Russlands neue Liste von Ländern, deren Politik den traditionellen russischen Werte widerspricht

Bürger der gelisteten Staaten, die den neoliberalen Werten entkommen wollen, erhalten eine unkomplizierte Aufenthaltsgenehmigung.

Von Florian Rötzer

Bild. Wikimedia.commons

Russland führt seit Mai 2021 eine Liste sogenannter „unfreundlicher Staaten“. Zuerst waren nur die USA und Tschechien eingetragen, mit Kriegsbeginn wurden auf Dekret von Putin auf 48 Staaten erweitert, die gegen Russland Sanktionen beschlossen hatten. Später wurden die restlichen EU-Staaten und die britischen Überseegebiete. Gegen die Länder auf der Liste können Gegensanktionen verhängt, Schulden können in Rubel beglichen und die Beschäftigung von Russen an den Botschaften begrenzt oder verboten werden.

Jetzt ist Moskau aber noch einen Schritt weiter über das Tit-for-Tat hinausgegangen. Es geht nicht nur um Sanktionen politischer und wirtschaftlicher Art, sondern um Staaten, deren Politik und Kultur angeblich „russischen Werten“ widersprechen. In einer Formulierung heißt es, dass es um Länder oder Gebiete gehe, die eine Politik eingeführt haben, „die zerstörerische neoliberale ideologische Einstellungen durchsetzt, welche den traditionellen russischen geistigen und moralischen Werten widersprechen“.

Das geht zurück auf ein Dekret Putins über die „Grundlagen der Staatspolitik zur Erhaltung und Stärkung traditioneller russischer spiritueller und moralischer Werte“ vom November 2022. Die traditionellen Werte sollen eine Art Leitkultur darstellen, die geschützt werden muss, um die nationale Identität und Einheit zu erhalten und gleichzeitig Russland von anderen Kulturen zu unterscheiden. Die angegebenen Werte sind recht allgemein:

„Zu den traditionellen Werten gehören Leben, Würde, Menschenrechte und Freiheiten, Patriotismus, Staatsbürgerschaft, Dienst am Vaterland und Verantwortung für sein Schicksal, hohe moralische Ideale, starke Familie, kreative Arbeit, Vorrang des Geistigen vor dem Materiellen, Humanismus, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Kollektivismus, gegenseitige Hilfe und gegenseitiger Respekt, historisches Gedächtnis und Kontinuität der Generationen, die Einheit der Völker Russlands.“

Man könnte die „Werte“ Patriotismus, Dienst am Vaterland, Moral  oder Kollektivismus herausheben. Im Gegensatz zu den nationalistischen rechten Parteien Europas wird der Multikulturalismus der russischen Kultur mit der Einheit betont. Russland als „multinationales und multireligiöses Land“ zu begreifen, macht es schwierig, von der russischen Kultur zu sprechen, zu der nicht zuletzt auch der Islam gehört. So scheint der Bezug auf das Traditionelle und auf das Ethnien, Kulturen und Religionen übergreifende Nationale die russischen Werte auszuzeichnen. Dabei steht wie bei Rechten üblich der Erhalt der traditionellen Familie und Geschlechter im Zentrum. Was das scheinbare klare duale Verhältnis von der verschweißten Einheit von Mann und Frau und, damit verbunden, einer männerdominierten Kultur durcheinanderbringt, ist des Teufels oder des westlichen Liberalismus. Dass dieses althergebrachte Modell wieder in Zeiten des Krieges nicht nur in Russland und der Ukraine, sondern auch in anderen kriegsorientierten Ländern floriert, ist nicht verwunderlich.

Mit der Liste der Länder, die eine „destruktive Haltung vertreten, die im Widerspruch zu den spirituellen und moralischen Werten Russlands steht“, soll wohl ein Abwehrzauber inszeniert werden. Was von diesen Ländern kommt, ist böse und zersetzend – ähnlich wie im Westen vieles auf das Russland und die weitere Achse des Bösen zurückgeführt wird. Da braucht es keine Listen, auch wenn es die Schurkenstaaten gibt: Russland, China, Nordkorea, Iran, Venezuela …

Als gefährlich für die russischen Werte gelten 47 Staaten. Dazu gehören fast alle  EU-Staaten mit Ausnahme der russlandfreundlichen Ungarn und der Slowakei, natürlich auch die USA, Großbritannien, Japan, Südkorea, Australien und die Ukraine. Montenegro, die Schweiz, Albanien, Andorra, Island, Liechtenstein, Monaco, San Marino, Nordmazedonien, Mikronesien, Neuseeland oder Singapur bedrohen ebenfalls die offenbar wenig robusten russischen Werte. Taiwan wurde wohl aufgenommen, um China einen Gefallen zu erweisen. Die Türkei ist das einzige Nato-Mitgliedsland, das auch nicht gelistet wird.

