Während die großen meinungsbildenden Medien noch trotz ausbleibender Erfolge der ukrainischen Armee keine wirkliche Krise der westlichen Strategie sehen wollen und mittlerweile eine Debatte um die Notwendigkeit der Atombewaffnung begonnen hat, machen sich die „Fakten“ ein wenig selbständig.
Für Ersteres steht etwas die folgende Meldung im Merkur von heute: „Die russische Armee erleidet nicht nur bei Awdijiwka verheerende Verluste und zeigt sich im zweiten Winter des Ukraine-Kriegs nach Einschätzung der Amerikaner erheblich geschwächt. … Die Amerikaner sind sich sicher: Wladimir Putins völkerrechtswidriger Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Streitkräfte Russlands enorm in Mitleidenschaft gezogen, während der Winter umso mehr an den militärischen Ressourcen Moskaus zehrt.“
Die junge Welt sieht hingegen eine ganz andere Entwicklung. So schreibt dort Reinhard Lauterbach im Artikel „Ukraine gräbt sich ein“: „Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij hat angeordnet, im Krieg mit Russland zur Defensive überzugehen. Entlang der ganzen Frontlinie sowie der Grenze zu Belarus sollen mehrere Linien von Befestigungen errichtet werden, um mögliche künftige russische Angriffe ebenso zum Scheitern zu bringen, wie die russischen Befestigungen und Minenfelder in der Südukraine die ukrainische Sommeroffensive gestoppt haben.“
Eine Antwort darauf, was hier eigenrtlich passiert gibt, Seymour Hersh auf seinem Blog:
„Es waren ein paar harte Monate für Präsident Joe Biden und sein unfähiges außenpolitisches Team. Israel geht in seinem Krieg gegen die Hamas mit erneuten Bombardierungen im Gazastreifen eigene Wege, und die amerikanische Öffentlichkeit ist bitter gespalten, was sich in den Umfragen widerspiegelt, die weiterhin ungünstig für das Weiße Haus ausfallen. In der Zwischenzeit wurden der Präsident und seine außenpolitischen Berater ebenfalls außen vor gelassen, da ernsthafte Friedensgespräche zwischen Russland und der Ukraine schnell an Dynamik gewonnen haben. Ein amerikanischer Geschäftsmann, der jahrelang in der Regierung mit hochrangigen ukrainischen diplomatischen und militärischen Fragen zu tun hatte, sagte mir Anfang der Woche: „Alle in Europa reden darüber“ – die Friedensgespräche. „Aber zwischen einem Waffenstillstand und einer Einigung gibt es noch viele Fragen“. Der erfahrene Journalist Anataol Lieven schrieb diese Woche, dass die Lage auf dem Schlachtfeld in der Ukraine und damit „ein Waffenstillstand und Verhandlungen über eine Friedensregelung für die Ukraine immer notwendiger werden.“ Angesichts der wiederholten Weigerung der ukrainischen Regierung unter Wolodymyr Zelenskij, mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zu verhandeln, sei es „außerordentlich schwierig“, Gesprächen zuzustimmen. Die treibende Kraft hinter diesen Gesprächen ist weder Washington noch Moskau, weder Biden noch Putin, sondern die beiden hochrangigen Generäle, die den Krieg führen, Valery Gerasimov aus Russland und Valery Zaluzhny aus der Ukraine.“ (Übersetzt mit DeepL)
Nicht nur westliche Einflussnahme, auch der sehr spezielle ukrainische Nationalismus steht trotz des offenkundigen Scheiterns der ukrainischen Gegenoffensive einer Waffenstillstands-Vereinbarung mit Russland im Weg. Ein Blick in seine Geschichte.
Von Richard Kallok
Das Foto oben wurde am 25.11. an einem provisorischen Mahnmal in der Berliner Strasse „Unter den Linden“ aufgenommen. Bild: Richard Kallok
Ein schöner Einstieg in die Wegmarken der ukrainischen Geschichte für alle, die nicht Slawistik studiert haben oder mit der osteuropäischen Geschichte eng vertraut sind. (Jochen Gester)
Nach dem ehemaligen Präsidentenberater Arestowytsch (Arestovich) und dem Oberbefehlshaber Saluschnyj (Saluschni) hatte zuletzt sogar der Fraktionsvorsitzende von Selenskijs „Diener“-Partei, Arakhmaia, zu erkennen gegeben, dass ein militärischer Sieg über Russland unrealistisch ist. Aber warum erscheint trotz des fortdauernden ökonomischen und demographischen Niedergangs der Ukraine ein Verzicht auf die militärische Rückeroberung verlorener Gebiete, durchaus bei Aufrechterhaltung eigener völkerrechtlicher Ansprüche, kaum durchsetzbar? Die Geschichte des ukrainischen Nationalismus liefert Erklärungen.
Eine historische Trägerschicht für eine Nationalstaatsidee, wie in Polen den Kleinadel oder in Westeuropa das früh entwickelte Bürgertum, hat es in der Ukraine bis ins 19. Jahrhundert nicht gegeben. Erst nachdem Zar Alexander II 1876 die öffentliche Nutzung der ukrainischen Sprache in seinem Herrschaftsgebiet verboten hatte, konzentrierte sich eine dünne Schicht volkskundlich und sozialkritisch orientierter Intellektueller und Kleriker ukrainischer Sprache in dem zu Österreich gehörenden Ost-Galizien. Der Kiew-Poltawa-Dialekt konnte sich zu einer ukrainischen Standardsprache entwickeln und die Idee eines ukrainischen Nationalstaats Verbreitung finden. Eine politische Organisierung des jungen ukrainischen Nationalismus fand 1900 mit der Gründung der Ukrainischen Nationaldemokratischen Partei statt.
Am Ende des 1. Weltkriegs und nach der Auflösung der Kaiserreiche Russlands und Österreich-Ungarns gab es mehrere Versuche einer ukrainischen Staatsgründung, von einem noch von der deutschen Reichswehr angeleiteten „Hetmanat“ bis hin zu einer vom Machthaber des wieder erstandenen Polens, Josef Pilsudski, unterstützten „Ukrainischen Volksrepublik“. Aber in den Wirren des russischen Bürgerkriegs und später des Krieges um Einflusszonen zwischen dem bolschewistischen Russland und Polen konnte sich kein ukrainisches Regime längerfristig halten. Als der sowjetisch-polnische Krieg 1921 mit dem Friedensvertrag von Riga und der Aufteilung des Gebiets der heutigen Ukraine endete, war klar, dass es unter den ab 1918 neu- oder wieder errichteten Staaten einen ukrainischen Staat nicht geben wird.
