Militärrepublik Deutschland

Deutschland steht nach den jüngsten Ankündigungen von Merz und Wadephul zur Hochrüstung der Bundeswehr zur „konventionell stärksten Armee Europas“ mit fünf Prozent des BIP vor dem umfassendsten sozioökonomischen Wandel seit 1990.

Newsletter German Foreign Policy v. 19.5. 2025

Bild: pixabay

BERLIN (Eigener Bericht) – Deutschland steht nach den jüngsten Ankündigungen der neuen Bundesregierung zur geplanten Hochrüstung der Bundeswehr und zum Kampf um die militärische Führung in Europa vor einem massiven Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft. Bundeskanzler Friedrich Merz hatte vergangene Woche erklärt, die Bundeswehr solle „zur konventionell stärksten Armee Europas“ werden. Außenminister Johann Wadephul hatte sich ausdrücklich zu dem in Planung befindlichen neuen NATO-Ziel bekannt, künftig fünf statt zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für militärische Zwecke auszugeben. Berlin sei „bereit, in eine Führungsrolle in Europa zu gehen“ und „andere aufzufordern, uns zu folgen“, äußerte Wadephul. Mit einer heftig schuldengetriebenen Hochrüstung könnte die Bundeswehr tatsächlich die Streitkräfte Frankreichs hinter sich lassen, das wegen seiner jetzt schon sehr hohen Verschuldung keine exzessiven Rüstungskredite aufnehmen kann, ohne eine drastische Finanzkrise befürchten zu müssen. Die Entwicklung geht mit einem deutlichen Machtgewinn der Rüstungsindustrie auf Kosten ziviler Branchen und mit dramatischer gesellschaftlicher Militarisierung einher. Es droht der wohl umfassendste soziale Wandel seit 1990.

„Die stärkste Armee Europas“

Absolute Priorität im gesamten Handeln der neuen deutschen Regierung hat „die Stärkung der Bundeswehr“. Diese stehe „in unserer Politik an erster Stelle“, bekräftigte Bundeskanzler Friedrich Merz in seiner Regierungserklärung am vergangenen Mittwoch. Dabei wolle die Bundesregierung „alle finanziellen Mittel zur Verfügung stellen“, die die Streitkräfte benötigten, „um zur konventionell stärksten Armee Europas zu werden“.[1] „Unsere Freunde und unsere Partner“, behauptete Merz, „fordern es geradezu ein“. Darüber hinaus wolle die Regierung Deutschland „zu einer Wachstumslokomotive“ machen, „auf die die Welt mit Bewunderung schaut“. Das sei auch außenpolitisch notwendig, erklärte Merz: „Deutschlands Gestaltungskraft in der Welt steht und fällt mit unserer wirtschaftlichen Stärke.“ Außerdem wolle Berlin „Initiativen ergreifen“, die darauf abzielten, dass „Europa seinem Anspruch und seiner Bedeutung in der Welt gerecht wird“. „Dieses Europa blickt heute auf uns, auf Deutschland“, fuhr Merz fort: „Europa erwartet etwas von uns.“ Der Kanzler räumte dabei ein, dass „die Entscheidungen“ der Regierung – etwa die klare Priorisierung des Militärs – „prägend sein“ werden „für das Leben unserer Kinder und unserer Enkelkinder“. Sie dürften die Bundesrepublik in der Tat tiefgreifend verändern.

Deutschland in der „Führungsrolle“

Umfang und Ziel der Hochrüstung präzisierte Außenminister Johann Wadephul am Rande eines Treffens mit seinen NATO-Amtskollegen am vergangenen Donnerstag in Antalya. Mit Blick auf das Ziel von NATO-Generalsekretär Mark Rutte, die Militärausgaben der Mitgliedstaaten verpflichtend auf fünf Prozent ihres nationalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) festzulegen, erklärte Wadephul: „Die neue Bundesregierung unterstützt [das] vollständig“. Deutschland sei „bereit und in der Lage“, die Aufstockung der Militärausgaben auf rund das Zweieinhalbfache seiner gegenwärtigen Aufwendungen für die Streitkräfte zu leisten.[2] Die Mittel sollen dabei gesplittet werden; 3,5 Prozentpunkte sollen der Bundeswehr direkt, 1,5 Prozentpunkte der militärischen Infrastruktur zugute kommen. Mit dem BIP-Anteil von fünf Prozent verdrängt die Militarisierung tatsächlich den bislang größten Haushaltsposten für Arbeit und Soziales, aus dem insbesondere Renten und Sozialleistungen gezahlt werden, auf Platz zwei. Beim aktuellen Stand des BIP flössen 150 Milliarden Euro (statt aktuell 52) in den Militärhaushalt, 65 weitere Milliarden in militärische Infrastruktur.[3] Berlin sei „bereit, in eine Führungsrolle in Europa zu gehen, Vorbild zu sein und andere aufzufordern, uns zu folgen“, erklärte Wadephul in Antalya.[4]