Die Liste hat noch einen anderen Zweck, als nur den Kulturfeind zu benennen, damit sollen auch Menschen, die in den gelisteten Ländern unzufrieden sind und konservativen Kulturvorstellungen („traditionellen geistigen und moralischen Werten“) anhängen, eine Tür zur Einwanderung in das Land mit den russischen Werten öffnen. Man wolle ihnen eine „humanitäre Unterstützung“ gewähren. Wer den „westlichen liberalen Idealen“ entkommen will, kann eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen, „unabhängig von den bewilligten Quoten und ohne Vorlage von Dokumenten, die deren Kenntnis der russischen Sprache, der russischen Geschichte und der grundlegenden Gesetzgebung belegen“.

In Schulen wird Pflichtunterricht zu den Grundlagen der Sicherheit und Verteidigung des Mutterlandes eingeführt

Schon im Sommer hat Russland die Regeln zur Ausweisung und Abschiebung von Ausländern, „die sich ohne Rechtsgrund in der Russischen Föderation aufhalten“, verschärft. Wer kein Aufenthaltsrecht hat, fällt unter das Ausweisungsregime, muss sich regelmäßig melden und erklären, warum er nicht selbständig ausreisen kann. Wer die Auflagen nicht einhält, kommt in Abschiebehaft, aber schon unter dem Ausweisungsregime kann er oder sie heiraten, kein Gewerbe anmelden, eine Immobilie kaufen, kein Bankkonto eröffnen. Die Polizei hat das Recht, die Wohnung derjenigen, die ausreisen müssen, zu betreten, Informationen von Behörden über diese anzufordern und sie auch mit technischen Mitteln zu überwachen.

Überdies wurde ein Verbot in erster Lesung verabschiedet, russische Kinder zur Adoption an Länder zu geben, „in denen eine Geschlechtsumwandlung erlaubt ist“. Damit sollen „Kindheit und traditionelle Werte“ geschützt werden, sagte der Vorsitzende der Staatsduma Wjatscheslaw Wolodin. Zuvor war bereits zum Schutz der russischen Werte die Förderung von nicht-traditionellen sexuellen Beziehungen, Pädophilie und Geschlechtsumwandlung verboten worden. Verboten werden soll auch die „Propaganda für Kinderlosigkeit“.

Zu den russischen Werten scheint auch zu gehören, Straftäter von einer Anklage in einem laufenden Gerichtsverfahren freizusprechen, wenn sie sich zum Militärdienst verpflichten. Angeklagte können nach einem am 24.9. verabschiedeten Gesetz „nach Erhalt einer staatlichen Auszeichnung oder Entlassung aus dem Militärdienst (aus Altersgründen, aus gesundheitlichen Gründen, aufgrund des Endes der Mobilmachungsfrist, der Aufhebung des Kriegsrechts oder des Endes) vollständig von der Strafbarkeit befreit werden Kriegszeit)“. Auf der anderen Seite wird Ausländern, die sich verpflichten, der Erwerb der Staatsbürgerschaft erleichtert. Wer die Staatsbürgerschaft jetzt oder kürzlich erworben hat, muss damit rechnen, zum Militär eingezogen und im Kriegsgebiet eingesetzt zu werden.

In allen Bildungseinrichtungen von Kindergärten bis zu Universitäten muss ab September die russische Staatsflagge gehisst werden.  Technikunterricht wird für Grund- und Sekundarschüler verpflichtend, in Mittel- und Oberschulen wird anstelle von Lebenssicherheit Pflichtunterricht zu den Grundlagen der Sicherheit und Verteidigung des Mutterlandes eingeführt.

Werden nun die Anhänger von westlichen rechten und konservativen Parteien wie AfD, Rassemblement National oder  Fratelli d’Italia, die kulturell und moralisch ähnlich ausgerichtet sind, in  den auf der Liste aufgeführten Länder vermehrt nach Russland kommen?

Erstveröffentlicht im Overton Magazin v. 26.9. 2024
https://overton-magazin.de/top-story/russlands-neue-liste-von-laendern-deren-politik-den-traditionellen-russischen-werte-widerspricht/

Wir danken für das Publikationsrecht.

Namibia – Alles wieder gut?

Die deutsche Erinnerungspolitik erteilt sich Bestnoten. In Namibia zeigt sich, wie lückenhaft sie tatsächlich ist.

