Berlin – barrierefreie Mobilität verteidigen!

Mit einer Mobilitätsbeeinträchtigung selbstbestimmt, unkompliziert und flexibel mit den öffentlichen Verkehrsmitteln in Berlin unterwegs – das soll Ende des Jahres vorbei sein!
BVG Muva steht auf der Streichliste des Berliner Senats.

BVG Muva ist ein barrierefreier On-Demand-Service der Berliner Verkehrsbetriebe. BVG Muva stellt sicher, dass auch Menschen mit Mobilitätseinschränkungen verlässlich, flexibel und selbstbestimmt am öffentlichen Leben teilnehmen können – ganz im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention und des Berliner Mobilitätsgesetzes.

BVG Muva hat sich zu einem perfekten Service mit ca 1000 täglichen Buchungen entwickelt für alle, die sonst durch Barrieren vom öffentlichen Verkehr ausgeschlossen würden. Für Menschen im Rollstuhl und mit Rollator, fur Personen mit sichtbaren und unsichtbaren Behinderungen, für Ältere und Schwangere, für Erwachsene mit kleinen Kindern oder schwerem Gepäck.

Dass Inklusionstaxis eine Alternative seien, ist eine Täuschung. Die Barrierefreiheit ist ungenügend, es gibt zuwenige Taxis und keine Integration in den ÖPNV

Der Verein Landesverband Lebenshilfe Berlin e.V. schlägt Alarm und fordert

  1. Sofortige Verlängerung des Betriebsvertrags für den BVG Muva über den 31.12.2025 hinaus!
  2. Finanzielle Absicherung im Haushalt des Landes Berlin!
  3. Beteiligung der Zielgruppe an politischen Entscheidungen – nicht über, sondern mit den Betroffenen reden!
  4. Schrittweise Weiterentwicklung des Services mit Fokus auf Integration, Qualität und Nutzerfreundlichkeit – auch für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen!
  5. Verlässlichkeit und Planungssicherheit für Fahrgäste, Angehörige und für die Beschäftigten des BVG Muva! 

Inklusion darf nicht zur Verhandlungsmasse gemacht werden. Sie ist ein Versprechen der Gesellschaft an ihre Mitglieder – und das muss gehalten werden.

Die Berliner Politik des sozialen Kahlschlags macht vor nichts halt. Sie trifft vor allem auch hier wieder die Schwächsten in der Gesellschaft. Die Einschränkung der Mobilität ist angesichts einer alternden Gesellschaft doppelt schändlich. Die Schwächsten sozial ausgrenzen ist ein rechtes Programm. Dagegen kämpfen ist konkret Kampf gegen Rechts.

Es ist noch nicht lange her, da wurde auf einem Veteranentag Kriegsopfern mit bleibenden Gesundheitsschäden und körperlichen Behinderungen eine schöne heile Welt der Vollumsorgung vorgegaukelt.

Die soziale Realität sieht anders aus. Es sei denn wir wehren und solidarisieren uns.

Unterstützt die Petition für ein barrierefreies Berlin, für Inklusion, für Menschenrechte. Macht die Petition bekannt!

Titelbild: Collage Peter Vlatten

„Boomer-Soli“ und „Pflichtjahr für Rentner“

Hetze gegen Rentnerinnen und Rentner in Deutschland erreicht weitere Tiefpunkte!

Von Rainer Heyse

Bild: pixabay

Ihr seid schuld! Ihr habt zu wenig Nachwuchs gezeugt! Ihr habt zu hohe Ansprüche! Ihr beutet die Jungen aus! Ihr plündert den Staat! Ihr seid einfach zu teuer! Ihr seid unverschämt und egoistisch!

Und weil das alles so ist, sollt ihr endlich auch mal Opfer bringen. Es wird höchste Zeit.

Jeder Vorschlag zur Opfergabe wird von den Leitmedien begierig aufgenommen und verstärkt. Beispiele aus den letzten Monaten:

  • Streichung der Mütterrente? Gute Idee!
  • Halbierung der Rentenansprüche für Beiträge über dem Durchschnittseinkommen? Warum nicht!
  • Reduzierung der Witwenrente? Innovativ, weil es Frauen zum Arbeiten anregt!
  • Weniger Beiträge für die Renten, mehr Beiträge in Aktien anlegen? Gut für die Enkel!
  • Als Rentner weiter arbeiten? Jawohl, arbeiten macht schließlich Spaß!
  • Arbeitslosengeld I für Ältere von 24 auf 12 Monate senken? Das spart und ist gerecht!

