Diskurs „Die LINKE der ZUKUNFT“

Ein Richtungsstreit tobt bei den Linken. Mit seinen 15 Thesen hat Mario Candeias einen Nerv getroffen. Im Blog der Rosa-Luxemburg-Stiftung ist eine Strategiediskussion entbrannt. Es lohnt sich, diesen Diskurs genauer anzuschauen.

(Foto: Jerry Segraves (en:User:Jsegraves99), Public domain, via Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Blackbird-sunset-03.jpg)

Als Außenstehende weiß ich nicht so recht, was los ist bei der Partei die Linke, nur dass es in den eigenen Reihen brodelt und die Wählergunst bedenklich zurückgeht. Der Vorstand scheint mit einem nicht geringen Teil der Mitgliedschaft über Kreuz zu liegen. Die Verunsicherung wirkt ein auf alle linken Bewegungen, auch außerhalb des Parteiprojektes.

Auf die Rezeptionen der gängigen Medien über die Krise der Linken ist kein Verlass, zugunsten reißerischer Akzente wird zumeist ja an Tiefe gespart und das Kapital schreit angesichts der Spaltungen „gebt ihnen Saures“.

Umso mehr fragt man sich immer wieder: Gibt es noch Hoffnung? Kann die Partei Die Linke und die gesellschaftliche Linke überhaupt wieder an Stärke gewinnen? Was muss passieren?

Mit seinen 15 Thesen zur Zukunft der Linken hat Mario Candeias einen Nerv getroffen. Das zeigt vor allem die Resonanz, die sein Beitrag, eine strategische Analyse und Prognose, in kurzer Zeit auslöste. Seit dem Erscheinen im Juli 2023 im Blog der Rosa-Luxemburg-Stiftung ist eine spannende und lesenswerte Strategiediskussion entbrannt – mit Gegenentwürfen von Ines Schwerdtner, Andreas Fisahn und Samuel Decker.

Der Diskurs ist Balsam für den Intellekt.

Alle Texte eint, dass sie sich an Candeiras Voraussage reiben, der der (gesellschaftlichen) Linken ein ganzes Jahrzehnt des Stillstands prophezeit. Gleichwohl stehen sie mit ihren fundierten Analysen in Kontrast zu dem, was aus der Partei selbst kommt.

Wir dokumentieren und kommentieren die bisher erschienenen Beiträge hier für Euch, ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Jeder mag sich ein eigenes Bild machen und diskutieren ist ausdrücklich erwünscht.

„Wir leben in keiner offenen Situation mehr“ von Mario Candeias

15 Thesen zum Ende des Interregnums und warum es gerade jetzt einen Neustart der LINKEN braucht

von Mario Candeias, 21. Juli 2023

Zitiert von: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/wir-leben-in-keiner-offenen-situation-mehr/

Der Text in Auszügen (Thesen bitte aufklappen):

These 1 – Wir leben in keiner offenen gesellschaftlichen Situation mehr …

…Die Entwicklungspfade sind umkämpft, aber viele Alternativen bereits verunmöglicht und Wege verschlossen. (…)

These 2 – Es bildet sich ein hegemonialer Entwicklungspfad heraus, …

… der unterschiedliche Ausprägungen eines grünen Kapitalismus umfasst (Varieties of Green Capitalism). (…)

These 3 – Diese Entwicklung wird überlagert von einer neuen Blockkonfrontation…

… Sie ordnet sich weniger entlang der Linie Demokratie vs. Autoritarismus, sondern ist geprägt von der harten Konkurrenz um die globale Führung in der neuen Entwicklungsperiode hin zu einem hochtechnologischen und aufgerüsteten grünen Kapitalismus. (…)

These 4 – Dieses hegemoniale Projekt der unterschiedlichen Formen eines grünen Kapitalismus wird bereits jetzt herausgefordert:…

… von der Konvergenz eines radikalisierten Konservatismus mit der radikalen Rechten und von einer aggressiven Verteidigung der fossilistischen Lebensweise, die harte Kulturkämpfe auf allen Ebenen einschließt. Sie bergen ein großes Destruktionspotenzial. (…)