Bei den westlichen Siegermächten des 1. Weltkriegs hatte sich die ukrainische Nationalbewegung zuvor bereits durch Judenmassaker in der kurzen Volksrepublik-Zeit diskreditiert. Die Bevölkerung in dem für eine ukrainische Staatsgründung in Frage kommenden Raum galt zudem als amorph. Die Städte im Westen waren mehrheitlich polnisch-jüdisch, die Bevölkerung in der Zentralukraine vielfach russifiziert, die im Osten originär russisch. Im 14-Punkte-Programm von US-Präsident Wilson für eine europäische Nachkriegsordnung kam ein ukrainischer Staat nicht vor. Der Völkerbund sanktionierte 1923 die Aufteilung des Landes durch Polen und die Sowjetunion.
In der östlich des Flusses Zbrucz als Teil der Sowjetunion entstandenen Ukrainischen Sowjetrepublik blühten unter den Vorgaben der Leninschen Nationalitätenpolitik die ukrainische Sprache und Kultur auf. Mit der „Korenizacija“ (= Einwurzelung) sollte der Sowjetsozialismus in den klein-bäuerlichen Schichten wie in der ukrainisch-patriotischen Intelligenz verankert werden. Stalin setzte dem in den 30er Jahren ein Ende.
Bibel des ukrainischen Nationalismus
Die schon zuvor vor allem in der West-Ukraine verankerte ukrainische Nationalbewegung sah nach dem Trauma der gescheiterten Staatsgründung deshalb vor allem in der polnischen Republik ihren Hauptgegner. Polnische Feudalherren und noch mehr ihre jüdischen Verwalter und Steuereintreiber hatten über Jahrhunderte den Hass der ost-slawischen Bauern-Bevölkerung und der auf Selbstständigkeit bedachten Kosaken auf sich gezogen. Im neuen Polen konnten sich die Ukrainer zwar kulturell betätigen und politisch organisieren, so gab es ukrainische Schulen und eine ukrainische Partei saß im Warschauer Sejm. Aber Führungspositionen waren weitgehend von Polen besetzt.
Unter den Ukrainern verfestigte sich die Vorstellung, dass ihre Benachteiligung nur durch einen eigenen Staat in einem geschlossen-ukrainischen Siedlungsgebiet ein Ende finden würde. Die ukrainischen Nationalisten agierten dabei in den 20er Jahren in einem europäischen Umfeld, das vom Aufstieg autoritärer und faschistischer Regime und Bewegungen gekennzeichnet war. Das 1926 erschienene, eng an faschistische Ideologie angelehnte Buch „Nationalismus“ des Journalisten Dmytro Doncov wurde so zu einer Art Bibel des ukrainischen Nationalismus.
Doncov, dem heute in Kiew eine Gedenkplatte gewidmet ist, propagierte eine darwinistische Theorie vom unerbittlichen Existenzkampf der Völker. Nur die starken und entschlossenen Völker würden sich unter Anleitung eines Führers am Ende durchsetzen. Doncov, der aus der Ost-Ukraine stammte, formulierte den Anspruch der ukrainischen Nationalbewegung auf alle im zaristischen Russland mit dem Begriff „Ukraine“ in Verbindung gebrachten Gebiete als Teil eines zukünftigen ukrainischen Staates, unabhängig von der Sprache und den politischen Vorstellungen und Erwartungen der ansässigen Bevölkerung.
Beim Gründungskongress der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) 1929 in Wien wurde ein u. a. von Doncov entwickelter Dekalog zu den „10 Geboten“ des ukrainischen Nationalismus. In Punkt 1 forderte der Dekalog von jedem Nationalisten, erfolgreich eine unabhängige Ukraine zu erkämpfen oder im Kampf dafür zu sterben. Der Punkt 7 verlangte, „nicht vor dem größten Verbrechen zurück zu schrecken, wenn es die gute Sache erfordert“. Die Umsetzung in die Praxis stellten Anschläge auf polnische Amtsträger wie kooperationsbereite Ukrainer, „Verräter“, dar.
Der polnische Staat reagierte ab 1930 und insbesondere nach dem OUN-Attentat auf Innenminister Pieracki 1934 mit zunehmenden Repressionen gegen ukrainische Einrichtungen. Trotz oder wegen der Verfolgung konnte die OUN in den wirtschaftlich zurückgebliebenen Kernländern der West-Ukraine, Wolhynien und Ost-Galizien, aber erfolgreich gegen Polen und Juden agitieren. Ein ukrainischer Staat ohne „Fremde“ wurde zur Heilsbotschaft. Selbst in ukrainisch-polnisch gemischte Familien zog Misstrauen ein.
Nazi-Deutschland wurde Hoffnungsträger für die Nationalisten der Ukraine
Nach der Machtübernahme der NSDAP 1933 wurde Deutschland für die Nationalisten der Ukraine noch mehr als zuvor zum Hoffnungsträger. Nach der polnischen Kapitulation 1939 kam es schnell zu einer engen Kooperation zwischen den gerade aus polnischen Gefängnissen frei gekommenen ukrainischen Nationalisten unter Führung von Stepan Bandera und deutschen Stellen. Mit der Ausrufung der von Hitler unerwünschten „Unabhängigen Ukraine“ am 30.6.1941 in Lemberg erlitt diese Zusammenarbeit zwar eine kurzzeitige Eintrübung. Aber auch die Internierung Banderas als „Ehrenhäftling“ im Zellentrakt des KZ Sachsenhausen stand der Beteiligung der ukrainischen Hilfspolizei wie ukrainischer Untereinheiten von Wehrmacht und SS an Massenerschießungen von Juden nichts im Wege. Und als sich ein Teil der ukrainischen Kollaborateure dem direkten deutschen Einfluss durch die Gründung der „Ukrainischen Aufstandsarmee“ (UPA) entzog, folgten der Beseitigung der Juden 1943/44 grausame Massaker an ca. 80.000 polnischen Dorf-Bewohnern.