Von Tsafrir Cohen und Eyal Weizman

Bild: Modell eines Ngauzepo, eines ‚Hanging Tree‘. Hunderte Ovaherero und Nama wurden während der antikolonialen Aufstände und des Genozids an solchen Bäumen erhängt. (Forensic Architecture/Forensis, 2022)

Das historische Gedächtnis Europas und die ihm zugehörige Erinnerungskultur zeichnen sich durch das Ausbleiben historischer Gerechtigkeit für die erlittene Ausgrenzung und Unterdrückung aus, die mit dem Anbruch der Moderne begann und noch heute das Schicksal vieler Millionen Menschen prägt. Im Zentrum dieser Geschichte steht das Verbrechen des Kolonialismus, unter dem die Länder und Regionen des Globalen Südens leben und leiden – unter seinem langen Schatten ebenso wie unter seiner Aktualität.

Kaum ein Land symbolisiert das in der deutschen Debatte besser als Namibia. „Wiedergutmachung“ im Wortsinn ist unmöglich, sehr wohl aber steht ein ernsthafter Versuch aus, ein durch die Gewalt des Kolonialismus gestörtes Verhältnis zu reparieren. Bei allem überschwänglichen Nationalstolz auf die eigene Erinnerungskultur ist die Geschichte des deutschen Kolonialismus in der zeitgenössischen deutschen Historiografie eine Randnotiz. Nicht einmal ein rudimentäres Grundwissen über den ersten deutschen Völkermord kann als selbstverständlich vorausgesetzt werden.

Dabei begehen wir in diesem Jahr den 120. Jahrestag der Ereignisse, die den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts auslösten. Er traf die Völker der Ovaherero und Nama in einem Gebiet, das Deutschland als „Südwestafrika“ – das heutige Namibia – kolonisiert hatte. Im Rahmen des europäischen „Wettlaufs um Afrika“ errichtete das Kaiserreich Kolonien, die das heutige Togo, Kamerun, Tansania, Ruanda, Burundi und Namibia umfassten.

Der erste Genozid des 20. Jahrhunderts

Die Region im Südwesten des Kontinents galt als Inbegriff dessen, was der deutsche Geograf Friedrich Ratzel 1897 als „Lebensraum“ bezeichnete: ein Raum, der gemäß der sozialdarwinistischen Ideologie des „survival of the fittest“ beansprucht wurde, um das eigene Volk zu erhalten. Damit die deutsche Besiedlung möglich wurde, mussten die einheimischen Völker aus dem Weg geräumt werden. Zunächst erfolgte die Landnahme stückweise durch erzwungene Schutz- und Kaufverträge, Drohungen, Bestechungen und Massaker. Allmählich entstand Südwestafrika als ein Geflecht von Farmen, Missionsstationen, Mineral- und Diamantenminen sowie Militärfestungen. Für Ratzel war es ein Ort, an dem die „deutsche Rasse“ ihren Charakter festigen sollte, während die ansässige Bevölkerung als „Untermenschen“ betrachtet wurden, die nach Belieben ausgebeutet, vertrieben oder ausgerottet werden konnten.

Am 12. Januar 1904 kam es zu einem Aufstand der Ovaherero unter der Führung von Samuel Maharero. Mehr als hundert Soldaten und Siedler, zumeist Bauern und Missionare, wurden in den folgenden Tagen getötet. Die sogenannte kaiserliche „Schutztruppe“ musste sich zurückziehen. Gedemütigt begann Deutschland, Vergeltung für diese Akte antikolonialen Widerstands zu planen. Im Juni 1904 traf General Lothar von Trotha, ein Kolonialoffizier, der sich durch seine Mitwirkung bei der brutalen Niederschlagung des Boxeraufstands in China einen Namen gemacht hatte, in Südwestafrika ein. Er schwor, „die aufständischen Stämme in Strömen von Blut“ zu vernichten.

Im August 1904 suchten schätzungsweise dreißigtausend Ovaherero Zuflucht am Fuße des Bergplateaus von Waterberg. Die Schutztruppe schnitt ihnen den Fluchtweg nach Westen ab und zwang Männer, Frauen und Kinder so in die Kalahari-Wüste, wo sie gejagt und erschossen wurden. Am 2. Oktober erließ Trotha vor seinen Truppen den berüchtigten Vernichtungsbefehl: „Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück, oder lasse auf sie schießen.“ So kam es. In den folgenden Monaten wurden viele Ovaherero erschossen, andere starben, nachdem sie von deutschen Truppen vergiftetes Wasser aus Brunnen getrunken hatten. Und eine große Zahl verdurstete und verhungerte in der Wüste, in die sie getrieben worden waren.