These 5 – Die verschärfte Polarisierung im Inneren sowie die neue globale Blockkonfrontation führen …

… in dieser Entwicklungsperiode zu einem deutlich höheren Niveau an gesellschaftlicher und zwischenstaatlicher Gewalt. Zugleich bildet die ökologische Modernisierung zwar das Herz der ökonomischen Transformation und Akkumulation, sie erfolgt aber nur mit kapitalistischen, also wachstumsorientierten Formen und sie kommt viel zu spät. (…)

These 6 – Für viele Länder des globalen Südens, die über wichtige Rohstoffreserven verfügen und/oder …

… von der Klimakrise stark betroffen sein werden, bringen die kommenden Krisen und Katastrophen externe Schocks und innere Zerfallsprozesse mit sich. Die alten kapitalistischen Zentren stellen sich darauf ein. (…) Die Zonen der Unsicherheit müssen nicht unbedingt kontrolliert, können vielmehr eingehegt werden. Es entsteht eine Art »gated capitalism« – auch ohne funktionierende Gemeinwesen in den Zonen der Unsicherheit. (…)

These 7 – Katastrophen werden auch in den kapitalistischen Zentren zu heftigen Transformationskonflikten führen. …

… Zu den Katastrophen zählen Wetterereignisse wie Überschwemmungen oder Dürren, Probleme der Ernährungssouveränität, ökonomische und soziale Krisen durch langfristige Preissteigerungen aufgrund von beschränkten Ressourcen, der Abriss und die Neuordnung von Lieferketten, die Internalisierung ökologischer Kosten in die Preise für Lebensmittel und Konsumgüter, die Kapitalvernichtung bei fossilistischen Industrien und viele weitere Entwicklungen. (…)

These 8 – Viele spüren in diesen Zeiten multipler Krisen und kommender Katastrophen eine Überforderung, …

… die ihre eigene und eine gemeinsame Handlungsfähigkeit gefährdet. Viele haben das Gefühl, dass alles anders werden muss, die Dringlichkeit ist fast überwältigend. Und doch geht kaum etwas voran. (…)

Die Tatsache, dass es immer schwieriger wird, sich zu arrangieren, erzeugt aber auch ein Potenzial des Widerstands. Dieses kann aber nur gehoben und organisiert werden, wenn es gelingt, mögliche realisierbare Schritte mit politischem Gestaltungswillen und einer Perspektive des Systemwechsels überzeugend zu verbinden. (…)

These 9 – Was bedeutet all das für die gesellschaftliche Linke? …

… Sie wird nicht untergehen, aber sie wird für mindestens ein Jahrzehnt oder länger eine defensive Position einnehmen und kaum Gestaltungsraum haben. (…)

Die Krise der parteipolitischen Linken kann in Deutschland, wie schon in Italien zuvor, zu ihrer praktischen Vernichtung führen. Dies gilt es mit möglichst vielen Kräften zu verhindern, notfalls auch durch klare Profilbildung, die Trennungen in Kauf nimmt. (…)

These 10 – In der krisenhaften Übergangsphase der letzten eineinhalb Jahrzehnte sind neue gesellschaftliche Konflikt- und Spaltungslinien entstanden, …

… die quer durch alle Parteien gehen und seit 2011 zu einer permanenten Umordnung des Parteiensystems geführt haben. (…)

Ursächlich für die Krise der Partei war auch, dass politische Konfliktlinien und Widersprüche sich mit Fragen innerparteilicher Macht und dem Kampf um Ämter und Posten verwickelten. Das erklärt zum Teil, weshalb viele der Konflikte in den letzten Jahren mit solcher Heftigkeit ausgetragen wurden. (…)

These 11 – Die gesellschaftliche Marginalisierung der Linken wird angesichts von sehr beschränkten Mitteln …

… zur Förderung des sozialen Zusammenhalts, angesichts von zunehmenden Gewaltverhältnissen und einem Leben mit der Katastrophe zur Überlebensfrage. (…)

Es braucht Organisationen, in denen es möglich ist, Veränderung selbst in die Hand zu nehmen, oft im Kleinen, aber mit Blick auf das Ganze. Solidaritätsinitiativen können wichtige Ausgangspunkte dafür sein. (…)