Die politischen Vorgaben Doncovs ziehen sich wie ein roter Faden durch die Aktionen von OUN und UPA. Eine „Ukraine, rein wie ein Glas Wasser“ sollte die Basis für einen neuen Staatsgründungs-Versuch nach dem Krieg sein. Bekanntlich kam es anders. Die Sowjetunion dehnte ihren direkten Machtbereich auf die westlichen Teile der heutigen Ukraine aus. Die UPA kämpfte nach 1945 in der Ukrainischen SSR wie im polnisch-slowakischen Karpaten-Grenzland weiter. Sie wurde zerschlagen. Die Ukrainer und die ruthenische Bergbevölkerung Polens wurden in die ehemals deutschen Gebiete umgesiedelt
Nach 1991: Ungewöhnlichen Polarität zwischen dem östlichen und dem westlichen Landesteil
In der 1991 entstandenen unabhängigen Ukraine knüpften die radikalen Nationalisten an die Vorstellungen der Zwischenkriegs- und Kriegszeit an. Der neue Staat war aber trotz partieller Bevölkerungs-Durchmischung in Folge der sowjetischen Industrialisierungspolitik von einer ungewöhnlichen Polarität zwischen dem östlichen und dem westlichen Landesteil geprägt. Diese gründete nicht nur in den unterschiedlichen Landessprachen, sondern auch im konträren politisch-historischen Selbstverständnis der jeweiligen Bewohner.
Mit der vom Westen unterstützten Präsidentschaft Juschtschenkos wurde ab 2005 bis zu dessen Abwahl 2010 das Geschichtsbild des radikalen Nationalismus zu einer Art staatlicher Historiografie. Bandera und der an Judenmassakern beteiligte stellvertretende Befehlshaber des Bataillons „Nachtigall“ und des SS-Schutzmannschafts-Bataillons 201, Roman Schuchewytsch, wurden zu Nationalhelden gekürt, obwohl sie außerhalb der westlichen Bezirke von vielen als Kriegsverbrecher gesehen wurden und werden.
Nach dem Machtwechsel 2014 bekam der Kampf der ukrainischen Nationalisten um eine „ethnisch reine“ Ukraine neue Intensität. Dem Russischen, das rund 40% der Gesamtbevölkerung als Umgangssprache nutzten und das im Osten und Süden vorherrschend war, wurde der Charakter einer Regionalsprache aberkannt. Ukrainisch wurde alleinige Amtssprache. Ein 2018 von der Kiewer Rada verabschiedetes Sprachengesetz regelte praktisch die Verdrängung des Russischen aus Medien und Schulen. Der radikale Nationalismus bestimmte den politischen Diskurs und ließ ein Klima der Angst entstehen. Bei der Abstimmung über die Umbenennung einer großen Straße in „Roman-Schuchewytsch-Prospekt“ gab es 2017 in der Kiewer Rada schon keine Gegenstimmen mehr, obwohl viele Bürger und Kommunalpolitiker gegen die Ehrung des Nazi-Kollaborateurs waren. Die Gegner der Umbenennung waren zu Hause geblieben oder enthielten sich.
Als Rückschlag mussten die inzwischen in vielen Parteien und Organisationen vertretenen radikalen Nationalisten die Präsidentenwahl 2019 empfinden. Mit 73,2% konnte sich der als „Versöhnungs-Präsident“ angetretene, jüdisch-stämmige Wolodymyr Selenskij in der Stichwahl gegen den nur in der West-Ukraine mehrheitlich unterstützten Amtsinhaber Poroschenko durchsetzen. Offenbar um dem Vorwurf mangelnder nationaler Zuverlässigkeit aufgrund seiner Abstammung zu entgehen, blieb Selenskyij nach seiner Wahl den radikalen Nationalisten aber nichts schuldig. Ehrerbietungen gegenüber den Grusel-Gestalten des ukrainischen Nationalismus in Form von Denkmälern, Straßen-Widmungen u. ä. häuften sich.
Nach dem russischen Angriff im Februar 2022 brachen für den radikalen Nationalismus alle Dämme. Ein ukrainischer Unterhändler bei den Verhandlungen mit Russland über eine Friedensregelung wurde im März 22 erschossen. Die Benutzung der russischen Sprache in der Öffentlichkeit wurde zum Verdachtsfall für Landesverrat. Selbst loyale Amtsträger wie der Bürgermeister von Charkiw, Terechow, und der Vize-Bürgermeister von Dnipro, Lysenko, wurden wegen Nutzung des Russischen im Kontakt mit ihren russisch-sprachigen Bürgern verklagt. Im Oktober 2022 erklärte der einflussreiche Chef des Sicherheitsrats, Danilov, kategorisch, dass „das Russische verschwinden muss“. Selenskij unterzeichnete im gleichen Monat ein Dekret, das jede Verhandlung mit Russlands Staatschef Putin unter Strafe stellt.
Im Westen gilt die nationalistische Radikalisierung derweil offenbar als Garantie für die Fortführung des Krieges. Die rücksichtslose Ukrainisierung des Landes wird gestützt. In der Regel nimmt man auch die positive Anknüpfung des ukrainischen Nationalismus an die Zeit der Kollaboration mit Nazi-Deutschland schweigend hin, wobei ausgerechnet deutsche Politiker durch ein hohes Maß an Geschichtsvergessenheit auffallen.
Heute steht fest: Die USA und Faschisten haben den Machtwechsel in Kiew herbeigeführt. Manche Medien nehmen es nicht zur Kenntnis.
Zehn Jahre nach dem Putsch und dem illegalen «Regime Change» in Kiew verbreiten viele Medien noch immer die Version der heutigen ukrainischen Regierung und der USA, es habe sich um eine «Revolution der Würde» gehandelt (in der BBC und auf Wikipedia «revolution of dignity»). Oder es sei einfach eine «proeuropäische Revolution» gewesen. Die Begriffe «proeuropäisch» und «Revolution» hängen dem gewaltsamen Putsch ein sympathisches Mäntelchen um.
Obwohl unterdessen die meisten Indizien dagegen sprechen, behauptete die ARD-Tagesschau zum zehnten Jahrestag am 21. November 2023: «Das damalige Regime gab den Schiessbefehl».
Dem Massaker fielen etwa hundert Menschen zum Opfer. Es führte zum Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten Janukowitsch. Die Erzählung einer schiesswütigen Regierung und einer spontanen Machtergreifung des Volkes entspricht schon lange nicht mehr den aufgearbeiteten Tatsachen. Drahtzieher des Machtwechsels waren vielmehr die USA und proeuropäische ukrainische Oligarchen. Beide stützten sich während der entscheidenden Tage auf faschistische Kampfgruppen.