Die traditionellen Führer der Nama und Ovaherero datieren den Beginn des Völkermords nicht auf den Angriff in Waterberg, sondern auf einen wenig bekannten Überfall elf Jahre zuvor. Am 12. April 1893 griff ein Kontingent der Schutztruppe die Nama-Siedlung Nâ‡gâs – auf Deutsch Hornkranz – an. Es war der Sitz von „Captain“ Hendrik Witbooi vom Witbooi-Nama-Volk, der alle deutschen „Schutzangebote“ abgelehnt und sich in den Augen der deutschen Kolonisten damit der Rebellion schuldig gemacht hatte. Die Deutschen kamen zu dem Schluss, dass die einzige Möglichkeit, den „rebellischen Eingeborenen“ Einhalt zu gebieten, darin bestand, sie auszurotten. Also zerstörten sie die Siedlung und ermordeten Frauen, Kinder und alte Menschen. In den folgenden Jahren leisteten die Nama-Stämme unter der Führung von Witbooi und Jacobus Morenga weiter Widerstand gegen die deutsche Herrschaft, und am 22. April 1905 erließ Trotha den zweiten Vernichtungsbefehl, diesmal gegen die Nama.

Die überlebenden Nama und Ovaherero wurden in Konzentrationslager geschickt, wo sie als Sklavenarbeiter:innen für den Bau von Straßen, Eisenbahnen, Farmen und Verwaltungsposten der Kolonie eingesetzt wurden. Mehr als die Hälfte der Gefangenen starb binnen eines Jahres. Das wohl tödlichste Lager befand sich auf Shark Island, einer windigen und exponierten Halbinsel in der Nähe der südatlantischen Hafenstadt Lüderitz. Die Gefangenen waren dort eisiger Kälte schutzlos ausgeliefert, wurden ausgehungert, geschlagen, vergewaltigt und hingerichtet. Frauen wurden gezwungen, die von Leichen abgetrennten Köpfe – teils ihrer eigenen Verwandten – abzukochen und das Fleisch mit Glasscherben abzukratzen. Die Schädel wurden für rassistische Forschungen an Universitäten und in anthropologische Sammlungen nach Deutschland geschickt, wo die meisten heute noch lagern.

Unabgegolten

Bis zum Ende des deutschen Feldzugs im Jahr 1908 waren über 65.000 Ovaherero, mehr als zwei Drittel der Bevölkerung, und 10.000 Nama getötet worden. Jahrzehntelang wurde über diese genozidalen Verbrechen geschwiegen. Es ist dem jahrelangen Kampf namibischer und deutscher zivilgesellschaftlicher Gruppen zu verdanken, dass mehr und mehr Licht auf diesen blinden Fleck deutscher Geschichte fällt. 2015 erklärte sich die deutsche Regierung bereit, ihre „moralische Verantwortung für die Kolonialisierung Namibias“ anzuerkennen und sich „für die historischen Entwicklungen, die zwischen 1904 und 1908 zu völkermörderischen Zuständen geführt haben“, zu entschuldigen. Die Worte waren wohl gewählt. Eine moralische Verantwortung ist keine juristische Verantwortung und völkermörderische Zustände sind kein Völkermord.

Erinnern an die Opfer des Genozids an den Ovaherero und Nama auf Shark Island in Namibia.
Während der Gedenkfeierlichkeiten für die Opfer des Genozids auf Shark Island. (Foto: medico)

Die Ereignisse von 1904 bis 1908, so die Argumentation, könnten nur aus heutiger Sicht als Genozid angesehen werden. Sie stützte sich auf eine juristische Spitzfindigkeit, die in Fällen von Völkermord und Sklaverei seit langem infrage gestellt wird: den Grundsatz, dass eine Rechtsfrage auf der Grundlage der zum Zeitpunkt der Tat geltenden Gesetze beurteilt werden muss. Deutschland argumentierte also, dass die UN-Völkermordkonvention erst 1948 in Kraft getreten sei und daher nicht auf den Völkermord in Südwestafrika angewendet werden könne, der vorher stattgefunden hatte. Ein ähnliches Argument wurde von Eichmann bei seinem Prozess in Jerusalem vorgebracht: Da Hitlers Befehle im Dritten Reich „Gesetzeskraft“ besaßen, habe er nach den damaligen Gesetzen gehandelt.