Der Weg ist frei

Der von Merz und Wadephul bestätigte Plan, die Bundeswehr zur stärksten konventionellen Streitmacht in Europa aufzuwerten und ihr die Führungsrolle unter den europäischen NATO-Staaten zu verschaffen, könnte unter finanziellen Aspekten aufgehen. Bislang gelten die Armeen Frankreichs und – jenseits der EU – Großbritanniens weithin als schlagkräftiger als die Bundeswehr. Allerdings gilt es als äußerst zweifelhaft, dass die beiden Staaten ihren jeweiligen Militärhaushalt so stark aufstocken können wie Deutschland. Ursache ist, dass es für Berlin nach einem entsprechenden Beschluss des Bundestags möglich ist, Schulden zur Aufrüstung in beliebiger Höhe aufzunehmen, während dies insbesondere für Frankreich kaum machbar erscheint; der Internationale Währungsfonds (IWF) schätzt den Anteil der französischen Schulden am BIP für das Gesamtjahr 2025 auf 116,3 Prozent – ein Wert, der bei übermäßiger Steigerung in eine neue Schuldenkrise ähnlich der Eurokrise vor eineinhalb Jahrzehnten zu führen droht. Paris, dem der Weg zur schuldenfinanzierten Hochrüstung à la Deutschland damit versperrt ist, dürfte künftig bei der Beschaffung von Kriegsgerät hinter Berlin zurückfallen.[5] Für Großbritannien, dessen Schulden der IWF auf 103,9 Prozent des BIP beziffert, sieht es ähnlich aus. Damit wäre für Deutschland der Weg frei, zur stärksten Militärmacht Europas aufzusteigen.

Der militärisch-industrielle Komplex

Mit der beispiellosen Hochrüstung, die die Bundesregierung in der vergangenen Woche in Aussicht gestellt hat, könnte Deutschland nicht nur tatsächlich zur stärksten konventionellen Militärmacht Europas werden. Es droht auch eine erhebliche Verschiebung in den inneren Kräfteverhältnissen der deutschen Wirtschaft. Bislang ist die Kfz-Industrie die mit Abstand größte und mächtigste Branche in der Bundesrepublik, gefolgt vom Maschinenbau und von der Chemie. Laut einer aktuellen Analyse von Deutsche Bank Research erwirtschaftet die Kfz-Branche einen Anteil von fünf Prozent am BIP, während die Rüstungsindustrie bloß auf einen Anteil von 0,2 Prozent kommt.[6] Allerdings schrumpft die Autobranche; Deutsche Bank Research beziffert den Rückgang der Produktion auf 31 Prozent von 2011 bis 2024, gibt die Auslastung großer Werke von Volkswagen mit nur 25 Prozent (Osnabrück) oder 35 Prozent (Dresden), von Ford mit 30 Prozent (Saarlouis) an – und schlägt vor, den längst in Gang befindlichen Prozess der Übernahme von Kfz-Werken durch Rüstungskonzerne mit Nachdruck voranzutreiben. Damit ließen sich die Beschaffung neuer Kapazitäten sowie die Umstellung auf Serienfertigung von Kriegsgerät beschleunigen. In dem Maß, in dem das Gewicht der Kfz-Industrie sinkt, nehmen das Gewicht und der politische Einfluss der Rüstungsindustrie zu.