Wer diese Tatsachen ausspricht, muss sich mancherorts noch heute den Vorwurf gefallen lassen, er sei ein «Putin-Versteher».
Der Putsch und was darauffolgte, rechtfertigt in keiner Weise den russischen Überfall auf die Ukraine. Doch man kann feststellen, dass es ohne den Putsch vielleicht nicht zum Krieg gekommen wäre.
Wer daran zweifelt, dass der «Regime Change» von langer Hand vorbereitet wurde, kann sich mit folgenden Zeugenaussagen und Fakten auseinandersetzen. Es sind wenige Auszüge aus Patrik Baabs Buch «Auf beiden Seiten der Front»*. Der frühere ARD-Korrespondent recherchierte – wie kein anderer westlicher Journalist – auf beiden Seiten der Front. Eine Nähe zum Regime in Russland kann man Baab nicht unterschieben, hatte er doch in der ARD mit Reportagen und Recherchen immer wieder kritisch über Russland informiert.
Zwischentitel von der Redaktion
Nicht der ganze Maidan war gekauft
Die Empörung darüber, dass der damalige Präsident Wiktor Janukowitsch das ausgehandelte EU-Assoziierungs-Abkommen nicht unterzeichnen wollte, war echt. Über ein Jahr lang hatte die Regierung den Menschen erklärt, dass Europa die einzige Perspektive sei, und plötzlich wurde diese Vision zunichtegemacht. Die Wut über Korruption und wirtschaftlichen Niedergang trieb viele proeuropäische Ukrainer auf den Maidan. Sie richtete sich insbesondere gegen die Familie Janukowitsch, deren masslose Bereicherung zum Ansehensverlust des Präsidenten und der hinter ihm stehenden Donbas-Oligarchen beigetragen hatte.
Die geplante EU-Assoziation war brisant, weil der Vertrag wichtige Bestimmungen zur Verteidigungs- und Aussenpolitik enthielt. Gleichzeitig liefen geheime Verhandlungen über einen Transatlantischen Freihandelsvertrag.1 Die Priorität lag darin, die Ukraine in den westlichen Einflussbereich zu integrieren und gleichzeitig die Eigentumsrechte der Oligarchen zu festigen.2 Auf dem Maidan trafen also die Interessen westlich orientierter Oligarchen sowie die der EU und der USA in eine Richtung zusammen.
[Red. Laut einem Bericht in der Kyivpost war die ukrainische Bevölkerung Anfang Februar 2014 völlig gespalten bezüglich der Maidan-Proteste: 45 Prozent waren für deren Forderungen, 48 Prozent dagegen.]
US-Botschaft schulte Aktivisten
Die USA, die EU und die NATO hatten längst Sorge getragen, um die Levée en masse bei der Hinwendung zum Westen zu unterstützen. Spätestens seit Anfang März 2013 hatte die US-Botschaft in Kiew Aktivisten darin geschult, wie man Social Media zur Vorbereitung von Massendemonstrationen nutzen kann.
Am 20. November 2013 enthüllte Oleh Zarjow, ein föderalistisches Mitglied des Parlaments, er habe Informationen darüber, dass «mit Unterstützung und direkter Beteiligung der US-Botschaft in Kiew das Projekt eines ‹TechCamps› betrieben» werde:
«Bei diesen Treffen werden Vorbereitungen für einen Bürgerkrieg in der Ukraine getroffen. Das ‹TechCamp› bereitet Spezialisten vor auf Informationskriegführung und Diskreditierung der staatlichen Institutionen durch den Einsatz moderner Medien. Potenzielle Revolutionäre sollen organisiert werden, um Proteste zu organisieren und die Regierung zu stürzen. Dieses Projekt wird derzeit unter der Verantwortung von US-Botschafter Geoffrey R. Pyatt betreut.»3 Siehe auch hier.
Oleh Zarjow sparte nicht mit Details. Föderalistische Aktivisten hätten sich verdeckt Zugang zu dem Projekt verschafft, bei dem ihnen US-Instruktoren erklärten, wie das Internet und Social Media genutzt werden könnten, um die öffentliche Meinung zu manipulieren, Proteste zu organisieren und gewalttätige Unruhen auszulösen. Insgesamt seien quer durch die Ukraine bislang fünf ‹TechCamps› durchgeführt worden. Die etwa 300 ausgebildeten Aktivisten seien nun überall in der Ukraine aktiv: «Die letzte Konferenz fand am 14. November 2013 in der US-Botschaft in Kiew statt.»4
Start des Euromaidan
Der Euromaidan begann in der Nacht des 21. November 2013. Rund 2000 Demonstranten hatten sich über die Social Media organisiert. Die fünf Milliarden Dollar, die Victoria Nuland (7’40″) zufolge in der Ukraine investiert wurden, begannen sich auszuzahlen.
Der heute im Moskauer Exil lebende ukrainische Journalist Dmitrij Wasilez hat diese Vorgänge beobachtet. Er arbeitete jahrelang als Reporter für den ukrainischen «Kanal-17», war Gewerkschafter und Vorsitzender des Medienrats des Informationsministeriums, wo er sich gegen den Versuch der Regierung [Janukowitsch] wehrte, die Presse stärker an die Kandare zu nehmen. Seine Erlebnisse auf dem Maidan beschreibt er so:
«Ich habe auf dem Maidan Leute interviewt. Sie bestätigten mir, dass sie einer Nichtregierungsorganisation angehören und fürs Demonstrieren bezahlt werden. Sie sagten: ‹Wir sind auf den Maidan gekommen, bleiben zwei Wochen, dann werden wir ausgetauscht, nach zwei weiteren Wochen kommen wir wieder zu den Protesten.› Die wichtigste Aufgabe dieser Leute war, den Maidan in den Social Media zu präsentieren, damit der Eindruck entsteht, die Demonstranten verträten das gesamte ukrainische Volk. Aber faktisch waren es Mitarbeiter von NGOs, die vom Westen und von westlichen Botschaften bezahlt wurden, bis hin zu den Schreibtischtätern, die Bilder von den Protesten posteten. Wie auf Befehl waren alle NGOs, die in der Ukraine mit dem Geld aus den USA und anderen Ländern finanziert worden waren, nach Kiew gekommen. Später zeigte sich, dass es nicht hunderte, sondern tausende solcher Organisationen gab. Jede bestand aus jungen Leuten, jede hatte Mitarbeiter, die in einer militärisch straffen Rotation auf dem Maidan zwei Wochen lebten und dann ausgetauscht wurden. Ihre Hauptaufgabe war, von früh bis spät auf dem Maidan zu sein. Damals schon hat vieles darauf hingedeutet: Dies ist kein Volksaufstand, sondern das Volk wurde benutzt. Das war gut orchestriert von Oligarchen.»5
Nicht nur finanzielle, auch persönliche politische Einmischungen
Zunächst tarnte sich der Staatsstreich als Happening. Als Cheerleader erschienen auf dem Maidan westliche Politiker wie Victoria Nuland, damals Abteilungsleiterin im US-Aussenministerium, der deutsche Aussenminister Guido Westerwelle, die damalige Sprecherin der Grünen für Osteuropa-Politik Marieluise Beck, US-Senator John McCain und die EU-Aussenbeauftragte Catherine Ashton. Sie feuerten die Demonstranten an und sendeten so ein Signal westlicher Beteiligung und Unterstützung.