Rehabilitation und Reparation

Noch ungeheuerlicher ist eine andere juristische Volte: Laut der Haager Konvention von 1889 galt die Massentötung von Zivilist:innen im Rahmen eines Krieges als illegal – also auch Anfang des 20. Jahrhunderts. Da sich das Völkerrecht jedoch auf Kriege zwischen „zivilisierten Völkern“ beziehe, falle koloniale Gewalt gegen eine indigene Bevölkerung nicht unter diesen Tatbestand. Deutschland argumentierte also, dass die in Südwestafrika begangenen Verbrechen nicht nach modernen Rechtsstandards, sondern nach den rassistischen Gesetzen der Kolonialzeit beurteilt werden müssten.

Die Strategie der Bundesregierung, einen „historischen Völkermord“ nicht abzustreiten, sehr wohl aber dessen Justiziabilität, hat Methode. Denn damit entledigt sich Deutschland auch jeglicher Verpflichtung zur Zahlung von Reparationen oder zur Erleichterung der Wiedergutmachung. Als Zeichen des guten Willens kündigte Berlin stattdessen ein Abkommen an, über einen Zeitraum von dreißig Jahren 1,1 Milliarden Euro Entwicklungshilfe zu leisten. Dies hielten die deutsche und die namibische Regierung 2021 in einer Gemeinsamen Erklärung fest. Entwicklung also, das alte Zauberwort und Versprechen des Westens.

Einst waren die Ovaherero und Nama reich an Land, Vieh und Kultur gewesen. Die Kolonialisierung hat diesen Wohlstand ruiniert und „Entwicklungsbedarf“ erzeugt. medico-Partnerin Sima Luipert von der Nama Traditional Leaders Association (NTLA) drückt es so aus: „Entwicklung ist die größte Lüge des Nordens. Es ist die vermeintliche Großzügigkeit einer Zivilisation, die auf unserer Unterdrückung beruht.“ Einige Gemeinschaften antworteten auf das deutsche Angebot mit der Forderung, Deutschland solle ihre einstigen Ländereien von den Nachkommen deutscher Siedler kaufen und sie zurückgeben.

Unabgegolten sind die Genozide in Südwestafrika auch in der sich selbst immer wieder zelebrierenden und andere belehrenden deutschen Gedenkkultur. Tatsächlich liegt immer noch ein Mantel des Schweigens und Vergessens über eben dieser Geschichte. Sie wurde weder hinreichend erforscht noch wird sie umfassend gelehrt oder auch erzählt. Ob in Wissenschaft, Kunst oder Politik: Die Verbrechen in Südwestafrika sind weit weg und lange her. Auch in Namibia selbst sind die Genozide längst nicht aufgearbeitet. Das angestammte Land der Opfer blieb nicht nur während der südafrikanischen Apartheidherrschaft im Besitz deutscher Siedler, darunter ehemalige Offiziere, die am Völkermord beteiligt waren. Auch 34 Jahre nach der Unabhängigkeit besitzen rund 4.500 Europäer:innen 70 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen.

In der Geschichtsschreibung der SWAPO-geführten Regierung steht der eigene Kampf gegen die Apartheid überdeutlich im Vordergrund; die kolonialen Verbrechen Deutschlands interessieren kaum. Dazu passt, dass die betroffenen Gebiete bis heute unter Vernachlässigung leiden. Und dazu passt auch, dass es kaum Formen oder Stätten der Erinnerung gibt. Zeugnisse der kolonialen Herrschaft von einst verfallen. So ist Shark Island ein bei Tourist:innen beliebtes Ausflugsziel mit einem staatlich betriebenen Campingplatz, das viele in völliger Unkenntnis dessen besuchen, was hier einst geschah. Sie werden aber auch durch nichts daran erinnert.

Es ist eine zynische Wendung, dass die Halbinsel nun Standort eines großen deutschen Energieprojekts werden soll: Wo einst die Lager waren, soll ein Dock entstehen, über das in Namibia produzierter flüssiger Wasserstoff zu Europas energiehungriger Industrie transportiert werden soll. Mehr Greenwashing einer dunklen Geschichte geht kaum.

Während der Gedenkfeierlichkeiten zur Erinnerung an den Genozid an den Ovaherero und Nama auf Shark Island in Namibia
Viele nehmen in Uniformen an den Gedenkfeierlichkeiten teil, eine Anspielung auf jene Monturen, die die Verbände der Nama und Ovaherero den deutschen Soldaten im Kampf abnahmen. (Foto: medico)

Die Nachkommen der Opfer des Völkermordes haben sich stets gewehrt: Sie gründeten in den ihnen zugewiesenen, beengten „Homelands“ Städte, die die Namen ihrer angestammten Heimatorte tragen, und haben ihre Forderungen nach Wiedergutmachung durch Deutschland und dem Recht auf Rückkehr auf ihr Land aufrechterhalten. Sie haben sich auch dagegen gewehrt, dass die deutsch-namibischen Verhandlungen über den Völkermord nahezu ohne die Beteiligung ihrer Vertreter geführt wurden. Ein auf die erwähnte deutsch-namibische Erklärung aufbauendes Abkommen zwischen den beiden amtierenden Regierungen in Namibia und Deutschland stieß auf ihren erbitterten Widerstand und wurde auch deshalb vom namibischen Parlament bislang nicht gebilligt.