Es ist die Hoffnung auf und die Arbeit an einem erneuerten Sozialismus. Denn die Hegemonie der Herrschenden ist nie vollständig und die inneren Widersprüche des Kapitals und des Blocks an der Macht brechen immer wieder auf. (…)

These 12 – Linke Defensive bedeutet entsprechend nicht, dass nicht fortwährend gesellschaftliche Auseinandersetzungen stattfänden. …

… Gesellschaftliche Widersprüche werden auch in einer neuen Periode nicht stillgestellt. Das insgesamt höhere Niveau von Krisen und Katastrophen bildet vielmehr die Grundlage dafür, dass aus kleinen generischen Krisen schnell größere werden können und Kämpfe sich verdichten. (…)

Zentral wäre dabei, nicht passiv auf solche Momente zu hoffen, sondern aktiv und gemeinsam mit Bündnispartner*innen herausgehobene gesellschaftlich produktive Konflikte zu erzeugen, die einen klaren Gegner benennen. (…)

These 13 – Eine neue Hegemonie schafft neue Bedingungen für ein neues Projekt von links. …

… So führte erst die Verallgemeinerung des Neoliberalismus durch sozialdemokratische Regierungen (in Deutschland unter Rot-Grün) dazu, dass oppositionelle gesellschaftliche Gruppen sich entscheiden mussten und entweder in den Machtblock aufstiegen oder eben draußen blieben. (…)

Es wächst der Druck zur Konvergenz links-sozial-ökologischer, links-gewerkschaftlicher, sozialistischer, feministischer und radikaler Kräfte, die unter der neuen Hegemonie keine Repräsentation oder zu wenige Bündnispartner*innen finden, um wirksam zu sein. (…)

These 14 – Für eine solche Konvergenz gibt es aber leider keinen Automatismus. …

… Bestehende Organisationen sollten nicht leichtfertig auf Spiel gesetzt werden – was wiederum kein Argument gegen die Erneuerung einer bestehenden Organisation sein sollte. (…)

Nach innen braucht es eine programmatische Erneuerung und ein Signal des Aufbruchs in den Themenfeldern Frieden, sozial-ökologischer Systemwechsel und Infrastruktursozialismus, Arbeit und Ökonomie der Zukunft. (…)

Ihr höchstes Potenzial hat die LINKE weiter bei Haushalten mit einem niedrigen Einkommen. Es sind diese Gruppen, welche – anders als häufig suggeriert – die dezidiert sozial-ökologischen Forderungen der Partei am stärksten befürworten. Bekanntermaßen gehen diese Wählergruppen aber besonders häufig nicht zur Wahl. Hier braucht es also eine überzeugende Nichtwähler-Strategie.

These 15 – Zu bedenken wären bereits jetzt Wege zu einer disruptiven Neugründung der LINKEN aus dem strategischen Zentrum der Partei heraus. …

… Das wäre der umgekehrte Weg von #aufstehen, vergleichbar eher mit Momentum in UK: Es geht darum, eine Struktur für Aktive, Gewerkschafter*innen und zivilgesellschaftliche Organisationen zu schaffen, die nicht Teil der Partei sein wollen (oder können) und sich dennoch in eine verbindliche Unterstützungsstruktur einbringen wollen. (…)

Es braucht eine Art Doppelbewegung nach innen und nach außen: ein Signal an die „eigenen Leute“, die Aktiven und Nicht-mehr-Aktiven der Partei, aber auch ein Signal nach außen, dass nun eine neue Zeit beginnt. (…)

1. Reaktion von Ines Schwerdtner, August 2023

Wir leben in keiner offenen Situation mehr? Aber natürlich!
Warum die kommenden Monate für die LINKE entscheidend sind – ein Gegenentwurf zu Mario Candeias’ 15 Thesen

Zitiert von: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/offene-Situation/

Kurz: Der Analyse zum Kampf der Kapitalfraktionen „grüner Kapitalismus“ und konservativ „fossil rückwärtsgewandtem Kapitalismus“ wird ausdrücklich zugestimmt, aber dem pessimistischen Ausblick auf ein Jahrzehnt dezimierter Linker wird widersprochen.

