Herr Scholz sagt mal wieder Nein

Von Roberto De Lapuente

Marschflugkörper: Mit Olaf Scholz nicht. Er ist – mal wieder – gegen Kriegsgerätlieferungen in die Ukraine. Für den Moment. Zum Schauspiel gehört, dass er sich bald dreht und wieder einen auf Einknickkanzler macht.

Auf Olaf Scholz ist Verlass. Während alle deutsche Welt die Lieferung von Marschflugkörpern namens »Taurus« fordert, gibt sich der Sozialdemokrat zögerlich. Er lege sich noch nicht fest, sagte er der Zone der Finsternis (ZDF). Vor einigen Tagen ließ er sich sinngemäß so zitieren: Wenn es technisch umgesetzt sei, dass Kiew damit nicht russischen Boden angreifen könne, Taurus nur zur Verteidigung der Ukraine – und damit unserer Werte, wir wissen das! – genutzt werden könne, würde er sich überzeugen lassen. Er müsse aber von der technischen Umsetzung überzeugt sein, ließ der Kanzler ausrichten.

Erstaunlich, dieser Scholz scheint ein Tausendsassa, ein Olafdampf in allen Gassen zu sein. Denn dass ein Regierungschef in Deutschland auch noch ein Technikexperte sein kann, der ausgebildeten Technikern ganz genau auf die Finger guckt, das hat diese Republik wahrlich noch nie gesehen. Aber nur Optimisten nehmen an, dass das eine Taktik ist, um eine etwaige Lieferung zu verschleppen.

Der Respekts-, Fortschritts-, Zauder- und Dagegenkanzler

Wir müssen uns diesen Olaf Scholz als Teil einer Inszenierung vorstellen, so wie diese Bundesregierung nie als mehr gedacht war. Es ist immer dasselbe Muster, wenn es Gerät für Selenskyj geben soll. Die Falken fordern, Teile der Regierung und der Sozialdemokraten wanken – die Grünen nicht, die sind längst im Kriege und tragen biologisch abbaubare Stahlhelme – und der Respekts- und Fortschrittskanzler meldet Bedenken an. Nach und nach stürzen sich die Falken auf ihn, die Medien ziehen nach. Dann wird Scholz als Zauderer skizziert, als jemand, der ein schlechtes Bild abgibt, weil er nicht entschlossen wirkt. Am Ende knickt auch er ein.

Was für einen politischen Zwerg wie ihn übrigens eine Leistung darstellt; auf der Höhe, auf der er sich bewegt, ist Einknicken nämlich räumlich gar nicht mehr so einfach. Aber er kriegt es hin; der Mann kann Limbo sogar aufrechtstehend.

Natürlich ist das alles kein wirkliches Dilemma. Es sind immer dieselben Reflexe, immer die gleichen Worthülsen. Man tauscht nur »Leopard« gegen »Taurus« aus und schon hat man eine neue Debattensimulation eröffnet. Dem Bürger soll vermittelt werden, dass da noch jemand ringt. Nein, Deutschland geht nicht unbedacht in den Krieg, unterstützt nicht ohne Bauchschmerzen die Kriegsgerätindustrie. Die Verantwortlichen wägen ab, sie streiten sogar, sind sich uneins. Hier tun sich Diskussionen auf, denn die deutsche Regierung ist eine demokratische Veranstaltung – das soll suggeriert werden. Die machen nicht einfach nur, die gehen in sich und streiten um Positionen.

Wenn der Bundeskanzler dann erklärt, er sei nun von Taurus überzeugt, dann kommt auch immer dasselbe Spiel hinten nach: Alle atmen durch, erklären es als richtigen Schritt und attestieren Olaf Scholz, gerade noch den Bogen bekommen zu haben.

Am Ende ist der Einknick- doch nur ein Fassadenkanzler

Das tut aber der Kanzlerschaft des Sozialdemokraten keinen Abbruch. Das politische Berlin, jene hauptstädtische Blutblase, weiß ja ganz genau, dass der Kanzler hier nur ganz selbstlos eine Rolle spielt. Er hat keine Bedenken, wie man überhaupt annehmen muss, dass der Mann selten Reflexionen nachhängt. Einer muss schließlich das Feigenblatt spielen. Anders als die bürgerlichen Grünen, krempelt dann doch lieber ein Sozi die Ärmel hoch und gibt sich uneitel.

Olaf Scholz ist der Alibikanzler. Die Richtlinieninkompetenz der Stunde – Vorsicht! Regierungskritik delegitimiert den Staat –, die nur dazu da ist, den Schein demokratischer Sittsamkeit zu wahren. Die Deutschen haben aufgrund ihrer Geschichte eine besondere Verantwortung gegenüber sich und der Welt. Einer muss anzeigen, dass wir aus der Historie gelernt haben. Und er, der gute Olaf, der sehr gerne beim Bürgerdialog (aus-)lacht, er tut es. Er soll den Bürgern und dem Ausland darlegen, dass der hässliche Deutsche doch ein Gewissen mit dazugehörigen Bissen im selbigen hat.

Seine Zurückhaltung ist jedoch keine persönliche Gewissensentscheidung, sie ist Anstrich einer Fassadendemokratie, die via Sommerinterviews und Talkshows abgespult und letztlich abgewickelt wird.