Man stelle sich vor, der russische Aussenminister Sergei Lawrow wäre in Paris erschienen und hätte die Gelbwesten-Proteste angefeuert. Anders als in Kiew hätte dies zu massiven Reaktionen westlicher Regierungen geführt.337 Auf dem Maidan dagegen konnten westliche Politiker unter den Augen der Regierung die Proteste anheizen. Der scheidende EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso rief die Demonstranten auf, «den Mut zu haben, aufzustehen und zu kämpfen».6 Vier Jahre später sollte Barroso zum Vorsitzenden des Aufsichtsrates von Goldman Sachs International ernannt werden.
Eskalation der Gewalt
Ein unbedachtes und brutales Vorgehen der Sicherheitskräfte führte mehrfach zu Eskalationen. Als Reaktion auf das Vorgehen der Berkut, einer Aufstandsbekämpfungseinheit der Polizei, begannen antirussische Extremisten bewaffnete Gruppen zu bilden, die ihrerseits Angriffe auf die Polizei verübten.7
Doch der zentrale Anlass für das Umschlagen der Proteste in Gewalt kam aus der Politik. Am 16. Januar 2014 verabschiedete das Parlament scharfe Anti-Demonstrations-Gesetze, die drakonische Strafen für «Unruhestifter» vorsahen. Sie wühlten die Stimmung unter den Protestierenden zusätzlich auf und sorgten für weitere gewaltsame Konfrontationen mit der Polizei.
In der Nacht vom 19. auf den 20. Januar kam es zu gewalttätigen Zusammenstössen, die eine explosive Lage schufen. Am 22. Januar wurde der erste Demonstrant getötet. Nun verwandelte sich die Protestbewegung in eine Revolution.
Rechtsextreme übernehmen das Zepter
Den weiteren Verlauf bestimmten zunehmend rechtsextreme Gruppen. Sie stellten das Rückgrat der militanten Hundertschaften dar, die Ende November 2013 gebildet wurden. Täglich wurden mehrere Hundert bewaffnete Ultranationalisten aus den Regionen Lwiw, Wolyn und Ternopil nach Kiew gebracht.8
Ab Januar gingen die Rechtsextremen in die Offensive und griffen die Polizei mit Metallstangen, Baseballschlägern und Molotowcocktails an. Aus den geplünderten Militär- und Polizeidepots im Westen, vor allem in Lwiw, Ternopil und Iwano-Frankiwsk, stammten «massive Mengen an Waffen, die später bei den Zusammenstössen mit der Polizei in Kiew zum Einsatz kamen». Das berichtete der ukrainische Soziologe Wolodymyr Ischtschenko.9 [Er arbeitet heute auch für das Osteuropa-Institut in Berlin.]
Der entscheidende Wendepunkt
Am 14. Februar 2014 entliess die Regierung10 verhaftete Demonstranten und schlug eine Amnestie für alle kriminellen Übergriffe während der Revolte vor. Doch es war zu spät. Vier Tage später, am 18. Februar, warfen Rechtsextreme während eines Marsches auf der Institutskaja-Strasse Molotowcocktails auf Polizeieinheiten. Sie setzten die Zentrale der Partei der Regionen in Brand und töteten einen Mitarbeiter.
Von nun an war die Anwesenheit bewaffneter Faschisten Bestandteil der Proteste. An diesem Tag wurden 1200 zusätzliche Waffen, darunter Kalaschnikow-Sturmgewehre, von den Aufständischen in Lwiw erbeutet und ein Grossteil davon nach Kiew gebracht. Dies war der entscheidende Wendepunkt, an dem der Aufstand eine paramilitärische Form annahm und sich in einen Staatsstreich verwandelte.11 Dass auch viele Neofaschisten aus EU-Ländern auf den Maidan strömten, störte westliche Politiker nicht.348 Aus einer zivilen Protestbewegung war ein bewaffneter Kampf geworden.
Anführer der Selbstverteidigungskomitees, bekannt als «Kommandant», war der Rechtsextremist Andrij Parubij, einer der Gründer von Swoboda. Als die Nacht hereinbrach, waren bereits 28 Menschen erschossen worden, darunter zehn Bereitschaftspolizisten. Der Schusswinkel führte zur Philharmonie, wo Parubij das Kommando hatte. Zwei Tage später eskalierte die Gewalt dramatisch. Mindestens 39 Demonstranten und 17 Polizisten wurden von Heckenschützen ermordet. Ihre Basis hatten sie im Hotel Ukraina und in anderen Gebäuden, die unter der Kontrolle von Parubijs Hundertschaften standen.
Im Gegensatz zur westlichen Version, der zufolge das Feuer von der Polizei eröffnet worden sei, kommt auch der kanadisch-ukrainische Politikwissenschaftler Iwan Katschanowski in einer detaillierten Analyse zu dem Ergebnis, dass «das Massaker eine Operation unter falscher Flagge war, die wohlüberlegt, geplant und ausgeführt wurde mit dem Ziel, die Regierung zu stürzen und die Macht zu übernehmen». [Red. Siehe auch «Neue Belege»] Katschanowskis Untersuchung nennt «eine Reihe von Beweisen für die Einbindung einer Allianz rechtsextremer Organisationen, speziell des Rechten Sektors und von Swoboda, sowie oligarchischer Parteien wie Vaterland. Versteckte Schützen und ihre Spotter wurden in mindestens 20 vom Maidan kontrollierten Gebäuden beziehungsweise Bereichen festgestellt».12
Polizisten waren die falschen Angeklagten
Im Juli 2015 brach die Anklage gegen zwei Berkut-Polizisten [der gestürzen Regierung], sie hätten am 20. Februar 2014 39 Demonstranten getötet, in sich zusammen. Zeugen sagten aus, dass die Schüsse nicht aus Positionen der Berkut abgefeuert wurden, sondern aus Gebäuden, die von der Opposition besetzt waren. Das Kaliber stimmte mit deren Waffen überein.