Und jetzt ganz frisch aus der Kreativwerkstatt der Sozialstaatszertrümmerer:

  • „Abgabe für reiche Rentner – Warum der Boomer Soli überfällig ist“ (t-online, 18.07.25)
  • „Soziologe fordert ein Jahr Arbeitsdienst für Senioren“ (t-online, 20.07.25)

Der „Boomer-Soli“. Ausgerechnet vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) erarbeitet, das sich bis jetzt beim Sozialstaatsbashing zurückgehalten hatte. Was steht drin?

Kurz gesagt: Ab einem Freibetrag von 1.048 Euro sollen von Renteneinkommen weitere 10 Prozent abgezogen werden. Damit sollen dann irgendwie Minirenten aufgestockt werden.

Kurz bewertet: Eine nähere Befassung mit dem „Boomer-Soli“ lohnt sich nicht. Das Konzept ist viel zu komplex und würde allein durch unzählige Klagen verhindert werden (etwas genauer unten ausgeführt). Wichtig ist lediglich: Es ist ein weiterer Ballon, der die Nachricht trägt: Gerechtigkeit gibt es nur, wenn Rentner mehr abgeben!

Und dann kommt der nächste durchgeknallte Professor auf die Medienbühne und fordert einen Arbeitsdienst für Alte. Rentner hätten schließlich so viel Gutes von der Gesellschaft erhalten, dass sie zum Dankesdienst verpflichtet werden müssten. Das wären sie den Jungen mindestens schuldig (auch dazu weiter unten).

Erkenntnis aus all diesen Traktaten:

Liebe Rentnerinnen und Rentner begreift es doch endlich: ihr seid der letzte Dreck!

Und wer euch als letzten Dreck behandelt, bekommt garantiert Schlagzeilen und reichliche wohlmeinende Kommentierungen.

Es interessiert die Leitmedien und deren Nachahmer überhaupt nicht, was Wahrheit ist:

  • Die Renten, das Rentenniveau, befinden sich schon im tiefen Keller. Die reale Kaufkraft der Renten ist von 1990 bis 2023 um 12 Prozent gesunken. Im krassen Gegensatz dazu ist das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP), quasi der Reichtum im Land, um 55 Prozent gestiegen.
  • Das Rentenniveau wurde in dem Zeitraum bereits um 15 Prozent gekürzt. Mittlerweile befindet sich Deutschland in Sachen Renten auf Platz 17 von 22 EU-OECD-Staaten.
  • Die zunehmende Besteuerung der Renten reduziert die ausbezahlten Renten von Jahr zu Jahr immer stärker.
  • Der Beitragssatz zur Rentenversicherung beträgt 18,6 Prozent. Das ist nicht mehr als vor 40 Jahren. In dem Zeitraum ist der Anteil der über 65jährigen in Deutschland aber um 50 Prozent gestiegen.
  • Das Einzige, was zugenommen hat, ist die Altersarmut. Die hat in den vergangenen 20 Jahren um unerträgliche 80 Prozent zugenommen.

Keine Meldung, keine Sendeminute für diese tiefgreifenden gesellschaftlichen Tatbestände. Sie werden einfach verschwiegen.

Es ist auch keine Nachricht wert, was die deutsche Bevölkerung bezüglich Renten will und erwartet. Sehr große und stabile Mehrheiten haben in Umfragen seit vielen Jahren ergeben:

  • Das Renteneintrittsalter zu erhöhen, lehnen seit Jahrzehnten zwischen 80 und 90 Prozent der Befragten ab.
  • 80 Prozent sind für eine verbindliche soziale Sicherung, die staatlich organisiert ist.
  • 75 Prozent sagen „Ja“ zu höheren Beiträgen für eine gute Absicherung.
  • Über 50 Prozent der Befragten äußern: die Renten sollen mindestens 75 Prozent vom erzielten Netto-Lohneinkommen betragen.
  • 75 Prozent sind für eine gemeinsame Erwerbstätigen- bzw. Bürgerversicherung.
  • Über 50 Prozent sind für die Einführung einer echten Mindestrente von 1.327 Euro monatlich.