Forensic Architecture und medico arbeiten mit den betroffenen Gemeinden zusammen, um jene Teile der eigenen Geschichte sichtbar und hörbar zu machen, die im kollektiven Gedächtnis wenig Platz haben. In einer von medico unterstützten transnationalen Kooperation mit der Ovaherero Traditional Authority (OTA) und der NTLA haben Forensic Architecture und ihre Berliner Schwestergruppe Forensis Archivfotos und Zeugnisse traditioneller mündlicher Überlieferung in 3D-Modelle von Orten der Gräueltaten, zerstörten Dörfern und Massengräbern integriert. Ihre Ergebnisse sind der Beginn einer Reihe digitaler Beweise zur Rekonstruktion des Völkermords.

Ein Weltgedächtnis

Die Anerkennung des Genozids sowie Erinnerungs- und Reparationsarbeit würden nicht nur längst fällige historische Gerechtigkeit gegenüber den Nama und Ovaherero walten lassen. Sie könnten das Ende der deutschen Kolonialismus-Amnesie einläuten, auch in Bezug auf die Grausamkeiten gegenüber dem Volk der San in Namibia oder die hunderttausenden Opfer der Niederwerfung des Maji-Maji-Aufstands in Deutsch-Ostafrika (1905-1907), dem heutigen Tansania, sowie über den afrikanischen Kontinent hinaus.

Nicht weniger als ein vertieftes Verständnis und eine erweiterte Selbstreflexion deutscher Geschichte sind gefordert. Die Verquickungen und die Schuld, die sich aus den offensichtlichen Verflechtungen zwischen den Verbrechen der Shoah und dem Genozid in Namibia ergeben, sind vielfältig: Viele der Schlüsselelemente des nationalsozialistischen Systems – die systematische Ausrottung von Völkern, die als rassisch minderwertig angesehen wurden, rassistische und eugenische Theorien und Praktiken, das Konzept des Lebensraums, der Transport von Menschen in Viehtransportern zur Zwangsarbeit in Konzentrationslagern – waren ein halbes Jahrhundert vor der Shoah in Südwestafrika angewandt worden. Bereits 1951 argumentierte Hannah Arendt, dass der europäische Imperialismus eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung des nationalsozialistischen Totalitarismus und der damit verbundenen Völkermorde spielte. Und Aimé Césaire bezeichnete den europäischen Faschismus als die Heimkehr kolonialer Gewalt.

Doch es geht heute mitnichten nur um die Wiedergutmachung historischer Schuld, sondern um einen Aufbruch in eine andere Zukunft. Black Lives Matter und zahlreiche andere Bewegungen weltweit tragen dazu bei, die Gewaltgeschichte des Kolonialismus ins Selbstverständnis des Westens zu integrieren – im Stadtbild, an den Universitäten, im Alltag oder in den Medien. Es mag utopisch klingen, aber das könnte konstitutiv sein für ein gleichberechtigtes „Weltgedächtnis“ (Charlotte Wiedemann), durch das wir lernen, nicht nur Geschichte von Frankfurt oder Windhoek aus gemeinsam zu interpretieren und zu erzählen, sondern auch gemeinsam zu handeln und der Gegenwart fortwährender asymmetrischer, vom Kolonialismus nach wie vor geprägter Macht- und Herrschaftsverhältnisse entgegenzutreten. Unsere Partner von NTLA und OTA sind dazu bereit: „Wir erheben keinen Anspruch auf Singularität, sondern streben vielmehr nach globaler Gerechtigkeit, Solidarität und universeller Freiheit.“

medico unterstützt derzeit die „Nama Traditional Leaders Association“ (NTLA), unter anderem bei der Ausrichtung des Genocide Memorial Walk in der Lüderitzbucht. Als Teil einer selbstorganisierten Erinnerungskultur, die die Erinnerung an den Genozid und dessen Auswirkungen wachhält, kommen hier regelmäßig Nama und Ovaherero aus verschiedenen Regionen Namibias zusammen. Dieses Jahr präsentierte dort außerdem Forensic Architecture erste Ergebnisse einer Genozid-Recherche. Auf einer weiteren Zusammenkunft wurde ein Austausch über das deutsch-namibische Wasserstoffvorhaben organisiert.