Doch diese Zeugenaussagen vor Gericht schienen die westliche Presse nicht zu interessieren.13
Während dieser Zeit standen die militanten Kräfte kontinuierlich in Kontakt mit Vertretern der EU und den USA. Bevor sie im Hotel Ukraina auf dem Maidan Position bezogen, trafen sich drei georgische Scharfschützen unter anderem mit einem ehemaligen US-Soldaten in der Uniform der 101. Airborne Division der US Army namens Brian Christopher Boyenger, der als Instrukteur mitwirkte. Gleichzeitig hatte US-Botschafter Geoffrey Pyatt ständigen Kontakt mit dem Rechtsextremisten Andrij Parubij, der von Boyenger wusste. Deshalb war auch der US-Botschafter sehr wahrscheinlich informiert.
Der kanadische Menschenrechtsanwalt Christopher Black sieht darin den Beleg, dass die Maidan-Massaker eine militärische Operation waren, an der auch Kräfte beteiligt waren, die der NATO nahestehen, und dass sie von US- und NATO-Kräften geplant und organisiert wurden.14
Auch Dmitrij Wasilez hat diese Vorgänge beobachtet. Er urteilt kurz und bündig:
«Auf dem Maidan haben wir einen Staatsstreich, einen militärisch durchgeführten Putsch erlebt. Im Zentrum von Kiew wurden viele Menschen erschossen. Die Nationalisten haben Regierungsvertreter verfolgt. Für mich ist klar, wer auf dem Maidan geschossen hat. Es sind jene, die nachher die Macht ergriffen haben: Parasjuk, Jazenjuk, Turtschinow, Poroschenko. Diese Gruppen waren direkt verbunden mit westlichen Organisationen und Geheimdiensten. Ich habe gesehen, dass bei diesem Staatsstreich Leute an die Macht kamen, denen es nicht um die Souveränität der Ukraine ging, sondern darum, noch Befehle aus Übersee auszuführen.»
[Red. Der ukrainische Oppositionelle und Journalist Dmitri Wasilez wurde 2015 verhaftet und 2017 zu neun Jahren Haft verurteilt. Das ukrainische Gericht warf ihm «Separatismus» sowie die Gründung des Sender Noworossija TV vor.]
Verhandlungen, um Janukowitsch zu beruhigen?
In der Nacht vom 20. auf den 21. Februar 2014 verhandelten die Aussenminister von Deutschland, Polen und Frankreich, Frank-Walter Steinmeier, Radosław Sikorski und Laurent Fabius, in Kiew mit Janukowitsch über einen Deal, um eine weitere Eskalation zu verhindern. Die Vereinbarung sah einen sofortigen Waffenstillstand, eine Untersuchung der Gewalttaten und einen Gewaltverzicht aller Seiten vor.
Doch gleichzeitig arrangierten US-Diplomaten die tatsächliche Machtübernahme. Mit dabei war auch die Vertreterin des US-Aussenministeriums Victoria Nuland, die in ständiger Verbindung mit dem NATO-Oberbefehlshaber General Philip Breedlove stand.
Auch die deutsche Seite war eingebunden: Ihr Botschafter in Kiew, Christof Weil, der auch jahrelang bei der NATO in Brüssel gearbeitet hatte, leitete ein Treffen, an dem US-Botschafter Pyatt, weitere NATO-Diplomaten und Andrij Parubij, Kopf der Maidan-Ultras und Kommandeur ihres 12’000 Mann starken bewaffneten Arms, teilnahmen. Parubij erschien im Kampfanzug mit Sturmhaube und drohte mit weiterer Eskalation, «wenn die westlichen Regierungen keine entschiedenen Aktionen gegen Janukowitsch unternehmen».15
Das war keine leere Drohung. Auf dem Maidan drohte einer seiner Staffelführer und Kommandeur einer Heckenschützeneinheit, Wolodymyr Parasjuk, vor einer wütenden Menge mit gewaltsamen Schritten, wenn Janukowitsch nicht bis Samstag, dem 22. Februar, zurücktrete. Dmytro Jarosch vom Rechten Sektor las eine Liste von Waffen vor, mit der man dieser Forderung Nachdruck verleihen könne.
Das alles schien Teil einer Doppelstrategie zu sein: Die einen wickeln Janukowitsch ein, die anderen wetzen die Messer.
Im Ergebnis wurden 5000 Berkut-Polizisten der Regierung und weitere Spezialkräfte aus der Stadt hinaus eskortiert. Die Aufständischen übernahmen die Kontrolle in Kiew und im Parlament.16 Am Abend des 21. Februar floh Janukowitsch per Hubschrauber nach Charkiw. Allerdings hatte der russische Geheimdienst erfahren, dass ukrainische Ultras unterwegs waren, um ihn zu ermorden. Daher setzte er seine Flucht nach Russland fort. In Rostow rief er Moskau dazu auf, einzugreifen und seine Macht wiederherzustellen.
Dies wäre der ideale Zeitpunkt für Putin gewesen, um [legitim] einzumarschieren und die Ukraine unter seine Kontrolle zu bringen – falls Putin je diese Absicht gehabt hätte. Nichts dergleichen geschah. Damit wurde, so die US-Journalistin Diana Johnstone, der Maidan zu einem «perfekt ausgeführten Regime Change»:
«Die Massen an Demonstranten lieferten die ‹demokratische› Rechtfertigung für den Sturz einer gewählten Regierung, während die mysteriösen Heckenschützen für den notwendigen Nebel der Verwirrung sorgten, damit ein nicht verfassungsmässiger Staatsstreich stattfinden konnte.»17
Keine der politischen Gruppen, die an der Maidan-Revolte beteiligt waren, hatte einen stabilen Rückhalt in der Bevölkerung – ausser der rechtsextremen Swoboda in der Westukraine.18
Brüssel und Washington erkannten die neue Regierung sofort an. Unter Aufsicht bewaffneter Kräfte wurde Arsenij Jazenjuk, der den Segen der USA hatte, zum Ministerpräsidenten ernannt.