Ines Schwerdtner bestreitet die Defensivposition, in der Candeiras die Linke sieht. Die Spaltung der Partei ist nicht unumgänglich. Die Mitte muss erhalten werden.

„So nachvollziehbar der Wunsch nach klarer Profilbildung ist, nimmt sie eine Schwächung der Linken über Jahre in Kauf und beschränkt sich bewusst auf ein (eher aktivistisches) Milieu.“

Ines Schwerdtner

2. Reaktion von Andreas Fisahn im August 2023

Im Alten das Neue aufspüren
Von einer gerechten Verteilung ist die grüne Transformation weit entfernt. Trotzdem und gerade deshalb finden sich hier Interventionspunkte für eine linke Politik.

Zitiert von: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/im-alten-das-neue-aufspueren/

Kurz: Andreas Fisahn nimmt einen geradezu philosophischen Blickwinkel ein, arbeitet sich am Potential der gesellschaflichen Widersprüche ab. Wie es in der EU-Verfassung mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb (Art. 120 AEUV) festgelegt ist, beschreibt er die EU als marktradikal. Ähnlich wie Ines Schwerdtner meint er jedoch einen „Spurwechsel in der Europapolitik“ zu erkennen, die mit dem Green Deal das neoliberale Politikmodell in Teilen hinter sich lässt.

Er geht sogar noch einen Schritt weiter und stellt angesichts „grüner“ Vorgaben zur Produktion von erneuerbaren Energien und E-Mobilität, aber leider auch angesichts staatlicher Eingriffe bei der Rüstungs- und Kriegswirtschäft, die Frage „Ist das schon Sozialismus?“. Die Rolle des kapitalistischen Staates als „idealer Gesamtkapitalist“, auch im Neoliberalismus wird quasi romantisiert.

„Für eine ökologische Umstellung der Wirtschaft, das heißt die ökologische Transformation zum grünen Kapitalismus, muss nicht nur entschieden werden, wo und wie nicht produziert wird, sondern es muss entschieden werden, was produziert wird.“

Andreas Fisahn

3. Reaktion von Samuel Decker im August 2023

Es hat gerade erst begonnen
Während sich die Klimakatastrophe auch im globalen Norden immer deutlicher auswirkt und geopolitische Konflikte eskalieren, scheint die gesellschaftliche Linke und auch die Partei die LINKE zu zerfallen. Muss das so sein? Oder gibt es noch eine Chance für einen linken Aufbruch?

Zitiert von: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/es-hat-gerade-erst-begonnen/

Kurz: Samuel Decker teilt Candeiras These, dass wir in keiner offenen gesellschaftlichen Situation mehr leben. Der politische Handlungskorridor wird von ökologischen Krisen, Verwertungsbedingungen des Kapitals und festgefahrenen geopolitischen Situation bestimmt. Auch wenn den politischen Kräften das Krisenmanagement entgleitet, werden politische Alternativen in autoritärer Weise bekämpft.

Nach Samuel Decker wird nur eine Linke Erfolg haben, die sich als radikale (sozialistische) Wirtschaftspartei versteht und gesellschaftliche Kulturkämpfe austrägt. Warum er die Spaltung der Partei der Linken deswegen für unumgänglich und die Strategie mit den Positionen von Sahra Wagenknecht für nicht vereinbar hält, erschließt sich gegen Ende des Textes nicht so ganz.

„Über notwenige Formen der sozialen Umverteilung durch Kapitalbesteuerung und Vermögensabgaben hinaus geht es um eine konkrete Gesamtstrategie für den Umbau der Ökonomie – um Preiskontrollen, Kapitalverkehrs- und Investitionskontrollen, Investitionsplanung, Industriekonversion, Vergesellschaftung und schließlich um den Aufbau post-kapitalistischer Formen demokratischer ökonomischer Planung.“

Samuel Decker

Die Diskussion ist eröffnet!

Auch innerhalb der Partei Die Linke macht man sich zur Erneuerungsstrategie der Partei Gedanken. So ist auf dem Blog der Rosa-Luxemburg-Stiftung im August 2023 ein Papier des Soziologen und Kreissprechers Thomas Goes (Göttingen/Osterode) erschienen. Der Artikel steht in starkem Kontrast zu den fundierten Analysen der vorherigen Autoren.