Vor sieben Jahren fragte das ZDF-Politbarometer, wie die Babyboomer-Renten finanziert werden sollten. Die Antworten:

  • 82 Prozent: Einbeziehung der Beamten und aller Selbstständigen in die gesetzliche Rentenversicherung.
  • 72 Prozent: eine Anhebung des Zuschusses durch Steuermittel.
  • 56 Prozent: keine Beitragserhöhungen.
  • 84 Prozent: Das Renteneintrittsalter nicht erhöhen.
  • 86 Prozent: Kein Absenken des Rentenniveaus.

Die Sendung war kaum ausgestrahlt, da verschwanden die Aussagen im Archiv. In der Folge kamen höchst bezahlte Professoren zu Wort, deren Unverschämtheiten noch durch gewissenlose Schauspieler verstärkt wurden. Jüngster Höhepunkt im Januar war die ZDF-Inszenierung, „Die Wahrheit über unsere Renten“.

Quintessenz aus dem deutschen Renten-Drama: Wer sich nicht wehrt, bekommt die Quittungen.

In Frankreich, Spanien oder Belgien würde die Hütte brennen, kämen dort Angriffe auf die Renten wie in Deutschland in die Öffentlichkeit. Auch die Jungen beteiligen sich dort an Protesten, die bis hin zu Generalstreiks gehen.

In Deutschland werden aufkommende Bewegungen, wie jüngst die um einen Inflationsausgleich für Renten, erfolgreich abgewürgt. Die Gewerkschafts- und Sozialverbandsvorstände spielen dabei eine unrühmliche Rolle. Die Unterstützungen auf regionaler Ebene sind Ausnahmen, die regelmäßig mit der Organisationsraison wieder eingefangen werden. Für die Verbände reicht es aus, den desaströsen Zustand des Sozialstaats nicht zu verschlimmern. Anschlussfähigkeit an die Politik der „großen“ Parteien, hier vor allem der SPD, ist dabei das oberste Gebot. Meinungsumfragen, wie jüngst das „Sozialstaatsradar 2025“, stören das politische Geschäft und werden weitgehend ignoriert.

Was ist zu tun? Die Millionen betroffenen Menschen mit ihren Interessen lassen sich nicht austauschen. Die Führungsfiguren schon. „Demokratie verteidigen“, die abgestandene Parole wird zum Gegenteil, wenn andauernd der deutlich geäußerte Wille von großen Mehrheiten verschwiegen und ignoriert wird. „Demokratie leben“ geht nur gegen die verkrusteten Machtstrukturen in Politik und Interessenverbänden. Unduldsamkeit, sich nicht durch salbungsvolle Worte einlullen lassen, Rechenschaft durchsetzen, Wahlen ernst nehmen, sind Stichworte. Vor allem einfordern: Über wichtige gesellschaftspolitische Fragen, wie zum Beispiel der Altersversorgung, müssen Volksabstimmungen durchgeführt werden – siehe auch das Grundgesetz, Artikel 20.

Die beiden jüngsten Renten-Säue sind nur mit Sarkasmus zu behandeln.

„Boomer-Soli“ – Ab einem Freibetrag von 1.048 Euro sollen alle weiteren Einkommen, die als Altersversorgung gelten (Renten, Betriebsrenten, Pensionen, Riester-Renten, …) mit einer 10prozentigen Sonderabgabe belastet werden. Diese neue Art einer Strafsteuer für besondere Bevölkerungsgruppen hat neben der verfassungswidrigen Unverschämtheit auch ein paar komische Seiten: Einerseits fängt der Renten-Reichtum bei unglaublichen 1.048 Euro an, andererseits sollen niedrige Renten von unter 1.564 Euro Zuschläge bekommen (es sind immer Brutto-Werte gemeint – zur Info: die Armutsgefährdungsschwelle beträgt aktuell netto 1.380 Euro). In der Einkommenszone zwischen 1.048 Euro und 1.564 Euro werden mir 10 % abgezogen, dafür bekomme ich dann etwas zurück (wann?). Das ist einfach absurd. Kapitaleinkünfte sollen ebenfalls Abzüge erfahren, wenn ein Haushaltsmitglied älter als 65 Jahre ist. Was soll damit provoziert werden? Gütertrennungen? Scheidungen?