„Kollektiver Opfermut“

Nicht zuletzt steht der Bundesrepublik eine massive gesellschaftliche Militarisierung bevor. Dies betrifft zum einen die Indienststellung bislang weitgehend ziviler sozialer Segmente für Aufgaben, die in künftigen Kriegen anfallen. So nimmt etwa der Druck auf Krankenhäuser zu, nicht etwa die mangelhafte Versorgung der Bevölkerung zu verbessern, sondern sich auf einen etwaigen Krieg vorzubereiten, bei dem laut offiziösen Schätzungen mit wohl rund 1.000 verletzten Soldaten pro Tag zu rechnen sei (german-foreign-policy.com berichtete [7]). Zum anderen wächst der Druck auf Zivilisten, individuell Vorkehrungen zu treffen, um bei einem Waffengang sich selbst schützen zu können; die Bevölkerung müsse so rasch wie möglich „resilienter werden“, sich etwa mit Notvorräten eindecken, heißt es regelmäßig.[8] Zunehmend wird auch gefordert, die Bereitschaft, das eigene Leben zu opfern, müsse stärker werden: „Alle herausragenden Kulturleistungen“ hingen am „Einsatzwillen von Individuen und Gruppen“, hieß es kürzlich in der einflussreichen Frankfurter Allgemeinen Zeitung; „der kollektive Opfermut“ sei „die kardinale Ressource jeder kriegerischen Verteidigung“ und müsse deshalb gefördert werden.[9] Laut einer aktuellen Umfrage sprechen sich inzwischen 50 Prozent der Bevölkerung dafür aus, Deutschland „kriegstüchtig“ zu machen; lediglich 31 Prozent sind dagegen. Allerdings sind bisher nur 29 Prozent bereit, „Deutschland mit der Waffe zu verteidigen“; 54 Prozent lehnen dies ab – noch.[10]

Mehr zum Thema: Das Fünf-Prozent-Ziel der NATO.

[1] Regierungserklärung von Bundeskanzler Friedrich Merz zur neuen Bundesregierung vor dem Deutschen Bundestag am 14. Mai 2025 in Berlin.

[2] Thomas Gutschker: Deutschland will die NATO anführen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 16.05.2025.

[3] S. dazu Das Fünf-Prozent-Ziel der NATO.

[4] Thomas Gutschker: Deutschland will die NATO anführen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 16.05.2025.

[5] S. dazu Verbündete Rivalen.

[6] Germany’s shrinking auto industry may be key to defence ramp up. dbresearch.com 31.03.2025. S. auch Konversion rückwärts.

[7] S. dazu Zivilisten im Krieg (I).

[8] Hauke Friederichs: „Die Bevölkerung in Deutschland muss resilienter werden“. zeit.de 12.05.2025. S. dazu Zivilisten im Krieg (II) und „Krieg geht alle an“.

[9] Egon Flaig: Kann die Demokratie ohne Opferbereitschaft überleben? faz.net 11.03.2025.

[10] Hermann Binkert: Wie die Deutschen ticken: Ja zur Kriegstauglichkeit, nein zum Kämpfen. theeuropean.de 18.05.2025.

Quelle: https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9978

Befreiung ohne Befreier

Bundestag schließt Repräsentanten Russlands und Belarus‘ von Weltkriegsgedenken aus. Führende Tageszeitung behauptet Kontinuität eines „großrussischen Imperialismus“ – „vor Hitler“, in den 1940er Jahren, im Ukrainekrieg.

08 Mai 2025

German Foreign Policy

Bild: Sowjetisches Ehrendenkmal im Tretower Park in Berlin. Foto: Jochen Gester

BERLIN/MOSKAU (Eigener Bericht) – Der Deutsche Bundestag sperrt von der heutigen Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag des Kriegsendes alle Repräsentanten Russlands und Belarus‘, deren Vorgängerstaat weite Teile Deutschlands befreit hatte – auch Berlin –, aus. Bereits am Sonntag hatte der russische Botschafter in der Bundesrepublik an den Gedenkveranstaltungen in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Ravensbrück nicht teilnehmen dürfen. Beide Konzentrationslager waren Ende April 1945 von der Roten Armee befreit worden. Durch deutschen Terror kamen 27 Millionen Bürger der Sowjetunion und rund ein Viertel der Bevölkerung der belarussischen Sowjetrepublik zu Tode. Vertreter ihrer Nachfolgestaaten sind beim deutschen Gedenken nicht mehr erwünscht. Zur Begründung heißt es, Russland führe einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Botschafter gleich mehrerer Staaten, die in den vergangenen Jahren fremde Staaten überfallen haben, werden heute im Bundestag erwartet, der seinerseits im Jahr 1999 einen Angriffskrieg beschlossen hat. Grund für die klare Ungleichbehandlung ist, dass Berlin Moskau im Ukrainekrieg niederzuringen sucht. Außenminister Johann Wadephul erklärt, Russland sei „für immer ein Feind“.

