimatschutz“ überhaupt ertönen konnte und gepflegt wird. Alles Nähere wird ein Untersuchungsausschuss des Bundestags zu klären haben – nicht zuletzt auch die Frage, ob ein Koalitionsvertrag Bestand haben kann, der Anleihen bei NS-Begrifflichkeiten macht.
Wir danken für das Publikationsrecht
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