Wenn genug gefordert wurde, wenn Taurus durch Millionen von Münder wiederholt wurde, wenn die veröffentlichte Meinung so tut, als habe man schon immer gewusst, was Taurus eigentlich ist, dann wird der Bedenkenkanzler zum Einknickkanzler – dass er aber weder das eine noch das andere ist, spürt man schon recht deutlich. Er ist der Fassadenkanzler, der uns in Beruhigung lullt. Er spielt uns vor, dass alles okay ist, Deutschland sei ein Land verschiedener Meinungen, bis in die höchsten Regierungsämter hinauf. Dass längst getroffene Entscheidungen nur exekutiert würden, schiebt man mit diesem Kniff zur Seite. Das beste Deutschland aller Zeiten eben: Es braucht einen, der das simuliert.

Erstveröffentlichung im Overton Magazin
https://overton-magazin.de/kommentar/politik-kommentar/herr-scholz-sagt-mal-wieder-nein/
Wir danken für das Abdruckrecht.

Wildcat 11/2023: Die Waffen liefern die Reichen, die Armen die Leichen! (II)

Das Kriegsregime und seine ideologischen Apparate

Zu Beginn der russischen Invasion wäre in den meisten europäischen Ländern nicht durchsetzbar gewesen, dass ihre Regierungen Offensivwaffen liefern. Die Bevölkerung musste Schritt für Schritt herangeführt werden. Dafür war das Narrativ vom »heldenhaft kämpfenden Volk der Ukraine« entscheidend. So oft wie Medien UkrainerInnen zeigten, die Molotowcocktails bauten, konnte man den Eindruck bekommen, der Krieg werde allein mit der entschlossenen Selbstverteidigung der Bevölkerung gewonnen.

In den letzten Monaten hat die Kriegsgeilheit vieler Medien die Bundesregierung überholt. Als im November Trümmer der ukrainischen Luftabwehr in Polen einschlugen und zwei Menschen töteten, waren sich viele JournalistInnen sofort einig, dass es eine russische Rakete war und die Nato jetzt zurückschlagen müsse.

Die bürgerlichen Medien wurden im Ukrainekrieg fast körperlich unerträglich: Panzer, Panzer, Panzer. »Es stimmt einfach: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist weitgehend ein Sprachorgan der Grünen geworden. Selbst wenn ich deren Anhänger wäre, könnte mir das als Staatsbürger nicht gefallen. Dafür zahle ich doch keine … Aber da kommt man in trübes Gewässer!«24

Obendrein wird der Krieg banalisiert und verkitscht. Die NZZ titelte Ende Januar: »Deutschland im Panzer-Fieber« und staunte über eine »Außenpolitik auf Emoji-Niveau«, Statements wie »Der Leopard ist befreit« der grünen Bundestagsvize­präsidentin Katrin Göring-Eckardt und »andere Peinlichkeiten«. Auch Baerbocks Auswärtiges Amt hatte in einen offiziellen Tweet ein Leo­parden-Emoji eingesetzt. Passenderweise bekam sie den Karnevals-Orden wider den tierischen Ernst umgehängt. Bereits im Juni 2022 war dem Ukrainer Zhadan der »Friedenspreis des Deutschen Buchhandels« zuerkannt worden, der in seinem Buch Himmel über Charkiw »die Russen« als »Barbaren«, »Verbrecher«, »Tiere«, »Unrat« bezeichnet und ihnen wünscht: »Brennt in der Hölle, ihr Schweine.« Ein Friedenspreis!

Siegeszuversicht verbreiten
Der Militäranalyst William Astore erinnerte neulich daran, wie oft die militärisch Verantwortlichen der USA vor dem Kongress bezeugten, alles liefe nach Plan. »Sie sprachen von ›Fortschritten‹, von Wendepunkten, von erfolgreich ausgebildeten irakischen und afghanischen Streitkräften, die bereit seien, ihre Aufgaben zu übernehmen, wenn die US-Truppen sich zurückziehen. Wie die Kriegsverläufe offenbarten, war das alles Spin und Lügen.«25 Heute läuft das genauso in allen beteiligten Staaten. Aber wer glaubt nach den Brutkästen in Kuwait, den irakischen Massenvernichtungswaffen, nach den Enthüllungen von Katharine Gun und Chelsea Manning den »Sicherheitsexperten« überhaupt noch ein Wort?

Die Mehrheit oder zumindest die Hälfte der Menschen in der BRD wollen diesen Krieg durch Verhandlungen beenden; in einer Forsa-Umfrage meinten 31 Prozent, weitere Waffenlieferungen würden es der Ukraine ermöglichen, den Krieg zu gewinnen, 64 Prozent glaubten das nicht. Aber solche Positionen werden von einer medialen Kriegsbegeisterung und -rhetorik wie 1914 überrollt, vom »bellizistischen Tenor einer geballten veröffentlichten Meinung« (Habermas). Herfried Münkler fluchte: »Wer nicht bereit ist, Waffen in die Ukraine abzugeben, ist moralisch ein Lump.« Für Sascha Lobo und Ralf Fücks ein »Lumpenpazifist« bzw. »Unterwerfungspazifist«. Lobo warf den »Friedensschwurblern« vor, die Ukraine Massenmördern, Folterern und Vergewaltigern zu überlassen. Der ehemalige Pastor und Bundespräsident Gauck befand: »Pazifismus … zementiert nur die Dominanz der Bösen, der Unmenschlichen und der Verbrecher.« Anlässlich der »Münchner Sicherheitskonferenz« setzte er einen drauf, ganz im Geiste der »Deutschen Christen« im Nationalsozialismus: »Auf die hören, die kämpfen wollen!«