„Vom Hausrecht Gebrauch machen“

Die explizite Ausladung der Botschafter sowie anderer offizieller Repräsentanten Russlands und Belarus‘ von den Gedenkveranstaltungen zum 80. Jahrestag des Kriegsendes hatte bereits Anfang April hohe Wellen geschlagen. Damals war eine als streng vertraulich klassifizierte Handreichung des Auswärtigen Amts bekannt geworden, die sich an die Bundesländer, Kreise und Kommunen wandte. In dem Papier hieß es, es dürfe „keine Einladung an russische und belarussische Vertreter zu Gedenken von Bund, Ländern und Kommunen“ geben.[1] Zur Begründung warnte das deutsche Außenministerium vor „Propaganda, Desinformation und geschichtsrevisionistischer Verfälschung“. Beispiele dafür, dass sich Repräsentanten auch nur eines der beschuldigten Staaten bei Gedenkfeiern solcher Provokationen schuldig gemacht hätten, konnte ein Regierungssprecher in der Bundespressekonferenz freilich nicht nennen.[2] In der Handreichung des Auswärtigen Amts hieß es weiter, sollten Repräsentanten der zwei Staaten „unangekündigt erscheinen“, könnten die Veranstalter des jeweiligen Gedenkens „von ihrem Hausrecht Gebrauch machen“. Damit stellte das Ministerium den Hinauswurf von Vertretern von Ländern frei, denen der deutsche Vernichtungskrieg eine beispiellose Zahl an Todesopfern abverlangt hatte – mutmaßlich 27 Millionen im Fall der Sowjetunion, deren Nachfolgestaat Russland ist; ein Viertel der Bevölkerung von Belarus.

Ausdrücklich ausgeladen

In der Praxis wurde die Berliner Direktive, die noch von der vormaligen Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) verantwortet wurde, nur teilweise umgesetzt. So konnte der russische Botschafter Sergej Netschajew am 16. April am offiziellen Gedenken an die Schlacht um die Seelower Höhen teilnehmen. Die Schlacht eröffnete die letzte große Offensive der Roten Armee zur Befreiung Berlins; in ihr wurden mehr als 33.000 sowjetische Soldaten getötet. Teilnehmen konnte Netschajew auch an den Erinnerungsfeiern in Torgau, wo sich am 25. April 1945 sowjetische und US-amerikanische Soldaten im Verlauf der Befreiung Deutschlands erstmals die Hand reichten.[3] Allerdings politisierte der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer das Gedenken, indem er Russland Kriegsschuld vorwarf – am Ukrainekrieg. Nicht teilnehmen durften Netschajew sowie sein belarussischer Amtskollege an den offiziellen Gedenkveranstaltungen in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Ravensbrück am 4. Mai. Die Konzentrationslager waren Ende April 1945 von der Roten Armee befreit worden. Man habe den russischen Botschafter ausdrücklich ausgeladen, teilte der Leiter der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Axel Drecoll, mit; falls er dennoch komme, „werden wir unser Hausrecht durchsetzen – in enger Abstimmung mit den Sicherheitskräften“.[4]

Der Club der Angriffskrieger

Auch an der Gedenkveranstaltung im Deutschen Bundestag am heutigen Donnerstag dürfen die Botschafter Russlands und Belarus‘ nicht teilnehmen. Eingeladen sind nach Angaben aus dem Parlament aber die Botschafter aller anderen in Berlin vertretenen Staaten.[5] Dazu gehören Repräsentanten der anderen Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, denen Berlin die Befreiung vom NS-Regime ebenso zu verdanken hat wie der Sowjetunion respektive ihrem Nachfolgestaat. Der Teilnahme des US-Botschafters steht die Tatsache nicht entgegen, dass die Vereinigten Staaten – unter anderem – den Irak im Jahr 2003 mit einem Angriffskrieg überzogen. Die Botschafter Frankreichs und Großbritanniens werden nicht mit Hinweis auf den Angriffskrieg ausgesperrt, den ihre Staaten im Jahr 2011 gegen Libyen führten. Auch die Tatsache, dass der Veranstalter des Gedenkens, der Deutsche Bundestag, im Jahr 1999 dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Jugoslawien mehrheitlich zustimmte, hat heute für das Gedenken keinerlei Folgen. Mit Blick auf eingeladene Ukrainer heißt es, man könne es ihnen nicht zumuten, gemeinsam mit Vertretern Russlands des Kriegsendes zu gedenken. Wie möglicherweise anwesende Repräsentanten des Iraks, Libyens und Serbiens es empfinden, gemeinsam mit Repräsentanten der USA, Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands die Berliner Gedenkveranstaltung zu begleiten, wurde noch nie gefragt.