Tsafrir Cohen (Foto: Christoph Boeckheler)

Tsafrir Cohen ist Geschäftsführer von medico international. Bis 2014 war er hier für Projektkoordination und Öffentlichkeitsarbeit zu Israel und Palästina zuständig. Danach hat er bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung Regionalbüros geleitet: zunächst Israel, dann Großbritannien und Irland. (Foto: Christoph Boeckheler)

Eyal Weizman ist Professor am Goldsmiths Institute der University of London und Direktor von Forensic Architecture (FA). Gemeinsam mit Tsafrir Cohen bereiste er im vergangenen Jahr Namibia. medico und FA kooperieren seit 2023 zur Rekonstruktion der deutschen Kolonialverbrechen und deren andauernden Auswirkungen im heutigen Namibia.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2024. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Erschien im medico-newsletter Mai 2024:
https://www.medico.de/blog/alles-wieder-gut-19530

Wir danken für das Publikationsrecht.

Agent, Terrorist, unerwünscht

Russland schafft mit verschiedenen Listen ein Repressionsinstrument gegen ungewollte Meinungen

Von Fedor Agapov

Bild: amnesty international

Am 2. August verabschiedete Russland ein Gesetzespaket, mit dem jede ausländische Organisation zur »unerwünschten Organisation« erklärt werden kann, und verschärfte damit einen 2015 eingeführten Status. Während dieser zuvor nur für nicht-staatliche Einrichtungen galt, können nun auch die Aktivitäten von Organisationen, die von ausländischen staatlichen Behörden gegründet wurden, als »unerwünscht« eingestuft werden.

Auf den ersten Blick mag der Status »unerwünscht« nicht allzu dramatisch erscheinen. Aber in der Realität hat er in Russland sehr ernste Konsequenzen für die Betroffenen. Denn nach Ansicht der russischen Generalstaatsanwaltschaft stellen unerwünschte Organisationen »eine Bedrohung für die Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung, die Verteidigungsfähigkeit oder die Sicherheit« des Landes dar. Sobald dieser Status zuerkannt wird, wird die Arbeit einer solchen Organisation im Wesentlichen verboten – sie muss ihre Büros schließen und darf keine Geldgeschäfte tätigen. Wer mit der Organisation in irgendeiner Weise zusammenarbeitet, muss mit Geld- oder Gefängnisstrafen rechnen. Dafür reicht es schon aus, Inhalte der Organisation etwa auf Facebook zu teilen. Nach Berechnungen des US-Staatsmediums »Sewer.Realii« gab es 2024 bereits 101 Verfahren wegen der »Beteiligung« an unerwünschten Organisationen, doppelt so viele wie in den beiden vergangen Jahren.

Vermeintlicher Schutz vor ausländischer Einmischung

Russische Behörden verteidigen das Gesetz als notwendig, um eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten zu verhindern. Doch der repressive Charakter liegt auf der Hand. So wurde beispielsweise kremlkritischen Medien wie »Meduza« und »Doschd« der Status einer »unerwünschten Organisation« erteilt, um ihre Arbeit zu erschweren.

Aber auch andere Organisationen, deren Recherchen der Regierung schaden könnten, geraten in den Fokus. Die internationale Anti-Korruptionsorganisation Transparency International etwa ist seit vergangenem März »unerwünscht«. Auch die Zentraleuropäische Universität in Wien oder russische Exilorganisationen in Deutschland stehen auf der Liste. Am Mittwoch erhielt als 182. von bisher 186 Organisationen auch die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung den Status. Mit der Gesetzesverschärfung wird es für die Regierung noch einfacher, Organisationen auf die Liste zu setzen.

Neben der Liste der »unerwünschten Organisationen« gibt es noch zwei weitere Verzeichnisse, mit denen der Kreml seine Gegner markiert. Das Register »ausländischer Agenten« umfasst Personen und Organisationen, die nach Ansicht der Behörden ausländische Unterstützung erhalten oder unter ausländischem Einfluss stehen. Gleichzeitig ist der Begriff »ausländische Unterstützung« sehr vage definiert, sodass jede Person oder Organisation, die auf die eine oder andere Weise mit ausländischen Staaten, internationalen und ausländischen Organisationen oder ausländischen Bürgern zusammenarbeitet, auf die Liste gesetzt werden kann. Jeden Freitagabend werden neue Namen in das Register aufgenommen.