Die Friedensbewegung denunzieren

»Journalismus in unserem Land findet in diesen Tagen des Krieges oft nach dem Motto statt: ›Der US-Präsident erklärt, die Bundesregierung verkündet, die Polizei informiert‹. … Heute geht es so weit, dass privat finanzierte sogenannte Faktenchecker auf die Zersetzung von Opposition zur Kriegspolitik hinarbeiten und quasi amtlich erklären, was richtig ist und was nicht richtig zu sein hat.«
(Sevim Dağdelen im Bundestag)

Nach Veröffentlichung des »Manifests für Frieden« von Schwarzer/Wagenknecht, das einen Waffenstillstand und Verhandlungen forderte, stellte die taz Schwarzers ganzes Leben in Frage (»ruiniertes Lebenswerk«). Die FAZ sprach von «Propaganda-Hilfe für Putin», die FR von «Gesinnungspazifismus», der Tagesspiegel von »moralischer Verkommenheit«, der grüne Umweltminister aus Ba-Wü nannte die Demo »die hässlichste Fratze Deutschlands und eine Schande für unser Land«, Habück sah eine »Irreführung der Bevölkerung«.

Die grünen Mandatsträger und ihre Thinktanks können ihre Rolle nur spielen, weil ihr Milieu diesen Kurs trägt. Eine gute Aktion dagegen lief Ende Januar in Berlin. »Ein Rekrutierungskommando der Arbeitsgruppe Wehrertüchtigung des Provisorischen anarchistischen Antikriegsrats Berlin startete am Samstag, dem 28. Januar 2023, eine Mobilmachung. Primäres Ziel war die Aushebung möglichst vieler freiwilliger Männer und Frauen innerhalb des grünen Klientels. Denn der Chai Latte wird nicht am Kollwitzplatz, sondern in der Ukraine verteidigt.«26

»Keine Waffen und Rüstungsgüter in Kriegsgebiete. Am 26.9. Grün wählen!«

… war ein Plakat im Bundestagswahlkampf 2021. Baerbock wollte bei einem Wahlsieg auf den Abzug der US-Atombomben aus der BRD »drängen«. Anfang August 2022 bekannte sie sich in New York »zur deutschen Beteiligung an atomarer Abschreckung«. Das war keine Wende aufgrund des russischen Überfalls auf die Ukraine. Im selben Wahlkampf 2021 hatte sich Habück aus der Ukraine mit der Forderung nach Waffenlieferungen gemeldet.27

Schon 1999 hatte der grüne Außenminister Fischer mit antifaschistischer Pose Serbien bombardieren lassen: »Ich habe nicht nur gelernt ›nie wieder Krieg‹, sondern auch ›nie wieder Auschwitz‹, »no pasaran!«

Mit derselben Masche wurde der russische Überfall auf die Ukraine von den ersten Tagen an als »Vernichtungskrieg« bezeichnet und damit sprachlich an den Vernichtungskrieg der Nazis gegen die Sowjetunion herangerückt. Geschichtsrelativierung im Dienst der inneren Mobil­machung. Der erwähnte taz-Artikel gegen Wagenknecht und Schwarzer schließt: »Man mag sich kaum vorstellen, wie beide etwa 1943 über den Aufstand im nazieingehegten Ghetto von Warschau for­muliert hätten. Amoralisch sie alle, nichts anderes.«

Der Anhang der Grünen ist kriegsbegeisterter als die CSU. Die langjährige Grünen-Politikerin Antje Vollmer sagt, dabei »spielen die Leitmedien – alle im gleichen Alter wie die Grünen – eine zentrale Rolle. In den Talkshows und Rundfunk-Interviews ist es eine Gruppe, die gar nicht so sehr bekannt ist, aber großen Einfluss hat: eine anwachsende Menge von politischen Thinktanks und sogenannten Militär-Experten, die übrigens immer jünger und immer weiblicher zu werden scheinen.«28

Thinktanks

An vorderster Front steht das 2017 von Ralf Fücks und seiner Ehefrau Marieluise Beck gegründete Zentrum Liberale Moderne. »Zwei ehemalige Spitzenpolitiker nutzen sämtliche Netzwerke der Institutionen, in denen sie lange tätig waren, und gründen dann mit Staatsgeld einen antirussischen Think­tank, den sie Non Government Organisation nennen und der durch keine echte Praxis im Land ausgewiesen ist.«29 Aus mehreren ministerialen Töp­fen und dem Bundespresseamt wurden ihnen bis­her fünf bis sechs Millionen Euro zugeschanzt. Ihre erste Aktivität war das Online-Portal Ukraine verstehen. Zusammen mit ukrainischen Nationalisten haben sie z.B. die Demo am 24. Februar 2023 in Berlin mit dem abgeschossenen russischen Panzer veranstaltet.

Mit dem Projekt Gegneranalyse geht der ehemalige KBWler Fücks in der Manier einer Verfassungsschutzbehörde auf Andersdenkende los, um »andere Sichtweisen auf die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse als undemokratisch zu markieren und auszuschalten«. Dieses Projekt hat aus dem Bundesfamilien(!)ministerium bisher fast 300 000 Euro bekommen.30

Angeführt von solchen Thinktanks ist die Zivilgesellschaft zu einer Kriegszivilgesellschaft geworden. Diese forciert den Krieg in der Ukraine auf der Grundlage des Narrativs, dass sie dort selber auf dem Spiel stehe. Wir erleben eine Rückkehr zu den Glaubenskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts – mittendrin die »feministische Außenpolitk«.