Kein Anspruch auf Respekt

Lediglich der ehemalige Bundestagspräsident und heutige Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung Norbert Lammert (CDU) lässt Kritik an der Ausgrenzung Russlands erkennen. Er sei sich „nicht sicher“, ob staatliche Vorgaben wie die erwähnte Handreichung des Auswärtigen Amts angemessen seien, äußerte Lammert im ZDF; jedenfalls könne es „keinen vernünftigen Zweifel daran geben, dass unabhängig von aktuellen Entwicklungen, so schmerzlich, so bedrückend, so brutal sie auch sein mögen, Opfer von Kriegen“ – Lammert bezog das auf die sowjetischen Opfer im Weltkrieg – „Anspruch auf Respekt haben“.[6] Das Auswärtige Amt und der Deutsche Bundestag sehen dies im Falle Russlands und Belarus‘ anders.

„Die Brutalität der Roten Armee“

Die Ausgrenzung Russlands und Belarus‘ vom Berliner Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs geht mit Bestrebungen einher, das Vorgehen der Sowjetunion im Krieg sowie nach der Befreiung Deutschlands von der NS-Herrschaft neu zu interpretieren. So haben in den vergangenen Tagen Leitmedien begonnen, den 8. Mai nicht mehr als Tag des Kriegsendes, sondern als Beginn des darauf folgenden Geschehens zu betrachten – dies vor allem mit Blick auf die Umsiedlung der deutschsprachigen Bevölkerungsteile Osteuropas, besonders Polens und der Tschechoslowakei. Dabei war nicht nur von einer speziellen „Brutalität der Roten Armee“ die Rede, „auch wenn sie letztlich an der Befreiung Deutschlands vom NS-Terror entscheidend mitgewirkt hat“, wie etwa der NDR noch einräumte.[7]

„Der russisch-imperiale Komplex“

Mit Blick auf die Umsiedlung selbst hieß es in der vergangenen Woche in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, bei ihr seien „machtpolitische“ Pläne der Sowjetunion „in der langen Linie des großrussischen Imperialismus“ von großer Bedeutung gewesen. So hätten „als reine Kompensation“ für die mit der staatlichen Neuordnung Osteuropas „verloren gehenden polnischen Ostgebiete“ eigentlich „Ostpreußen oder Oberschlesien vollauf genügt“, hieß es in dem Blatt weiter. Dass noch mehr Ostgebiete des Deutschen Reichs Polen übergeben worden seien, sei „allein deshalb“ geschehen, „weil Stalin mit List und Tücke darauf hinarbeitete“.[8] „Die Vertreibung vieler Millionen Menschen in ein Rest-Deutschland“ habe dem „Kreml die Chance“ geboten, „einen überbevölkerten Krisenherd im Kern Mitteleuropas zu schaffen“, behauptet der Historiker Manfred Kittel, der an der Universität Regensburg lehrt; dabei hätten die „Ostvertriebenen“ nach den russischen Plänen „ein Ferment der Unruhe und der sozialen Dekomposition bilden“ sollen. „Der russisch-imperiale Kontext“ sei „in der konkreten diplomatischen Anbahnungs- und später auch in der praktischen Durchführungsphase der Vertreibungen zentral“ gewesen. Den „großrussischen Imperialismus“, fährt Kittel fort, habe es „bereits lange vor Hitler“ gegeben – und es gebe ihn „auch ohne Hitler bis heute“, zum Beispiel „in Form des anhaltenden Vernichtungskrieges“ gegen die Ukraine.

„Für immer ein Feind“

In Kittels Perspektive eines epochenübergreifenden russisch-sowjetischen „Imperialismus‘“ kann es eine Kooperation mit Russland bloß in Phasen relativer russischer Schwäche geben – so etwa in den 1990er und den 2000er Jahren, als die Bundesrepublik durch eine gewisse Zusammenarbeit mit Moskau Zugriff auf die immensen russischen Erdgasvorkommen erhielt. Sobald Russland erstarkt, wäre ein Konflikt mit ihm demnach unvermeidlich. Dazu passt, was der neue deutsche Außenminister Johann Wadephul Anfang Februar im Telefongespräch mit zwei russischen Satirikern zum Ukrainekrieg äußerte: „Wie auch immer der Krieg mit Russland endet – Russland bleibt für uns für immer ein Feind.“[9]

[1] Nicolas Butylin: Geheime Handreichung: Baerbock will keine Russen bei Kriegs-Gedenken. berliner-zeitung.de 04.04.2025.