Wer glaubt, dass Frau Klatten (BMW-Besitzerin) von ihren Dividendeneinnahmen von 1,2 Milliarden 120 Millionen Euro an Boomer-Soli abführen würde, kann gerne wieder die Existenz des Weihnachtsmannes in Erwägung ziehen.

„Pflichtdienst für Ältere“ fordert der 81jährige „Jugendforscher“ Klaus Hurrlemann und erhält dafür Titelzeilen im SPIEGEL und bei t-online. Die junge Generation habe bereits während der Corona-Pandemie Solidarität bewiesen. Jetzt seien die Alten dran, mit Arbeitsdiensten im sozialen Bereich oder zur Stärkung der Verteidigungsfähigkeit. Es dürfe nicht sein, dass Leute mit 65 oder gar 63 plötzlich nur noch Privat- und Urlaubsmenschen sind.

Herr Hurrlemann lebt auf einem anderen Planeten. Fragen an den Überflieger: Wäre es möglich, folgende Dinge auf das Pflichtjahr anzurechnen: Enkelkindbetreuung, bescheinigt durch Eltern oder Dankesschreiben von Firmen für vermiedenen Arbeitsausfall? Oder wenn an den Tafeln Stechuhren eingeführt werden, zwecks Arbeitsnachweises der Seniorinnen und Senioren? Oder Bescheinigungen von Kommunen, Vereinen und Schulen für ehrenamtlich geopferten Lebenszeiten? Oder Anerkennung für Betreuungsarbeit für Flüchtlinge? Oder ganz persönlich, hätte ich mit meiner 18-monatigen Wehrpflichtzeit zusammen mit dem Solidaritätsjahr vielleicht Aussicht auf das Bundesverdienstkreuz? Aber diese Fragen sind zu weit weg für den Soziologieprofessor und den fragenden Journalisten hatte wohl plötzliche Blutleere im Denkstübchen erfasst.

Reiner Heyse

Reiner Heyse, Nachrichteningenieur, war langjähriges Tarifkommissionsmitglied in der IG Metall und Betriebsrat in einem mittelgroßen Industriebetrieb in Kiel. Aktuell ist er einer der Sprecher der Initiative „RentenZukunft“ (vorher „Seniorenaufstand“) und Mitherausgeber der Blogs seniorenaufstand.de und Renten-zukunft.de
Mehr Beiträge von Reiner Heyse →

Erstveröffentlicht im Overton Magazin v. 25.7. 2025
https://overton-magazin.de/top-story/boomer-soli-und-pflichtjahr-fuer-rentner/

Wir danken für das Publikationsrecht.

Omas Haus im Visier

Von Eva Roth


Bild: Bearbeitetes You Tube Video

Wer ins Krankenhaus muss, zahlt die Behandlung nicht selbst, das übernimmt die Krankenversicherung. Wer pflegebedürftig ist, muss dagegen oft erhebliche Kosten selbst tragen, bei stationärer Pflege sind es im Schnitt 3100 Euro im Monat. Denn die Pflegeversicherung finanziert nur einen Teil der nötigen Hilfen. Viele alte Menschen geraten deshalb in finanzielle Not, auch ihre pflegenden Angehörigen sind besonders häufig armutsgefährdet und verzichten wegen der Zuzahlungen oft auf professionelle Unterstützung. Doch aus Sicht des Spitzenverbands der Arbeitgeber ist der soziale Schutz noch viel zu generös: Die Politik soll die Leistungen der sozialen Pflegeversicherung radikal kürzen, fordert die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Hilfebedürftige Menschen sollen notfalls auch ihr Haus beleihen oder verkaufen, um ihre Pflege bezahlen zu können. Die schwarz-rote Koalition hat zentrale Forderungen der Arbeitgeber bereits aufgegriffen und erwägt nun, finanzielle Hilfen komplett zu streichen.