»Feministische Außenpolitik«

»Wenn ein Politiker anfängt, über Werte zu schwadronieren, anstatt seine Interessen zu benennen, wird es höchste Zeit, den Raum zu verlassen.« (Egon Bahr)

Die beiden Figuren, die in der BRD am meisten für Waffenlieferungen eintreten, sind Strack-Zimmermann und Baerbock. Strack-Zimmermanns Motive sind ökonomischer Natur; sie ist Vorsitzende des Verteidigungsausschusses und zugleich in den drei wichtigsten Lobbyorganisationen der Rüstungsindustrie: in der Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik, dem Förderkreis Deutsches Heer und der Deutsch-Atlantischen Gesellschaft, deren Vize-Präsidentin sie ist. Außerdem ist sie im Beirat der Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Transparency International und andere halten es für ein Problem, dass sie der Rüstungsindustrie »sehr enge und privi­legierte Zugänge ins Parlament« verschafft.

Antje Vollmer nennt Baerbock: »die schrillste Trompete der neuen antagonistischen Nato-Strategie. Ihre Begründungen verblüffen durch argumentative Schlichtheit.« Auf der Münchner »Sicherheitskonferenz« waren so viele Frauen wie noch nie – Kamala Harris, U. v. d. Leyen, Sanna Marin usw. – und alle haben sich für die Verschärfung des Kriegs ausgesprochen. Im Rahmenprogramm der SiKo gab es ein »Frauen 100-Dinner« im feinen The Charles Hotel, bei dem Baerbock ihre feministische Außen- und Sicherheitspolitik erklärte.»Gut 100 Frauen, darunter zwei Nobelpreisträgerinnen, allerlei Präsidentinnen und Chefinnen aus Wirtschaft und Politik«, beschrieb die Süddeutsche den Abend. »Female Empowerment, feministischer Diskurs, das sind die Zauberworte an den weiß gedeckten Tischen. Das Menü ist vegan«.

Pünktlich zum Internationalen Frauentag hat das Auswärtige Amt dann die Leitlinien feministischer Außenpolitik vorgelegt, die Teil der neuen »nationalen Sicherheitsstrategie« sein sollen. Auf 80 Seiten geht es u.a. um die Förderung von »gendersensiblen Ansätzen in der Rüstungskontrolle und Rüstungsexportkontrolle«; um den Nachweis von Kriegsverbrechen und Bestrafung der Täter: »die Täter zur Verantwortung ziehen – konfliktbasierte sexualisierte Gewalt in der Ukraine«. »Feminismus und Geschwafel«, kommentierte Sonja ­Zekri am 10. März in der Süddeutschen.

»Feministische Außenpolitik« ist integraler Teil einer »wertegeleiteten Außenpolitik«.30a Baerbock versteckt die ökonomischen und politischen Interessen, für die sie eintritt, hinter Werten. Ihre Haltung ist nicht ethisch-moralisch begründet, sondern moralistisch. Ein großer Unterschied. Der Moralismus malt sich die Welt, wie sie ihm gefällt und ist ­bereit, »für das Gute« viele viele Menschen zu opfern. Das Völkerrecht ist nicht mehr Referenzsystem des Handelns der Außenministerin.31 Viele der älteren Kriegshetzer wie Fücks waren früher Maoisten; ihre Vorstellung vom »gerechten Krieg« mussten sie nur leicht anpassen. Und so wie Anti-Imperialisten sich den jeweiligen Gegner der USA schön reden – macht Annalena Baerbock es mit den Gegnern Putins.

Die Machtverhältnisse ändern sich

Die Nato sei »so geeint wie nie« und Russland »weltweit isoliert«, lesen wir täglich in der Zeitung. Dabei ist beinahe das Gegenteil der Fall: Der »Westen« hat weltweit immer weniger Follower, und in der Nato hat eine Machtverschiebung hin zur Achse Washington-London-Warschau stattgefunden. Die US-Regierung stärkt diese gegen die Achse Berlin-Paris und spielt beide gegeneinander aus, ganz wie während des Irak-Kriegs das »neue Europa gegen das alte Europa« (Donald Rumsfeld). Egal wie der Krieg militärisch endet: Russland wird massiv verloren haben, die Ukraine wird verwüstet sein, und die USA werden ihre Rolle als Weltpolizei ausgespielt haben – Europa die seinige als Hilfspolizist ohnehin. Aus der historischen Distanz werden die aktuellen Kriege eine Serie geostrategischer Rückzugsgefechte der USA gewesen sein.

Nachdem er 2021 Präsident geworden war, kam Biden nach Europa, genauer nach England und nach Brüssel, um zu verkünden: Wir sind zurück! Der Abzug aus Afghanistan im Sommer 2021 zeigte das Gegenteil: Er war ein militärisches, moralisches und organisatorisches Versagen den verbündeten Afghaninnen gegenüber, zudem unabgestimmt mit den »Nato-Partnern«, die dann auch Reißaus nahmen.32 In dieser Lage hat Biden die Zuspitzung um die Ukraine herum benutzt, um seine innenpolitischen Kritiker stillzustellen. Nach dem Abzug aus Afghanistan wollte er keine »Schwäche« zeigen und weigerte sich deshalb im Herbst 2021, mit Russland zu verhandeln.