[2] Florian Warweg: Die fragwürdige Begründung des Auswärtigen Amts für Ausladung russischer Diplomaten vom Gedenken an den 8. Mai. nachdenkseiten.de 09.04.2025.

[3] Kretschmer erinnert russischen Botschafter an Kriegsschuld. spiegel.de 25.04.2025.

[4] Michael Sauerbier: Brandenburg droht Putins Botschafter mit Rauswurf. bild.de 22.04.2025.

[5], [6] Andreas Kynast: 8. Mai: Russen müssen draußen bleiben. zdf.de 03.05.2025.

[7] Henning Strüber: Ende April 1945 dringt die Rote Armee in den Nordosten vor. ndr.de 28.04.2025.

[8] Manfred Kittel: Der russische Imperialismus und die Vertreibung der Deutschen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 30.04.2025. Zu Kittel s. auch Vertreibung aus dem Leben.

[9] Streich mit Johann Wadephul. rutube.ru.

Erstveröffentlicht auf GFP v. 7.5. 2025
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9964

Wir danken für das Publikationsrecht.

„Krieg geht alle an“

Viele verbinden mit dem Begriff „kriegstüchtig“ in erster Linie den gravierenden Ausbau des Militärs, sehen aber noch nicht die ganze Tragweite, mit der diese Militarisierung auch die ganze „Zivil“gesellschaft durchziehen soll. Hier ein Blick darauf in einem Beitrag von GFP (German Foreign Policy ). (Peter Vlatten)

German Foreign Policy, Berlin 9. April 2025

Politiker und Militärs drängen die Bevölkerung zur Vorbereitung auf einen großen Krieg: Notbevorratung, Erste-Hilfe-Kurse, „Zivilschutz“ in der Schule, mehr Mittel für das Rote Kreuz, Kapazitäten für eine „Massenanzahl an Verwundeten“.

BERLIN (Eigener Bericht) – Ministerien, Politiker und die Bundeswehr drängen die zivile Bevölkerung der Bundesrepublik zu gezielten Vorbereitungen auf einen großen Krieg. Nach gängigen, womöglich deutlich zu niedrigen Schätzungen müssen pro Tag wohl mindestens tausend Verletzte von der neuen Ostfront nach Deutschland geholt und dort ärztlich versorgt werden. Das deutsche Gesundheitssystem sei nicht auf eine „Massenanzahl an Verwundeten“ vorbereitet, klagt ein Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen; das müsse sich ändern. Das Deutsche Rote Kreuz moniert, ihm fehlten geländegängige Einsatzwagen sowie „mobile Betreuungsmodule“, um bis zu 1,7 Millionen Hilfsbedürftige zu versorgen. Die EU-Kommission fordert die Bevölkerung auf, Notvorräte für drei Tage ohne Außenkontakt vorzuhalten; deutsche Behörden raten zur Bevorratung für bis zu zehn Tage. Methoden zum Selbstschutz im Krieg sollten verstärkt schon in der Schule erlernt werden, verlangt nun das Bundesinnenministerium. Der Reservistenverband, der bis zu 5.000 Tote pro Tag an einer neuen Ostfront für möglich hält, rät, die Bundeswehr auf bis zu 350.000 Soldaten sowie die Zahl der aktiven Reservisten auf „knapp eine Million“ aufzustocken.

Ein Land in Waffen

Um im Kriegsfall die erwarteten Verluste unter den kämpfenden Truppen ausgleichen zu können, dringen Militärs auf die massive Erhöhung nicht nur der Zahl der aktiven Soldaten, sondern auch der verfügbaren Reservisten. „Im Ernstfall“ benötige Deutschland „mindestens 260.000 Reservisten“, erklärt etwa der Präsident des Reservistenverbandes, Patrick Sensburg (CDU).[1] Zur Zeit gebe es „nur rund 40.000 aktive“ Reservisten; das reiche nicht aus. Sensburg geht zudem davon aus, dass eine weitaus größere Anzahl an aktiven Soldaten nötig sei. NATO-Berechnungen kämen zu dem Ergebnis, „in einem möglichen Krieg“ sei an der NATO-Ostfront „täglich“ von 5.000 Todesopfern unter den eigenen Truppen auszugehen; sie müssten ersetzt werden können. Andernfalls könne man leicht „ausrechnen, wie lange es dauert, bis die Front einbricht“. Schätzungen aus dem Reservistenverband hätten ergeben, dass „300.000 bis 350.000 Soldaten“ erforderlich seien, „um Deutschland in der Fläche mit modernem Kriegsmaterial zu verteidigen“. „Die Zahl der Reservisten“ müsse in etwa „das Dreifache sein“, erklärt Sensburg – „also rund knapp eine Million“. Der Präsident des Reservistenverbandes resümiert: „Wir brauchen ein Massen-Heer“.