Die schwarz-rote Koalition hat vereinbart, dass eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe Vorschläge für eine Pflegereform vorlegen soll. Im Juli hat die AG ihre Arbeit aufgenommen. Dies hat die BDA zum Anlass genommen, um ihre Forderungen in einem zwölfseitigen Papier vorzulegen. Übergreifendes Ziel der Arbeitgeber ist es, die gesamten Sozialversicherungsbeiträge, die Beschäftigte und Unternehmen zahlen, von aktuell knapp 42 Prozent auf unter 40 Prozent des Bruttolohns zu drücken. Auf dieses Niveau sollen sie dann dauerhaft begrenzt werden. Um das zu erreichen, verlangt der Spitzenverband der Unternehmen, in der Pflege die Hilfen für betagte Menschen drastisch zu kürzen. Vier Beispiele:

– Im ersten Jahr der Pflegebedürftigkeit soll die Pflegeversicherung »gestaffelt nach Pflegegraden noch keine Leistungen erbringen«, so die BDA. In dieser »Karenzzeit« sollen die Menschen ihre Pflege also selbst zahlen. Wer das nicht kann, könne eine Privatversicherung abschließen oder eben Sozialhilfe beantragen, so die BDA. Was mit der Staffelung gemeint ist, ob etwa besonders geschwächten Menschen die Hilfen weniger als ein Jahr verwehrt werden sollen, beantwortet die BDA auf Nachfrage nicht.

– Wer pflegebedürftig ist und zu Hause lebt, hat bislang Anspruch auf einen »Entlastungsbetrag« von 131 Euro im Monat. Bezahlt werden kann damit beispielsweise Hilfe im Haushalt, um Angehörige zu entlasten. Die BDA fordert, diesen Betrag zu streichen.

– Hilfebedürftige, die in einem Pflegeheim leben, müssen derzeit im Durchschnitt rund 3100 Euro pro Monat aus eigener Tasche bezahlen, darin enthalten sind rund 1580 Euro für die Pflege. Künftig sollen sie nach dem Willen der BDA noch höhere Kosten übernehmen: Der »Leistungszuschlag« der Pflegeversicherung soll auf Personen »konzentriert« werden, die seit mehr als zwei Jahren im Heim leben. Ob dieser Zuschuss in den ersten beiden Jahren ganz wegfallen oder gekürzt soll, sagt die BDA auf Nachfrage ebenfalls nicht. Derzeit beträgt der Zuschuss im zweiten Jahr im Schnitt 528 Euro im Monat.

– Ein »Nachhaltigkeitsfaktor« soll die Versicherungsleistungen begrenzen, wenn die Zahl der Pflegebedürftigen stärker steigt als die Zahl der Beitragszahlenden – was der Fall sein wird. Dies würde in jedem Fall zu starken Kürzungen führen, sagt der Gesundheitsökonom Heinz Rothgang von der Universität Bremen »nd.DieWoche«. Der wohl kenntnisreichste Pflege-Sachverständige nennt die BDA-Positionen darum einem »Frontalangriff« auf die Pflegeversicherung.

Schon jetzt sind ein Drittel der Pflegeheimbewohner*innen auf Sozialhilfe angewiesen. Sollte sich die BDA durchsetzen, würde ihre Zahl weiter steigen, betont Rothgang. »Die Pflegeversicherung ist eingeführt worden, um pflegebedingte Verarmung zu vermeiden – der BDA-Vorschlag bewirkt das genaue Gegenteil«, kritisiert er. Durch die Karenzzeit müssten überdies Angehörige noch mehr Pflegeleistungen erbringen, die Überforderung würde wachsen. Letztlich liefen die BDA-Forderungen darauf hinaus, dass sich die Politik bei der Pflege am angelsächsischen Sozialstaatsmodell orientiert, das nur das Existenzminimum der Betroffenen sichert.

Tatsächlich weist das Positionspapier in genau diese Richtung. So schreibt die BDA: Damit die Pflegeversicherung finanziell tragfähig bleibt, könne man erwarten, dass Pflegebedürftige zunächst ihr eigenes Einkommen und Vermögen verwenden, um die Pflege zu bezahlen. Erst nach einiger Zeit soll die Versicherung einspringen. Explizit verlangt wird, dass die betagten Menschen »ggf.« ihre Eigentumswohnung oder das eigene Haus beleihen oder verkaufen, um die Hilfen finanzieren zu können. Schließlich könnten sie sich ein Wohnrecht sichern, so die BDA. Ob das auch der Partnerin gewährt werden soll, wenn der Ehemann ins Heim muss, lässt sie offen.