Professor Nicolai Petro über den 19. und 20. Januar 2014 auf dem Maidan
Kaum ein Nicht-Ukrainer kennt die Ukraine und Russland auch aus eigener Anschauung so gut wie Nicolai Petro, Professor an der US-University Rhode Island. Aus seinem 2023 erschienen Buch «The Tragedy of Ukraine» (S. 87-89, 96):
«Am 19. Januar wurden die regionalen Verwaltungen in mehreren westlichen Regionen des Landes von rechten, dem Maidan treuen Gruppen übernommen. Diese Aktion bezeichnete Maidan-Kommandant Andrij Parubij später als koordinierten Versuch, das Regime zu stürzen. Die Waffenlager mehrerer Polizeistationen wurden geplündert und der Inhalt an die Demonstranten auf dem Maidan verteilt […] Im Nachhinein haben wir den Einfluss der extremen Rechten, die nicht nur das bisherige politische Establishment, sondern das gesamte politische System hinwegfegen wollte, grob unterschätzt […]
Aber zu diesem Zeitpunkt waren bereits fast hundert Menschen bei einer weiteren Schiesserei getötet worden. Die Schüsse kamen, wie sich jetzt herausstellte, aus Gebäuden, die von den Maidan-Truppen kontrolliert wurden.
Zwei Tage später verzichtete ein demoralisierter Janukowitsch auf seine präsidialen Vollmachten und stimmte vorgezogenen Präsidentschaftswahlen zu […]
Über Nacht wurden die Partei der Regionen und alle Parteien der linken Mitte für illegal erklärt und damit die Hälfte der Wählerschaft des Landes ihrer Rechte beraubt. Die neue Ad-hoc-Regierung wurde bewusst mit Westukrainern besetzt, welche die Idee einer ‹Regierung der nationalen Einheit› ablehnten.
Der Maidan 2014 war ein Wendepunkt in der ukrainischen Politik, ein Moment, in dem sich die nationale Politik von einem Streben nach Konsens zu einem Streben nach expliziter politischer und kultureller Dominanz der Westukraine wandelte. Das erklärt, warum so viele Kleinrussland-Ukrainer den Maidan damals als Staatsstreich ansahen.
Schon bald wurden die Ukrainer Zeugen zahlreicher Gewalttaten bewaffneter nationalistischer Milizen, die sich offen über die Justiz, die Strafverfolgungsbehörden, den Präsidenten und das Parlament hinwegsetzten […]
Heute scheint es, dass die Eskalation der Gewalt auf dem Maidan von Swoboda und dem Rechten Sektor koordiniert wurde, die gemeinsam ‹als Einheitsfront› agierten.»
Faschisten mit Einfluss in der neuen Regierung
Bei der Etablierung der neuen Regierung wurden die Regeln der Verfassung mehrfach verletzt. Die vorgesehene Dreiviertelmehrheit für ein Amtsenthebungsverfahren wurde nicht erreicht. Von den 21 Mitgliedern des neuen Kabinetts kamen lediglich zwei aus dem Süden und Osten der Ukraine. Dadurch war der russisch-ukrainische Teil des Landes faktisch nicht mehr repräsentiert. Die neofaschistische Swoboda, die nur acht Prozent der Parlamentssitze besass, stellte fünf der 21 Kabinettsangehörigen sowie fünf Gouverneure, die ein Fünftel des Landes abdeckten.
Rechtsextreme Minister
Stellvertretender Ministerpräsident wurde der Neofaschist Oleksandr Sych. Andrij Parubij, Mitbegründer der faschistischen SNPU und Anführer des bewaffneten Aufstands, der am 20. Februar die Machtübernahme mit den US- und NATO-Botschaftern ausgehandelt hatte, wurde zum Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungskomitees ernannt und war somit für die Aufsicht über das Verteidigungsministerium, die Streitkräfte, die Strafverfolgungsbehörden und die Geheimdienste verantwortlich. Arsen Awakow wurde Innenminister und Kommandeur der Freiwilligenmilizen, die aus den Selbstverteidigungseinheiten des Maidan rekrutiert wurden. Er war als Verwalter in der Region Charkiw berüchtigt worden, weil er gegen seine Gegner Hooligans einsetzte.
US-orientierte Oligarchen gehörten zu den Gewinnern
Unter den Oligarchen waren vor allem die US-orientierten Ihor Kolomojsky, Petro Poroschenko und Wiktor Pintschuk die Gewinner. Auch Achmetow hatte Janukowitsch im entscheidenden Moment die Unterstützung entzogen. Dmytro Firtasch wurde Mitte März ausgeschaltet, als er in Wien aufgrund eines US-Auslieferungsbegehrens verhaftet wurde.
Kolomojsky wurde nach dem Putsch zum Gouverneur von Dnipropetrowsk ernannt, und die Schlüsselministerien für Finanzen und Energie wurden mit seinen Vertrauten besetzt. Sie richteten ihre Politik an den Forderungen des IWF aus, kürzten Renten, schafften das Kindergeld ab und entliessen Beamte.19
«Diese Proteste waren gekauft»
Denis Simonenko ist Schriftsteller und verdient sein Geld als Journalist beim Sender «Sebastopol 1 TV» auf der Krim. Er erinnert sich an jene bitterkalten Wintermonate in Kiew:
«Freunde von mir haben geglaubt, dass auf dem Maidan ein Volksaufstand stattfindet, und sind nach Kiew gefahren. Dort machte sich Ernüchterung breit. Denn sie haben erlebt, dass ihnen Geld angeboten wurde, dass unter den Demonstranten Thermo-Unterwäsche verteilt wurde, Winterkleidung, dicke Socken, Schuhe mit Heizplatten, damit sie nicht frieren. Das hat eine Menge Geld gekostet. Es wurde meinen Freunden sofort klar, dass dies von amerikanischen Stiftungen finanziert wurde. Das haben alle begriffen, die auf dem Maidan waren. Sie haben erlebt, dass nur eine kleine Gruppe zum Umsturz aufgerufen hat. Die meisten kamen aus der westlichen Ukraine. Diese Westukrainer aus Lwiw waren sehr aggressiv. Von anderen Regionen waren nur wenige Demonstranten auf dem Maidan. Diese Proteste waren gekauft. Meine Freunde haben als klardenkende Menschen sofort begriffen, von wem und wofür das organisiert wurde. Es richtete sich gegen Russland, und man liess sich das Ganze richtig viel Geld kosten.»20
Eine «Revolution der Würde»?