Mit dem Gesicht zu den Menschen
13 Gedanken zur Öffnung und Erneuerung der LINKEN

Zitiert von: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/gesicht-zu-den-menschen/

Kurz und überspitzt: Der Text steht symbolhaft für das, was aktuell in Reden von der Parteispitze kommuniziert wird. Weder findet eine Analyse der Probleme im Inneren statt noch eine Analyse der äußeren Situation. Keine Notiz zur fortschreitenden globalen Blockbildung, nichts vom Aufgeben einstiger Friedensgrundsätze. Nicht einmal das Wort Kapitalismus ist erwähnt, geschweige denn NATO; keine Aufdeckung von Widersprüchen in der Asylfrage. Zu finden sind Einschwörungen, um zu sagen, wir müssen uns öffnen, wir müssen die Arbeiterschaft erreichen und auch Queere und Migranten. Wir können Listenplätze auch verlosen, vergessen wir die Debatten, die in den eigenen Basisorganisationen bereits passieren.

Es sind viele Worthülsen und von oben herab Kommunikation. Man kann diesen Weg weiter gehen und weiter an Wählergunst verlieren. Man kann aber auch den Diskurs um Marios Candeiras 15 Thesen zum Anlass nehmen, sich wahrhaft mit den neuen inneren und äußeren Gegebenheiten zu beschäftigen, mit linken Ideen darauf zu antworten und sich pluralistisch und kompetent aufzustellen.

Die Kämpfe der Weißen

HEISSE ZEITEN – Die Klimakolumne

Von Lakshmi Thevasagayam

Die Autorin ist Ärztin, Klima- und Gesundheitsaktivistin und engagiert sich in der Antikohlebewegung im Rheinland.

Fünf Jahre Fridays For Future – die deutsche Klimabewegung richtet sich im grünen Kapitalismus ein und blickt nicht über den globalen Norden hinaus, kritisiert Lakshmi Thevasagayam. »How dare you?« (Wie könnt ihr es wagen?) Das ist einer der Sätze von Fridays-For-Future-Aktivistin Greta Thunberg, die die Klimadebatte geprägt haben. Die Klimabewegung des Globalen Nordens hat durch diese Bewegung eine neue Dimension bekommen. FFF Deutschland hat 2019 mit 1,4 Millionen Teilnehmer*innen die größte Mobilisierung für einen Klimastreik erreicht. Nach unzähligen Demos, Ortsgruppentreffen, Medienauftritten und Politiker*innengesprächen wird FFF diesen Sommer fünf Jahre alt – Zeit für einen Rückblick und eine Bestandsaufnahme.

Fast fünf Jahre lang versuchte FFF Deutschland, die Klimakrise als wichtiges Thema in den Bundestag und auf die Frühstückstische zu bringen. Die Medien inszenieren die Bewegung als diejenigen, die das geschafft haben. Diese Annahme ist falsch und missachtet die Kämpfe, die schon viel länger geführt werden, die aber niemanden interessierten. Fridays For Future konnte nur so groß werden, weil sie aus weißem Privileg geboren wurde. Weil die Medien das Leid weißer Menschen interessanter finden als das von nicht-weißen Menschen. Weil weiße Menschen plötzlich Angst haben um ihre Zukunft.

Dabei betrifft diese Angst für den Großteil der Menschen nicht nur die Zukunft, sondern auch die Vergangenheit. Und die Zukunft wird umso bitterer, wenn nicht die systematischen Ursprünge der Klimakrise an der Wurzel bekämpft werden. Ja, ich rede über die beiden anderen K-Worte: Kapitalismus und Kolonialismus. Darüber aber möchte FFF Deutschland nicht sprechen. Von vornherein ging es nicht darum, die Struktur hinter den Ursprüngen der Klimakrise anzusprechen, sondern auf das »brennende Haus« zu zeigen. Wieder und wieder das zu wiederholen, was Klimaforscher*innen seit Jahrzehnten predigen.