Es geht auch anders

Die Pflegeversicherung ist für den Alltag vieler Menschen bedeutsam. So waren zuletzt in Deutschland 5,7 Millionen Personen pflegebedürftig. Bereits 2021 gab es laut einer Studie mehr als sieben Millionen pflegende Angehörige. Heute dürften es mehr sein. Zudem arbeiten fast 1,3 Millionen Beschäftigte in ambulanten Diensten und Pflegeheimen.

IDie Pflegeversicherung ist für den Alltag vieler Menschen bedeutsam. So waren zuletzt in Deutschland 5,7 Millionen Personen pflegebedürftig. Bereits 2021 gab es laut einer Studie mehr als sieben Millionen pflegende Angehörige. Heute dürften es mehr sein. Zudem arbeiten fast 1,3 Millionen Beschäftigte in ambulanten Diensten und Pflegeheimen.

In der politischen Debatte geht es meist darum, wie die Politik die Ausgaben der Pflegeversicherung begrenzen kann. Die wachsende Zahl betagter Menschen erscheint oft als Bedrohung. In den Hintergrund tritt die aus sozialer und humanitärer Sicht entscheidende Frage: Wie ist eine gute Pflege möglich, die den Belangen der gebrechlichen Menschen, ihrer Angehörigen und den Beschäftigten gerecht wird?

Und welche finanziellen Mittel sollen Pflegebedürftigen und ihren Partner*innen verbleiben? Eine indirekte Antwort darauf gibt ein Gutachten des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), auf das die BDA verweist. Darin wird abgeschätzt, wie viele Rentnerhaushalte die aktuellen Pflegekosten aus eigenem Einkommen und Vermögen bezahlen könnten, wenn ein Haushaltsmitglied in ein Pflegeheim kommt. Entscheidend sind die Annahmen: Die Studie geht in ihrem Szenario davon aus, dass die zu Hause lebende Person ein Einkommen knapp oberhalb der Sozialhilfe behalten darf. Den Heimbewohner*innen wird ein »Taschengeld« zugestanden. Alles andere soll für die Pflege zur Verfügung stehen. Zudem wird ein »Schonvermögen« von 10 000 Euro pro Person zugrunde gelegt, auch das orientiert sich an Sozialhilferegeln. Alle weiteren Vermögen sind in dem Modell ebenfalls für die Pflegekosten verfügbar. Die Autoren unterstellen dabei, dass auch das Eigenheim oder die Wohnung notfalls verkauft wird.

Das IW geht also in seinem Modell davon aus, dass dem Partner oder der Partnerin eines pflegebedürftigen Menschen nur so viel bleiben soll, dass er oder sie knapp über dem Sozialhilfeniveau liegt. Unter dieser Maßgabe hätten dem Gutachten zufolge im Jahr 2023 rund 71 Prozent aller Rentnerhaushalte die Kosten für die stationäre Pflege eines Haushaltsmitglieds für zwei Jahre bezahlen können. Dabei wurden die Beträge zugrunde gelegt, die Pflegebedürftige damals tatsächlich selbst bezahlen mussten. Die BDA nimmt dieses Ergebnis dann als Argument dafür, dass die Menschen noch mehr Kosten selbst tragen können.

Die BDA beruft sich also auf eine Modellrechnung, in der Pflegebedürftige und ihre Partner*innen zahlen sollen, bis sie verarmt sind und nur noch knapp über dem Existenzminimum liegen. Knapp darüber, weil laut Gutachten vermieden werden soll, dass die Menschen Sozialhilfe beanspruchen. Denn das würde den Staat wieder Geld kosten.

Kritik an »Schonung« von Einkommen

Bei alldem bemüht sich die BDA, Sozialschutz für betagte Menschen als unbotmäßig darzustellen. So kritisiert sie, dass der Leistungszuschlag der Pflegeversicherung für Heimbewohner*innen derzeit »überwiegend der Schonung des Einkommens und Vermögens der Betroffenen und damit des Erbes dient«. Diese Aussage ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert:

Erstens sprechen hier die Arbeitgeber, die ansonsten für eine Schonung – hoher – Einkommen und Vermögen eintreten: Sie sind gegen eine Vermögenssteuer, gegen eine höhere Besteuerung großer Erbschaften, für eine Abschaffung des Soli für Besserverdienende und für niedrigere Unternehmenssteuern. Große Einkünfte und Vermögen sollen geschützt werden, Omas Häuschen und Opas Rente nicht.