_________________ FUSSNOTEN
1 van der Pijl, Kees: Der Abschuss. Flug MH17, die Ukraine und der neue Kalte Krieg, Kön: PapyRossa 2018, S. 150-153 2 Sakwa, Richard: Frontline Ukraine: Crisis in the Borderlands, London u. New York: I.B. Tauris 2016, S. 11; 57 3 «…a ‹TechCamp› project i under way in which preparations are beeing made for a civil war in Ukraine. The ‹TechCamp› projects prepares specialists for information warfare and for the discreditijg of state institutions (the Government) using modern media – potential revolutionaries for organizing protests and the toppling of the government.» Zitiert n. Zuesse Eric: New Video Evicence of America’s Coup in Ukraine – and what it means. In: Washington’ Blog vom 8. Februar 2015 https://rinf.com/alt-news/newswire/new-video-evidence-americas-coup-ukraine-means/ (abgerufen am 24.7.2023) 4 Zit. n. Zuesse, Eric: New Video Evidence of America’s Coop in Ukraine – and what it means. In: Washington’s Blog vom 8. Februar 2015. 5 Interview Dmitrij Wasilez am 2. Oktober 2022 in Moskau 6 van deer Pijl, Kees: Der Abschuss. Flug MH17, die Ukraine und der neue Kalte Krieg, Kön: PapyRossa 2018, S. 172 7 Kudelia, Serhiy: The Donbas Rift. In: Russian Politics and Law Nr. 54 vom 13. Jumi 2026, S. 7.und Ishchenko, Volodymyr: Far right participation in the Ukrainian Maidan protest: an attempt of systematic estimation. In: European Politics and Society. London: Routledge 2016 S. 459. (abgerufen am 24.7.2023) 8 Sakwa, Richard: Frontline Ukraine, Crisis in the Borderlands, London u. New York: I.B. Tauris 2016, S. 83. Und Kudelia, Serhiy: The Donbas Rift. In: Russian Politics and Law Nr. 54 vom 13. Juni 2016, S. 7 9 Ishchenko, Volodymyr: Far right participation in the Ukrainian Maidan protests: an attempt of systematic estimation. In: European Politics and Society. London: Routledge 2016 S. 459. Und Ishchenko, Volodymyr: Ukraine’s Fractures. In: New Left Review Nr. 87 vom Mai/Juni 2014. Und Hahn, Gordon: The Ukrainian Revolutions’s Neo-Fascist Problem. In: Fair Observer vom 23. September 2014. 10 Interview Dmitrij Wasilez am 2. Oktober 2022 in Moskau 11 Katchanovski, Ivan: The Separatist War in Donbas: A Violent Break-up of Ukraine? In; European Politics and Society vom 16, März 2016, S. 478. Und Ishchenko, Volodymyr: Far right participation in the Ukrainian Maidan protests: an attempt of systematic estimation. In: European Politics and Society. London; Routledge 2016, S. 460. Und Higgins, Andrew u. Kramer, Andrew E.: Urkaine Leadeer was defeated even before he was ousted. In: The New York Times vom 3. Januar 2015. Und Hahn, Gordon: The Ukrainian Revolution’s Neo-Fascist Problem. In: Fair Observer vom 23. September 2014. 12 Katchanovski, Ivan: The «Snipers Massacre» on the Maidan in Ukraine. Paper, American Political Science Association annual meeting, San Francisco, 3.-6. September 2015: «This academic investigation concludes that the massacre was a faals flag operation, which was rationally planned and carrried out with a goal of the overthrow of the government and seizure of power. It found various evidence of the involvement of an alliance of the far righet organizations, specifically the Right Sector and Svoboda, and Oligarchic parties, such as Fatherland, concealed shooters and spotters were located in at least 20 Maidan-controlled buildings or areas.» Nach Veröffentlichung dieser Untersuchung wurde das Haus von Katchanovski in der Ukraine enteignet. 13 Katchanovski, Ivan: The Maidan massacre in Ukraine: revelations from trials and investigations. In MR online vom 11. Dezember 2021. Und Hahn Gordon: The Ukrainian Revolutions’s Neo-Fascist Problem. In Fair Observer vom 23. September 2014. 14 Black, Christopher: The Maidan Massacre: US Army Orders: Sow Chaos. In: New Eatern Outlook vom 15. Dezember 2017: «The massacre at Maidan, therefore, is revealed to be a carefully planned military operation organized in detail, with teams of snipers brought in from various NATO allied countries, unknown to each other, but organized on arrival, given orders and assignments and each sniper team beeing assigned spotters to help n their deadly work. This is a tactic military sniper teams use so it has to be assumed that each of the sniper teams was controlled by the same people as the team the Italians (journalists) talked to, that is by American soldiers trained in these techniques and who themselves operate in teams. This operation therefore had to be planned and organized on a high level by American forces and allied NATO governments.» 15 Zit, nach Higgins, Andrew u. Kramer, Andrew E.: Ukraine Leader was defeated even bevore he was ousted In: The New York Times vom 3. Januar 2015. Siehe auch van der Pijl, Kees: Der Abschuss. Flug MH17, die Ukraine und der neue Kalte Krieg. Köln: PapyRossa 2018, S. 143. 16 Higgins, Andrew u. Kamer Andrew E.: Ukraine Leader was defeated even before he was ousted. In: The New York Times vom 3. Januar 2015. Und Ishchenko, Volodymyr: Ukraine’s Fractures. In: New Left Review Nr. 87 vom Mai/Juni 2014. Und van der Pijl, Kees: Der Abschuss. Flug MH17, die Ukraine und der neue Kalte Krieg, Kön: PapyRossa 2018, S. 175-177. 17 Johnstone, Diana: Queen of Chaos. The Misadventures of Hillary Clinton. Petrol CA: Counter Punch 2015, S. 154. 18 Ishchenko, Volodymyr: Far right participation in the Ukrainian Maidan protests: an attempt of systematic estimation. In: European Politics and Society. London: Routledge 2016, S. 469. 19 Matuszak, Volodymyr: The Oligarchic Democracy. The Influence of business Groups on Ukrainian Politics, OSW Studies Nr. 42, Warsaw. 20 Interview Denis Simonen am 30. September 2022 in Simferopol.