Das richtige Team hatte er schon vor der Regierungsübernahme zusammengestellt. Neben Außenminister Tony Blinken (2009 bis 2013 sein Nationaler Sicherheitsberater als Vizepräsident) und Verteidigungsminister Austin (Vertreter der Rüstungsindustrie), gehören dazu zwei Personen, »die eng in die Bemühungen der USA um den Sturz ­Janukowitschs 2014 involviert waren: Victoria (»Fuck the EU«) Nuland, damals Ministerialdirektorin, heute Staatssekretärin im Außenministerium, sowie Jack Sullivan, damals Sicherheitsberater von Vizepräsident Joe Biden und heute nationaler Sicherheitsberater von Präsident Biden«, »dieselben Neokonservativen, die die gezielten Kriege der USA in Serbien (1999), Afghanistan (2001), Irak (2003), Syrien (2011) und Libyen (2011) vorangetrieben haben. … Im Ergebnis führt Biden die Ukraine, die USA und Europa in ein weiteres Debakel.« Das sagt ausgerechnet Jeffrey Sachs, der US-Ökonom, der nach 1989 die wirtschaftliche Schocktherapie in Osteuropa umsetzte.33

Die Sabotage an Nord Stream – ein »verdeckter Kriegsakt«

Die Nord-Stream-Pipelines galten als zentrales Element der deutschen Energieversorgung. Die USA waren vehement dagegen. Seit den 1950er Jahren hatten sich westdeutsche Regierungen darum bemüht, mit den Russen, damals den Sowjets, Gasröhren-Geschäfte abzuschließen. Der erste Versuch wurde 1962 durch die Kennedy-Regierung noch durch diplomatischen Druck unterbunden. 2022 war es durch Sprengstoff. Die Sprengung von Nord Stream war eine Ausweitung des Kriegs über die ukrainischen Grenzen hinaus. Damit wurde ein Großteil der Möglichkeiten ausgeschaltet, dass die BRD und Russland nach Kriegsende wieder Wirtschaftsbeziehungen aufnehmen.

Am 26. September 2022 wurde Nord Stream gesprengt. Die Message wurde weltweit verstanden. Der ehemalige polnische Außenminister bedankte sich per Twitter bei den USA; US-Außenminister Blinken sah die »enorme Chance, die Abhängigkeit von russischer Energie ein für allemal zu beenden.«34 Einen Tag nach den Explosionen wurde die Baltic Pipe eröffnet, die norwegisches Gas nach Polen transportiert.

Durch die Sprengung traten schätzungsweise 350 000 Tonnen Methangas aus, laut UN »die wahrscheinlich größte jemals aufgezeichnete Freisetzung von klimaschädlichem Methan« (Methan ist etwa 28mal so klimaschädlich wie CO2 und für etwa ein Drittel des globalen Temperaturanstiegs seit der industriellen Revolution verantwortlich).35

Am 8. Februar 2023 veröffentlichte der Investigativ-Journalist Seymour Hersh einen detaillierten Whistleblower-Bericht darüber, wie Taucher der US-Navy auf Anweisung des US-Präsidenten gemeinsam mit der norwegischen Marine die Sprengsätze im Rahmen einer Nato-Marineübung im Juni anbrachten und im September auslösten.36

Am 7. März brachten die New York Times und mehrere deutsche Medien die Meldung, eine pro-ukrainische Gruppe habe mit einer angemieteten Jacht den Sprengstoff zur Pipeline transportiert. Laut Times sei das bereits eine Woche nach dem Anschlag in Geheimdienstkreisen bekannt gewesen und eine skandinavische Delegation in Brüssel informiert worden. Ob es eine Verbindung zu ukrainischen Behörden gibt, sei noch strittig. Laut New York Times halten US-Beamte das für möglich.

Zuvor waren sich alle Experten einig gewesen, nur ein Staat verfüge über die militärischen und geheimdienstlichen Kapazitäten für eine derartige Sabotageaktion. Es bleibt spannend, wie lange die Bundesregierung sich weiter im Schweigen der Lämmer üben will.

Der »globale Süden«

»Globaler Süden« war mal ein linker Kampfbegriff – im Ukrainekrieg wurde er zur politischen Realität. Asiatische, afrikanische und lateinamerikanische Regierungen werden von allen Seiten umworben und treten selbstbewusst auf. Die Menschen im Süden leiden allerdings mehr denn je. 2021 haben die reichen Länder ihnen die Impfstoffe weggekauft, 2022 das LNG.

Im »Süden« versteht niemand die Behauptung, der Ukrainekrieg stelle einen »beispiellosen Bruch des Völkerrechts« dar. Denn ihm gingen zahlreiche illegale Kriege der USA voraus, gewaltsame Absetzungen gewählter Regierungen, die Bombardierungen ziviler Infrastruktur, Drohnenmorde und extralegale Hinrichtungen. Allein der Krieg im Jemen kostete bis heute etwa 400 000 Menschen das Leben, davon fast 70 Prozent Kinder unter fünf Jahren. Die Kriege in Afghanistan, Irak und Libyen haben failed states hinterlassen. Hier waren die Amis die »Irren«, die Kriege führen ohne »positives Kriegsziel« und nachher nur viele Tote und kaputte Infrastruktur hinterlassen.