Nach fünf Jahren hat sich daran leider nichts geändert. Sie haben an die Politik appelliert, mit den Lindners, Merkels und von der Leyens gesprochen. Immer die gleichen Leute mit der gleichen Message: Es brennt, tut doch bitte was. Selbst vor einem (in)direkten Wahlkampf für die Grünen wurde nicht zurückgeschreckt – FFF Aktivist*innen, die über die Jahre einen Prominenzstatus erlangten, sind in der Partei und lassen sich für Posten aufstellen. Selbst nach den gewaltsamen Räumungen im Dannenröder Forst und in Lützerath und nach dem Schulterschluss der Grünen mit der Flüssiggas-Lobby ist kein Bruch in Sicht.

Während die internationale FFF-Community sich inzwischen an Menschen orientiert, die auf dieser Erde am meisten unter der Klimakatastrophe leiden, hat FFF Deutschland den Schuss anscheinend immer noch nicht gehört. Die internationale FFF-Community hat sich beim globalen Klimastreik 2022 auf die kapitalistische Ausbeutung durch fossile Energiekonzerne fokussiert. Sie teilen auf ihrer Webseite klar ihre Analyse der kapitalistischen, patriarchalen und rassistischen Strukturen, die den globalen Süden ausbeuten, und benennen die historische Verantwortung des globalen Nordens. Statt sich dem anzuschließen, sind FFF Deutschland die Einzigen, die weiter an die Politik appellieren, 100 Milliarden in Klimabelange zu investieren. Grüner Kapitalismus eben.

Während wenige weiße, gutbürgerliche FFF-Popstars von einer Talkshow in die nächste rennen, berichten migrantische Mitglieder bei FFF immer wieder über Ignoranz und Angriffe. Egal ob es um Solidarität mit Palästinenser*innen geht, die gerade einen Krieg gegen ihre Existenz erfahren, oder um die Frage, ob Tausende Euros nicht nur für die eigene Arbeit hier verwendet, sondern mit Aktivist*innen im globalen Süden geteilt werden. Oder ob das Mikro weitergereicht wird und weiße Privilegierte sich nicht krampfhaft daran festhalten, sondern migrantische und Arbeiter*innenstimmen zu Lanz und in die Tagesschau schicken. Fünf Jahre lang – how dare you, FFF Deutschland?

Erstveröffentlicht im nd vom 18.8. 2023
Wir bedanken uns bei der nd-Redaktion für das Veröffentlichungsrecht.

System Change: Mehr nur als eine Parole

Hier ein Bericht vom Camp „System Change not Climate Change“ des Bündnisses Ende Gelände in Hannover. Wir danken dem Aktivisten Massi im Bündnis Ende Gelände. 

Einladungsflyer

Angelehnt an die Parole „System Change not Climate Change“ fand vom 30.07. bis 06.08. das System Change Camp in Hannover statt. Initiiert wurde das Camp vom Bündnis Ende Gelände, wobei jedoch eine Vielzahl von Gruppen und Menschen an der aktiven Umsetzung beteiligt waren. Schon 2022 gab es ein System Change Camp, damals in Hamburg und damals auch noch mit einer für Ende Gelände charakteristischen Massenaktion zivilen Ungehorsams im Hamburger Hafen (https://www.ende-gelaende.org/news/pressemitteilung-vom-13-08-2022-um-1330-uhr/). Dieses Jahr wurde sich auf Weiterbildung, Austausch und Vernetzung als Bewegung fokussiert und es gab keine zentrale Aktion. Das hat der Teilnehmer*innen Zahl trotz immer wiederkehrenden Regenschauern jedoch wenig abgetan. Zum Höhepunkt waren schätzungsweise über 1000 Menschen auf dem Camp.

