Wir sollten uns keinen Illusionen hingeben: die Justiz der BRD ist noch nie ein Bollwerk gegen Rechts gewesen und wird es von ihrem Wesen her auch nie sein. Aber es geht deutlich schlimmer als „schlimm“. Das beschreibt Sascha Schlenzig treffend in dem folgenden Beitrag und ruft vollkommen richtig zur breiten gesellschaftlichen Offensive gegen die immer weitere Verschiebung nach Rechts auf. Die Sozialdemokratie, stark „in die Logik der institutionellen Mitte eingepasst“, reagiert defensiv. Wer das Spiel der neoliberalen Politik spielt und die militaristische Zeitenwende ausruft, hat gegen Rechts eben nicht mehr viel zu melden. Die Verhinderung des rechten Vormarschs geht nur, wenn mit der aktuell vorherrschenden Politik gebrochen wird. (Peter Vlatten)
Wie Spahn rechte Hegemonie testet – und die SPD zwischen Verteidigung und Selbstaufgabe zögert
Von Sascha Schlenzig, 13.Juli 2025
Die Besetzung eines Sitzes im Bundesverfassungsgericht ist zur Machtdemonstration geworden – und zur Probe für eine neue autoritäre Konstellation in der Bundesrepublik. Während Jens Spahn in bester Orbán-Manier mit Moralisierung, medialer Vorverurteilung und kalkulierter Eskalation arbeitet, zögert die SPD – und liefert damit unfreiwillig das Drehbuch für den nächsten Angriff auf unabhängige Institutionen.
Die Wahl der renommierten Juristin Frauke Brosius-Gersdorf wurde auf unbestimmte Zeit verschoben, ihr Name durch die Debatte beschädigt. Die Union laviert, die SPD verteidigt, aber ohne strategischen Kompass. Was hier verhandelt wird, ist mehr als ein Personalstreit: Es geht um die Frage, ob das höchste deutsche Gericht politisch domestiziert werden kann – und ob eine Partei wie die SPD noch versteht, was hier auf dem Spiel steht.
Das Spahn-Schema: Rechter Kulturkampf durch Institutionen
Spahn hat nicht argumentiert, er hat attackiert. Nicht die juristische Qualifikation der Kandidatin stand zur Debatte, sondern moralische Andeutungen: Plagiatsvorwürfe, politische Nähe zu Grünen und Linken, Kritik am Selbstbestimmungsgesetz. Die Strategie ist durchsichtig – und brandgefährlich. Was in den USA längst zum Standardrepertoire rechter Akteure gehört, kommt nun im Gewand deutscher Koalitionslogik daher: Diskreditierung durch Skandalisierung, Zermürbung durch mediale Überinszenierung, Blockade durch Nebelkerzen.
Es ist ein Lehrstück: Wer die symbolischen Schlüsselstellen besetzen kann – Universitäten, Justiz, Medien – kann politische Hegemonie verschieben, ohne einen Wahlsieg. Antonio Gramsci hätte es nicht besser beschreiben können.
Die SPD – Verteidigerin ohne Stimme?
Die SPD hat sich diesmal gewehrt. Sie will an ihrer Kandidatin festhalten, und das ist mehr als bloßer Koalitionsgehorsam. Doch die Art ihrer Verteidigung bleibt schwach. Kein offensiver Einsatz für juristische Unabhängigkeit, keine breite gesellschaftliche Mobilisierung, keine Koalition mit progressiven Kräften – nur ein verwalteter Konflikt. Die SPD reagiert, wo sie führen müsste.
Das Problem ist tiefer: Die Sozialdemokratie hat sich so stark in die Logik der institutionellen Mitte eingepasst, dass sie in Momenten der Polarisierung keine Sprache mehr hat. Sie verteidigt, was längst verloren geht – anstatt selbst zu attackieren. Damit bleibt sie im Machtspiel nur Staffage: legitimierend, aber nicht gestalterisch.
Der Richter:innenstuhl als Testfeld für rechte Macht
Die Idee, die Besetzung des Verfassungsgerichts zu politisieren, ist nicht neu. Doch was sich jetzt zeigt, ist ein Tabubruch: Die CDU nutzt ihre Vetomacht nicht zur Prüfung der Eignung, sondern zur Durchsetzung ideologischer Positionen. Dass das Gericht in Zukunft auch über die Legitimität der Ampelpolitik urteilen wird – etwa zum Selbstbestimmungsgesetz – ist kein Zufall. Die Besetzung ist ein Hegemoniekampf. Und der Konservatismus spielt auf Zeit – mit dem Ziel, das politische Klima weiter nach rechts zu verschieben.
Das wahre Problem: Keine Gegenmacht in Sicht
Während rechte Akteure strategisch agieren, fehlt auf der anderen Seite eine politische Gegenmacht. Die SPD ist institutionell eingebunden und taktisch gelähmt. Und progressive Bewegungen? Sie beobachten – aber intervenieren nicht.
Dabei wäre genau jetzt der Moment, um zivilgesellschaftliche Allianzen zu schmieden: für eine demokratische Justiz, für antifaschistische Rechtspolitik, für soziale Verteidigung gegen autoritäre Verschiebungen. Denn diese Wahl war kein Einzelfall. Sie war ein Vorbote.
Was jetzt zählt: Rechte Strategien benennen – und öffentlich zurückdrängen
Was wir brauchen, ist nicht nur die Wahl einer progressiven Juristin – sondern eine demokratische Erzählung, warum das wichtig ist. Wir müssen benennen, was hier geschieht:
- ein Angriff auf den Rechtsstaat durch die Hintertür,
- ein Kulturkampf von rechts,
- und eine SPD, die sich entscheiden muss: Reine Verteidigung – oder offensive Hegemoniearbeit.
Die Justiz ist nicht neutral. Sie ist ein Terrain politischer Kämpfe – und sie wird entweder zum Bollwerk gegen autoritäre Transformation oder zu deren Werkzeug. Wer sich nicht wehrt, hilft mit.
Schlussfolgerung: Der Kampf beginnt nicht im Gericht, sondern in der Gesellschaft
Wenn eine progressive Nominierung durch rechte Kulturkampfstrategien verhindert werden kann, ist es an der Zeit, die Debatte zu drehen: Weg vom Koalitionsgezänk – hin zu einer öffentlichen Auseinandersetzung über Demokratie, Gerechtigkeit und Autoritarismus.
Nicht die Union muss blockieren dürfen – sondern die Gesellschaft muss schützen lernen. Das Bundesverfassungsgericht ist nicht sakrosankt – aber es ist ein Symbol. Und wer es kampflos dem rechten Kalkül überlässt, hat den Ernst der Lage nicht erkannt.
Der Beitrag von Sascha Schlenzig ist am 13.Juli 2025 zuerst erschienen in Kritik & Praxis – Verstehen. Hinterfragen. Verändern. Wir danken für das Publikationsrecht.
Siehe auch aktuell zum Thema: Berufsverbote gegen AFD Mitglieder im Staatsdienst? Oder trifft es am Ende wieder ganz andere?
Titelbild:Collage Kritik & Praxis