An den Sanktionen gegen Russland beteiligen sich fast nur die ohnehin dem Westen zugerechneten Staaten. Selbst beim EU-Asean-Gipfel Ende 2022 in Brüssel waren Vietnam, Laos und Thailand nicht bereit, den Krieg Russlands gegen die Ukraine scharf zu verurteilen. Indonesien forderte mehr Gleichheit in den gegenseitigen Beziehungen.37

Die meisten der heute neutralen Staaten waren in den 60er Jahren in der Bewegung der Blockfreien – aber einige, die damals Entwicklungsländer waren, sind heute politisch wie ökonomisch globale Mächte. Nach Anzahl der Menschen und Bruttoinlandsprodukt sind sie in ihrer Summe dem Westen überlegen. Ihre ökonomischen und geopolitischen Interessen stehen gegen eine erneute Blockbildung wie im Kalten Krieg. Die Ansicht, dass die Tage des Westens gezählt sind und dessen Vormacht einer multipolaren Weltordnung weichen muss, bildet ideologisch eine Brücke zwischen Russland und diesem »globalen Süden« inklusive China.

Die USA sind keine alternativlose Führungsmacht mehr – nicht einmal im Nahen Osten. Als die OPEC+ 2022 die Ölproduktion drosselte, um höhere Preise zu erwirken, drohte Biden, Saudi-Arabien keine Waffen mehr zu liefern. Biden wurde dort im Juli sehr kühl empfangen, aber Mitte Dezember bereitete Saudi-Arabien Xi Jinping einen großen Empfang. Die G7-Staaten haben ihre Kontrolle über den globalen Ölhandel überschätzt. Der Preisdeckel auf russisches Erdöl zum Beispiel bewirkte nur, dass Öl umgeleitet wurde.

Russland treibt ein Gasprojekt mit dem Iran voran. Zusammen mit Indien haben beide Länder den internationalen Nord-Süd-Transport-Korridor (INSTC) wiederbelebt. Im Februar 2023 führte Südafrika eine große Militärübung mit Russland und China durch. Und im März 2023 nahmen sogar der Iran und Saudi-Arabien auf Vermittlung ­Chinas wieder diplomatische Beziehungen auf.

Neben Afrika und Asien profitiert auch Lateinamerika von einer multipolaren und blockfreien Welt. Lula da Silva hat sich bereits mehrfach als Vermittler angeboten. Bei der Pressekonferenz mit Scholz Ende Januar schlug er erneut eine Friedens-Initiative vor. Als Biden ihn in Washington drängte, Waffen an die Ukraine zu liefern, antwortete Lula: »Ich möchte mich nicht an dem Krieg beteiligen. Ich will ihn beenden.« Für die USA sind aber B(R)ICS-Staaten als neutrale Verhandler nicht akzeptabel: Sie führen ja diesen und andere Kriege, um zu verhindern, dass eine multipolare Weltordnung an ihre Stelle als globale Führungsmacht tritt. Als die chinesische Regierung Mitte Februar einen Friedensplan für die Ukraine ankündigte, verschärften die USA sofort den Ton und lancierten die Meldung, China wolle Waffen an Russland liefern.

Die USA haben Interesse an einem langen Krieg, um Russland entscheidend zu schwächen. Zudem benutzt Biden den Krieg wie alle demokratischen Präsidenten – außer Carter! – vor ihm als Mittel der Innenpolitik. Verhandlungen wird er erst dann zustimmen, wenn der Krieg innenpolitisch für ihn zu »teuer« wird. Dasselbe gilt auch für Putin, auch er würde den Krieg beenden, wenn er innenpolitisch zu »teuer wird«.

Fußnoten:

[24] Michael Angele zum Deutschlandfunk: »Hilfe, ich halte meinen Lieblingssender nicht mehr aus«, freitag 04/2023.

[25] William Astore: »George Santos, the U.S. Military, and Lying«, 2.2.2023.
www.laprogressive.com.

[26] https://de.indymedia.org/node/256275

[27] Wildcat 108, Sommer 2021, S. 19: »Aber immer, wenn NATO-Länder von ›Werten‹ sprechen, bereiten sie damit Kriege vor… Der Falke Daniel Brössler kommentierte in der Süddeutschen: ›Biden wird [der Bundesregierung] keinen Platz lassen für einen lavierenden Kurs zwischen den Mächten.‹ Und die nächste Bundesregierung mit Beteiligung der Grünen wird freudig einstimmen (Habeck hat ja schon mal die Ukraine sondiert; und Kampfdrohnen lehnt man jetzt auch nicht mehr ab). Kampf-Knarrenbauer hat ja schon mal ein Kriegsschiff nach Ostasien losgeschickt…«

[28] Antje Vollmer: »Für mich hat der Krieg in den Köpfen spätestens 2008 und erst recht 2014 begonnen«, Telepolis, 15.11.2022.

[29] Antje Vollmer a.a.O.

[30] Markus Mohr: »Gegen die, die schon wieder mit den Schweinsteufeln und Schlangengeistern tanzen!« siehe auch: »Ukraine und ›Parallelmedien‹. Rund 4,5 Millionen Euro aus fünf Regierungstöpfen«,
Telepolis, 18.10.2022; dort auch weitere Quellen.

[30] Zur Genese der »feministische Außenpolitik hat Torsten Bewernitz einen lesenswerten Artikel geschrieben: »Zu schön, um wahr zu sein« – Feministische Außenpolitik zwischen Staatsfeminismus und globaler Emanzipation; express 02/2023.

[31] Sehr lesenswert die beiden Interviews mit Daniela Dahn am 25. und 26.12. 2022 auf telepolis: »Völkerrecht nicht mehr Referenzsystem staatlichen Handelns«.