Operieren unter Beschuss

Druck machen Politiker und Verbände zudem im Hinblick auf die im Kriegsfall erwartete hohe Zahl an Verletzten. Schon seit längerem kursiert die Zahl von rund 1.000 Verletzten pro Tag, die deutsche Krankenhäuser und Arztpraxen bei eskalierenden Kämpfen an der Ostfront aufnehmen und behandeln müssten.[2] Geht man wie etwa Reservistenverbandspräsident Sensburg von womöglich 5.000 Todesopfern pro Tag aus, wäre mit einer sogar noch deutlich höheren Zahl an Verwundeten zu rechnen. „Die fünf Bundeswehrkrankenhäuser allein reichen nicht aus“, erklärt etwa Generalstabsarzt Johannes Backus – zumal „große Teile ihrer Fachkräfte … im Ernstfall an der Front benötigt“ würden.[3] In der Bundesrepublik würden zur Zeit durchschnittlich 85 Schwerverletzte pro Tag versorgt, heißt es – viel weniger, als bei einem Krieg zu erwarten seien. Das deutsche Gesundheitssystem sei „nicht auf eine Massenanzahl an Verwundeten“ ausgelegt „und schon gar nicht auf die Versorgung unter anhaltenden Drohnenangriffen oder gar Artilleriebeschuss“, klagt der Bundestagsabgeordnete Janosch Dahmen (Bündnis 90/Die Grünen). Das müsse sich ändern.[4] Kurz zuvor hatte die bayrische Gesundheitsministerin Judith Gerlach verlangt, das deutsche Gesundheitssystem müsse „auf kriegerische Angriffe aller Art“ vorbereitet sein.

Mobile Hospitäler

Entschlossene Vorbereitungen auf einen Kriegsfall fordert auch das Deutsche Rote Kreuz (DRK). Wie DRK-Generalsekretär Christian Reuter kürzlich erklärte, gebe es große Lücken im Zivilschutz. So sei man in der Lage, kurzfristig einige zehntausend Menschen zu beherbergen und zu versorgen. Erforderlich seien bei einem Krieg allerdings Kapazitäten für ein bis zwei Prozent der Gesamtbevölkerung, also 840.000 bis 1,7 Millionen Menschen.[5] Investiert werden müsse nicht nur in sogenannte mobile Betreuungsmodule, in denen jeweils mehrere tausend Menschen versorgt werden könnten. Das DRK benötige zum Beispiel auch geländegängige Einsatzwagen in größerer Zahl sowie mobile Hospitäler. Mangel bestehe nicht zuletzt auch beim Personal. So sei es dringend erforderlich, zahlreiche Nichtfachleute zu Pflegeunterstützungskräften auszubilden. Reuter lehnt ein verpflichtendes Dienstjahr für junge Menschen ab, rät aber zu verstärktem Werben um Freiwillige; es sei möglich, bis zu 200.000 jährlich zu gewinnen. Ergänzend solle man – als eine Art Basismaßnahme – wieder verstärkt Erste-Hilfe-Kurse anbieten. Wünschenswert sei es, dafür bis zu ein Fünftel der Bevölkerung zu gewinnen – ungefähr 16 Millionen Menschen.