Mit teilweise 12 verschiedenen Angeboten gleichzeitig und 4 Programmslots täglich, wurde auf dem Camp eine ganze Bandbreite verschiedenster Themen behandelt, die sich innerhalb der gemeinsamen Klammer des System Changes wieder fanden. So gab es zum Beispiel Veranstaltungen zu: Überwinden des Kapitalismus; Neokoloniale Wasserstoff Zukünfte; Klimakämpfe und Arbeitskämpfe; How-to-Block a Kohlekraftwerk; Soziale Ökologie; Climate Change and Migration; Steinkohleabbau in Kolombien; um nur eine kleine Auswahl zu nennen. Neben einem expliziten „Lernraum Antikolonialismus“, in dessen Rahmen das Voneinander Lernen und sich Solidarisch aufeinander beziehen im Mittelpunkt stand, gab es unter anderem zahlreiche praktische Skillshares – von Erste-Hilfe bis zu Paddel-Workshop -, einen Programmstrang, der sich mit dem Umgang mit Repression auseinandersetzte, und nicht zuletzt die Möglichkeit beispielsweise auf dem Markt der Möglichkeiten oder Regionalvernetzungstreffen verschiedene Gruppen und Kämpfe kennenzulernen und aktiv zu werden. Dabei war stets besonders die Verknüpfung und Vernetzung verschiedener Kämpfe zentral, denn den meisten auf dem Camp war klar: Alle diese Kämpfe hängen zusammen und haben eine gemeinsame systemische Wurzel, die wir angehen müssen, um als progressive Bewegung erfolgreich zu sein. Und nur im solidarischen Miteinander können wir von unten eine Gegenmacht aufbauen, die das Potenzial hat die uns betreffenden unterdrückenden und ausbeuterischen Systeme zu zerschlagen.

Viele der Veranstaltungen, beteiligten Gruppen und anwesenden Menschen kamen aus Klimakontexten, was bei einem von Ende Gelände initiiert Camp nicht wirklich verwunderlich ist. Deswegen ist besonders heraus zu stellen, das auch viele Veranstaltungen, Gruppen und Menschen aus anderen Kontexten kamen, wie zum Beispiel: Antikoloniale Kämpfe, Flucht- und Asylkämpfe, Kommunismus, Anarchismus, kurdische Bewegung, feministische Kämpfe, Abolitionismus, antirassistische Kämpfe, Kämpfe für nachhaltige Landwirtschaft, antiableistische Kämpfe, Friedensbewegung und noch viele weitere. Vernetzung und Verknüpfung von Gruppen hat also auch ganz praktisch stattgefunden, teils mit extra dafür angelegten Veranstaltungen, aber auch einfach im gemeinsamen Leben auf dem Camp. Es wurde aber auch, unter anderem in einem eigens dafür geschaffenen Programmstrang, viel über Strategien und Taktiken geredet und kontrovers – aber produktiv – diskutiert, etwas was in bewegungsübergreifenden Kontexten viel zu selten der Fall ist.

Das gesamte Camp lief selbstorganisiert. Das heißt, dass alle anfallenden Aufgaben von allen übernommen wurden. Es gab Schichtpläne fürs Abspülen, Klos putzen, Nachtwache, Schnippeln in der Küche, Betreuung von externen Referent*innen, Übersetzung in verschiedene Sprachen, Müll entsorgen, Awareness-Team (Ansprechstelle bei diskriminierendem und übergriffigem Verhalten) und noch einiges mehr.  So haben die Teilnehmer*innen auch ganz praktisch erlebt, wie Selbstorganisierung abseits des bisherigen Systems funktionieren kann. Da es sich um ein Camp handelte, haben die meisten Menschen dort auch gezeltet und geschlafen, um die volle Camp Erfahrung mit zu bekommen. Und für 3 Mahlzeiten pro Tag war durch die KüfA (Küche für alle) auch gesorgt, sodass man tatsächlich die ganze Woche nur auf diesem Camp verbringen konnte. Aber neben ganz vielen politischen Inhalten, gab es auch Raum für Kultur und Spaß. Es gab gemeinsamen Frühsport und Yoga, Konzerte, Filmvorführungen und entspannte gemeinsame Abendessen, bei denen nicht unbedingt über Aktivismus geredet werden musste. Insgesamt war es also ein sehr erfolgreiches Camp, was Menschen und Bewegungen auf verschiedenen Ebenen zusammen gebracht hat, wichtige Themen in die Bewegung getragen hat, ein wichtiger Austauschraum war und einfach gesagt, die Bewegung politisch weiter gebracht hat.

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