[32] Siehe: Noam Chomsky, Vijay Prashad: The Withdrawal. Iraq, Libya, Afghanistan, and the Fragility of U.S. Power. August 2022.

[33] Lesenswert: Jeffrey D. Sachs »Wider die Lügen: Der neunte Jahrestag des Ukraine-Krieges«, Telepolis 3.3.2023.

[34] US-Außenminister Antony J. Blinken, 30.9.2022.

[35] Die mit Aufrüstung und Krieg verbundene CO2 Belastung der Atmosphäre rechnen die Staaten auf Intervention der USA hin aus ihren Klimaberichten heraus; offizielle Zahlen sind also schwer zu kriegen. Nach Berechnungen eines niederländischen Forschers hat der Krieg im ersten Jahr 100 Millionen Tonnen zusätzliches CO2 produziert. Laut dem Weltklimarat IPCC könnten durch die Nord-Stream-Sabotage 28,5 Millionen Tonnen CO2 dazugekommen sein. (Methan wird in CO2 umgerechnet).

[36] Seymour Hersh: »How America Took Out The Nord Stream Pipeline«; deutsch in junge Welt, 9.2.2023.

[37] »EU-Asean-Gipfel endet ohne gemeinsame Verurteilung Russlands«, Die Zeit, 14.12.2022.

Wildcat 11/2023: Die Waffen liefern die Reichen, die Armen die Leichen! (III)


Die Geschäfte mit der ukrainischen Transformation

»Je weiter der Krieg voranschreitet, desto besser ist es für die ukrainische Führung, ein westliches Protektorat zu werden.«38

Anfang der 2000er Jahre begannen Verhandlungen zu einem Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine; Ende 2013 wollten beide Seiten unterzeichnen. Das Angebot war nicht sonderlich gut, die IWF-Auflagen für Kredite sehr hart. Russland versuchte mit einem Mix aus Sanktionsdrohungen und günstigen Gaspreisen zu erreichen, dass das Abkommen nicht zustande kommt. Der zwischen beiden Seiten lavierende ukrainische Präsident Janukowytsch machte unerwartet einen Rückzieher, was den Aufstand auf dem Maidan auslöste. Janukowytsch floh und im Februar 2014 wurde eine proeuropäische Übergangsregierung eingesetzt. Gleichzeitig begann Russland mit der Annexion der Krim (Februar/März), im Donbass wurden die Volksrepubliken Donezk und Lugansk proklamiert (April/Mai). Im Juni unterschrieb der neu gewählte ukrainische Präsident Poroschenko das Assoziierungsabkommen. Es fügt sich in den Rahmen der »Östlichen Partnerschaft« der EU ein, eine von Polen angeregte Initiative mit dem Ziel, die Staaten der früheren Sowjetunion enger an den Westen zu binden und vor allem die Ukraine dem russischen Einfluss zu entziehen.

2015 verbot Poroschenko alle drei kommunistischen Parteien in der Ukraine. Er ist der Hauptverantwortliche für die nationalistische Politik der »Entrussifizierung« und der vollständigen Durchsetzung der ukrainischen Sprache.

Am 1. September 2017 trat das Abkommen mit der EU in Kraft, begleitet von einem Hilfsprogramm für die Ukraine im Umfang von elf Milliarden Euro für den Zeitraum 2014 bis 2020. Der Vertrag von 2135 Seiten lässt sich »durchaus als Dokument einer freiwilligen Unterwerfung lesen. … Auf ganz klassische Art verpflichten die Artikel über den Handel die Ukraine, die meisten Schranken für den freien Wettbewerb … zu beseitigen.« »Das Assoziierungsabkommen ist in gewisser Weise Ausdruck einer kolonialen Haltung, gab 2013 ein westlicher Diplomat in Kiew zu.«39

Vom Tiefkühlverfahren für Gemüse bis zur Privatisierung der öffentlichen Einrichtungen und dem freien Kapitalverkehr – überall diktiert Brüssel dem »Partner« den juristischen Rahmen. Dazu gehört auch die Verpflichtung, das »Lobbying« zu legalisieren – von wegen »Kampf gegen die Korruption«! Artikel 7 behandelt die »Annäherung im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik einschließlich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik«. Das Kapitel »Zusammenarbeit im Energiebereich einschließlich Nuklearfragen« schreibt vor, dass »Energiequellen, -lieferanten, -transportwege und -transportverfahren« diversifiziert und alle aus der Sowjetunion stammenden Normen zurückgenommen werden sollen. Mit anderen Worten: Die Ukraine muss ihre Wirtschaft »entrussifizieren«.

Auf der Ukraine Reform Conference 2018 wurde die Privatisierung staatlicher Unternehmen beschlossen – gegen den Willen der Bevölkerung. Einer Umfrage zufolge waren damals nur zwölf Prozent der UkrainerInnen pro Privatisierung. 2020 hob Präsident Selenskyj das Verkaufsverbot für Ackerland auf, um die Bedingungen für einen Fünf-Milliarden-Dollar-Kredit des IWF zu erfüllen. Im selben Jahr legte der IWF eine Gesetzesvorlage zur Re-Privatisierung des Bankensektors vor.