Experte spricht von »Frontalangriff« auf Pflegeversicherung. –

Zweitens greifen die Arbeitgeber damit ein Prinzip des deutschen Sozialstaats an: Er soll gerade kleine und mittlere Einkommen gegen soziale Risiken abzusichern, sie also zu »schonen«. Deutschland gelte als Prototyp eines »konservativen Wohlfahrtsstaats«, erläutert der Forscher Rothgang: Der Sozialstaat ziele auf eine Sicherung des Lebensstandards. Die gesellschaftliche Position, die Beschäftigte einmal erreicht haben, soll gegen Wechselfälle des Lebens abgesichert werden. Diese Idee haben Regierungen bereits in vielerlei Hinsicht abgeschwächt, sie spiegelt sich jedoch weiterhin in Sozialleistungen wider: Die Rente und das Arbeitslosengeld bemessen sich an der individuellen Lohnhöhe, die Krankenversicherung zahlt kostspielige Behandlungen und auch das Krankengeld ist lohnabhängig. Die Pflegeversicherung fällt schon heute etwas aus dem Rahmen, weil sie nur einen begrenzten Schutz gewährt. Doch selbst das ist der BDA zu viel.

»Ohne Not strikte Vorgaben gemacht«

Auch die schwarz-rote Koalition will »die seit Jahren steigende Ausgabendynamik« in der Pflegeversicherung stoppen, obwohl die Zahl der Hilfebedürftigen wächst. Das macht Leistungskürzungen wahrscheinlich. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe soll denn auch generell »Nachhaltigkeitsfaktoren« prüfen. Als ein Beispiel wird die ebenfalls von der BDA verlangte Karenzzeit genannt. Sollte die schwarz-rote Koalition diese tatsächlich beschließen, wäre es wohl das erste Mal seit Einführung der Pflegeversicherung vor 30 Jahren, dass Hilfen komplett gestrichen werden.

Schon jetzt hält die Koalition den Spardruck hoch. So hat die Regierung der Pflegeversicherung für dieses Jahr gerade einmal 0,5 Milliarden Euro gewährt – allerdings in Form eines Darlehens, das zurückgezahlt werden muss. Dabei ist unstrittig, dass der Bund der Pflegeversicherung noch Kosten erstatten muss, die während der Pandemie entstanden sind und nichts mit Pflege zu tun haben, betont Rothgang. Der GKV-Spitzenverband, der auch die Pflegekassen vertritt, beziffert den Betrag, den der Bund noch zahlen muss, auf 5,2 Milliarden Euro. Das ist für die Pflegeversicherung viel Geld: Insgesamt hat sie im vorigen Jahr 64 Milliarden Euro eingenommen. Der GKV-Spitzenverband fordert überdies, dass der Bund dauerhaft die Rentenversicherungsbeiträge für pflegende Angehörige zahlt, die sich zuletzt auf 4,5 Milliarden Euro pro Jahr summiert haben.

»Mit der Auflösung der Schuldenbremse hat sich die Regierung massiv Luft verschafft«, sagt der Volkswirt Rothgang. »Trotzdem hat das Finanzministerium der Pflegeversicherung ohne Not strikte Vorgaben gemacht – gerade hier, wo es brennt. Das hatte ich nicht erwartet.«

Für Rothgang sind die derzeitigen Leistungen der Pflegeversicherung eindeutig unzureichend. Die hohen Eigenbeträge bei stationärer Pflege sind dafür nur ein Beispiel. Wie es möglich wäre, dass die Pflegeversicherung sämtliche Kosten übernimmt und so den Menschen mehr Schutz bietet, hat er kürzlich in einer Studie berechnet (siehe Infobox). Sie zeigt: Es gibt Alternativen zu Kürzungen zulasten alter Menschen, die sich kaum wehren können.

Erstveröffentlicht im nd v. 24.7. 2025
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1192856.pflegeversicherung-omas-haus-im-visier.html

Wir danken für das Publikationsrecht.

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