Ein Echo aus der sowjetischen Vergangenheit

Dieser Status, der wie ein Echo aus der sowjetischen Vergangenheit klingt, ist mit einer massiven Einschränkung von Rechten verbunden. »Ausländischen Agenten« ist es untersagt, öffentliche Veranstaltungen zu organisieren, an staatlichen Stellen zu arbeiten oder öffentliche Aussagen zu machen, ohne darauf hinzuweisen, dass sie ausländische Agenten sind. Die bekannte russische Politikwissenschaftlerin Jekaterina Schulman beispielsweise, schreibt in jedem ihrer Posts: »Dieses Material wurde von einem ausländischen Agenten erstellt oder verbreitet«. Niemand, selbst Schulman nicht, weiß, worin genau ihre »Agententätigkeit« besteht. Hunderte von Personen wurden nur deshalb in die Liste aufgenommen, weil sie sich kritisch über die russischen Behörden geäußert hatten.

Gegen die Opposition werden noch schwerere Geschütze aufgefahren. Der letzte Teil des Dreiklangs ist das Register der Terroristen und Extremisten. Zwar gibt es derartige Verzeichnisse auch in anderen Ländern, doch die Besonderheit in Russland liegt in der Kombination der beiden Kategorien und in der Zusammenstellung der Liste.

»Extremismus« ist in Russland juristisch nicht definiert

Neben Personen, die tatsächlich an der Vorbereitung von Terroranschlägen beteiligt waren, finden sich dort auch Menschen, deren Äußerungen der russische Staat als »extremistisch« bewertet. Da der Begriff nicht genau definiert wird, ist der Übergang vom »ausländischen Agenten« zum Extremisten fließend. So soll Alexej Nawalny, der im Februar dieses Jahres im Gefängnis starb, »in den Terrorismus verwickelt« gewesen sein – was immer das heißen mag.

Wer auf diese Liste gesetzt wird, verliert den Zugang zum Bankkonto und hat Schwierigkeiten, einen Job zu finden. In seltenen Fällen werden, wie im Fall des Schriftstellers Boris Akunin, auch die Konten von Verwandten gesperrt.

Die beiden Status schließen sich auch nicht gegenseitig aus. So wurde beispielsweise der linke Intellektuelle und Soziologe Boris Kagarlitzky, der derzeit wegen seiner Veröffentlichungen über den Krieg in der Ukraine im Gefängnis ist, von der russischen Regierung auf beide Listen gesetzt.

Der Umgang mit Menschen wie Kagarlitzky wirft die Frage auf, ob man von den Listen auch wieder gestrichen werden kann. Formal lautet die Antwort ja. Aber in der Realität ist das oft schwierig, vor allem wenn jemand gleich mehrere Status hat. Um von der Liste der »Terroristen und Extremisten« gestrichen zu werden, muss der Betroffene die Einstellung eines Strafverfahrens oder der Strafverfolgung erreichen. Bei politischen Flüchtlingen aus Russland kann dies eine unbestimmte Zeit in Anspruch nehmen.

Nur ganz wenige haben es von den Listen herunter geschafft

Im Falle von »ausländischen Agenten« sieht die Situation ähnlich aus, obwohl es Präzedenzfälle gab, in denen Einzelpersonen nachweisen konnten, dass sie keine ausländischen Partner haben. Allerdings können russische Behörden immer ausländische Verbindungen »finden«, wenn dies gewünscht ist.

Präsident Wladimir Putin übt mithilfe dieser Register Kontrolle über die russische Öffentlichkeit aus. Auf der einen Seite stehen die eigene Regierung, Militär und Polizei; auf der anderen Seite die »unerwünschten Organisationen«, die den Staat zu destabilisieren versuchen, sowie »ausländische Agenten« und Terroristen. Auch wenn dieses Framing grobschlächtig wirkt, hinterlässt es doch Spuren im gesellschaftlichen Bewusstsein und formt eine neue politische Landschaft.

Auch deshalb ist es einfach, den jüngsten Gefangenenaustausch zwischen Russland und dem Westen nach innen als einen neuen Sieg für Putin darzustellen – gemäß der offiziellen Linie: Russland hat seine patriotischen Helden zurückgegeben und im Gegenzug nur einige »ausländische Agenten« und Terroristen zurückgegeben. Wer wirklich ein Agent und wer ein Terrorist ist, interessiert dabei niemanden.

Erstveröffentlicht im nd v. 16.8. 2024
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1184552.russland-agent-terrorist-unerwuenscht.html?sstr=Russland|ausl%C3%A4ndische|Agenten

Wir danken für das Publikationsrecht.

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