Notvorrat für zehn Tage

Auf weitere Maßnahmen, die zum Teil auch Privatpersonen erledigen sollen, dringt die EU-Kommission. Sie hat am 26. März ihre Preparedness Union Strategy vorgestellt, die nicht nur eine stärkere zivil-militärische Kooperation vorsieht – zum Beispiel Manöver, die gemeinsam von Streitkräften, Polizei, Feuerwehr und Gesundheitspersonal abgehalten werden sollen –, sondern die auch Schritte fordert, um die Zivilbevölkerung zur Vorbereitung auf Krisen und auf Kriege zu motivieren.[6] Privathaushalte sollen veranlasst werden, Vorräte anzulegen, um mindestens 72 Stunden ohne äußere Hilfe überstehen zu können. Um die Bevölkerung dafür zu sensibilisieren, soll ein „Tag der Bereitschaft“ eingeführt werden.[7] Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) rät, Vorräte nicht bloß für drei, sondern für zehn Tage vorzuhalten; so sollten stets 20 Liter Wasser pro Person, 3,5 Kilogramm Getreide, Brot oder Reis, 4 Kilogramm Gemüse und Hülsenfrüchte sowie weitere Nahrungsmittel zur Verfügung stehen. Auch Kerzen und Streichhölzer gehörten zum Notwendigen hinzu. Wer unsicher sei, erhalte Hilfe beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft: Dieses bietet online einen Vorratskalkulator an.

Grundausbildung in der Schule

Am Montag hat schließlich das Bundesinnenministerium gefordert, speziell auch Kinder und Jugendliche auf den Kriegsfall vorzubereiten. „Auch schon in der Schulbildung“ solle „ein stärkerer Fokus auf den Zivilschutz“ gelegt werden, äußerte ein Sprecher des Ministeriums gegenüber dem Handelsblatt.[8] Der CDU-Außen- und Militärpolitiker Roderich Kiesewetter hält es für „zwingend nötig“, dass in Schulen „der Ernstfall geübt wird“: Empfehlenswert sei „eine Grundausbildung zum Verhalten in Katastrophenlagen“. Für „Zivilschutzübungen an Schulen“ spricht sich demnach auch die Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Bundestagsfraktion, Irene Mihalic, aus. Die FDP-Europaabgeordnete Marie-Agnes Strack-Zimmermann wiederum erklärt, es sei an der Zeit, „vor allem junge Menschen“ „im Hinblick auf äußere Einflüsse oder mögliche Angriffe“ aufzuklären. Strack-Zimmermann behauptet, es gehe bei all diesen Maßnahmen „nicht darum, Angst zu verbreiten“. Vielmehr gelte es, „die Realität bewusst wahrzunehmen“.[9]

„Wo kann ich mich engagieren?“

Unterstützt werden derlei Initiativen von der Bundeswehr. So erklärt etwa der Kommandeur des Bundeswehr-Landeskommandos Baden-Württemberg, Kapitän zur See Michael Giss, mit Blick auf das Ergebnis einer Umfrage, dem zufolge nur ein Drittel aller Deutschen bereit sei, die Bundesrepublik bewaffnet zu verteidigen: „Die anderen zwei Drittel müssen von ihrer Vollkasko-Denke wegkommen und sagen: ‘Wo kann ich mich engagieren?‘“[10] Giss meint zudem ebenfalls, auch die Schulen müssten in die Vorbereitung der Bevölkerung auf künftige Kriege stärker eingebunden werden: „Ich sage immer: Krieg geht alle an.“

[1] Daniel Mützel: „Leute werden haufenweise weggeschickt“. t-online.de 04.04.2025.

[2] S. dazu Das Mindset für den Krieg.

[3] Christian Geinitz: Bundeswehr hat für Krieg nicht genügend Kliniken. Frankfurter Allgemeine Zeitung 19.03.2025.

[4] Chirurgen warnen: Kliniken nicht auf Kriegsfall vorbereitet. aerzteblatt.de 26.03.2025.

[5] Christian Geinitz: Rotes Kreuz: Bevölkerung im Kriegsfall kaum geschützt. Frankfurter Allgemeine Zeitung 07.03.2025.

[6] EU Preparedness Union Strategy to prevent and react to emerging threats and crises. ec.europa.eu 26.03.2025.

[7] Sophie Bierent: EU-Kommission rät Bürgern zum Anlegen eines Notvorrats: Was Sie daheim haben sollten. web.de 28.03.2025.

[8], [9] Dietmar Neuerer: Innenministerium rät Bürgern zur Vorbereitung auf den Ernstfall. handelsblatt.com 07.04.2025.

[10] Südwest-Kommandeur: „Krieg geht alle an“. n-tv.de 27.03.2025.

Der Beitrag ist zuerst erschienen in German Foreign Policy, Berlin 9. April 2025. Wir danken für die Publikationsrechte.

Titelbild, Collage Peter Vlatten

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