Ukraine als Experimentierfeld …

Die Ukraine Recovery Conference im Juli 2022 in Lugano verabschiedete eine Art Marshall-Plan zum Wiederaufbau der Ukraine im Volumen von 1,25 Billionen Dollar. Der Plan ist eine lange Liste von Maßnahmen, um ausländische Investitionen anzuziehen: Privatisierung von Banken und staatlichen Unternehmen bis hin zu den AKWs, kapitalfreundliche Finanz-, Steuer- und Zollpolitik, »gezielte« (statt universelle) Sozialhilfe, vor allem aber »Abschaffung der überholten Arbeitsgesetzgebung«.

In Kriegszeiten wird Wirtschaftspolitik normalerweise staatlich-interventionistisch, paradoxerweise fährt Selenskyj mit Privatisierungen fort und senkt Steuern. Außerdem wurden Arbeitsschutzgesetze gestrichen. Mitte August 2022 unterzeichnete er ein Gesetz, das kleinen und mittleren Betrieben mit bis zu 250 Beschäftigten – hier arbeiten 70 Prozent der ukrainischen Werktätigen – erlaubt, das Arbeitsgesetz auszusetzen; dann gilt nur noch der Arbeitsvertrag.

Am 1. September lancierte Selenskyj die »große Privatisierung«. Am 6. September durfte er virtuell die Eröffnungsglocke der New Yorker Börse läuten und lud Investoren aus aller Welt ein, ukrainische Aktien im Wert von über 400 Milliarden Dollar zu kaufen. USAID hilft beim Verkauf und garantiert die Sicherheit des Investments. Beteiligt ist außerdem die Weltbank und vor allem private Investoren. Selenskyj traf sich mehrfach virtuell mit Larry Fink, dem Gründer von BlackRock.40

Ein weiterer Gesetzentwurf will einen Arbeitstag von bis zu zwölf Stunden einführen und den Kündigungsschutz aufheben.41 Die neuen Arbeitsgesetze hatte Selenskyj bereits 2021 vorgelegt, im Parlament dafür aber keine Mehrheit erhalten. Nachdem im März 2022 im Zuge des Kriegsrechts die restlichen elf oppositionellen Parteien verboten worden waren, reichte es im Sommer 2022 dann für die Mehrheit.

Schon vor dem Krieg war die Ukraine (zusammen mit Moldau) das ärmste Land in Europa. 2021 war der gesetzliche Mindestlohn halb so hoch wie in Bulgarien. 2022 ist das BIP der Ukraine um mehr als 30 Prozent, die Löhne um weitere 25 Prozent gesunken. Der Krieg hat die sowieso schon extreme Ungleichheit weiter verschärft. 17,6 Millionen Menschen – das sind fast 40 Prozent der ukrainischen Bevölkerung – sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Während sich die Reichen vom Kriegsdienst freikaufen können und inzwischen in der West-Ukraine oder im Ausland leben.

… und Lieferant von Arbeitskräften

Schon Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn, die 2004 in die EU aufgenommen wurden, hatten der EU ein großes Arbeitskräftepotenzial geliefert. Die Produktionsverlagerungen in die neuen Mitgliedstaaten waren essenziell für die europäische und vor allem für die deutsche Industrie. Nun soll die Ukraine folgen. Das Assoziierungs-Abkommen sieht die »schrittweise Liberalisierung der grenzüberschreitenden Erbringung von Dienstleistungen zwischen den Vertragsparteien« vor. Solche Leistungen erbringen die ukrainischen Geflüchteten inzwischen in den EU-Ländern vor Ort. Mitte Februar 2023 meldete die Bundesagentur für Arbeit, seit Beginn des Kriegs seien rund 65 000 sozialversicherungspflichtig beschäftigte UkrainerInnen hinzugekommen plus 21 000 in Minijobs. Diese Zahlen würden nach Beendigung von Integrations- und Berufssprachkursen deutlich steigen. In Befragungen an der Grenze gaben 66 Prozent der Flüchtlinge an, einen höheren Bildungsabschluss zu besitzen – der Durchschnitt in der Ukraine ist 29 Prozent, in der EU 33 Prozent. »Ganz bewusst« versuche man, diese Qualifikationen »nutzbar zu machen«, anstatt die Leute sofort in Helferjobs zu vermitteln. Man werde einen noch höheren Anteil in Jobs bringen als bei der Flüchtlingswelle 2014 bis 2016. Laut einer Studie wolle jeder vierte Flüchtling aus der Ukraine langfristig in Deutschland bleiben. Unterstützt werde diese Entwicklung dadurch, dass auch immer mehr Männer im arbeitsfähigen Alter nach Deutschland kämen – ungeachtet der Wehrpflicht in der Ukraine.

»Die Waffen liefern die Reichen, die Armen die Leichen« (Demo-Plakat)

Der Krieg liegt wie eine Bleikappe über allem. Westeuropa und die BRD werden zunehmend hineingezogen – oder schieben sich rein: Der Beschluss der 27 EU-Verteidigungsminister am 30. August 2022, eine europäische Mission zur Ausbildung der ukrainischen Streitkräfte zu entsenden, war eine direkte Initiative der EU. »Die Umwandlung der EU-Kommission in eine Kommandozentrale und politisch-militärische Koordinierungsstelle der interimperialistischen Kriegsanstrengungen ist ein historischer Wandel.«42 Militarisierung ist ein enormer Angriff nach innen.»Ein Düsenflugzeug bedeutet soundsoviele Schulen und Krankenhäuser weniger. Jedes Mal, wenn wir unseren Militärhaushalt aufstocken, greifen wir uns selbst an.« (Noam Chomsky)

Auf den klassischen Friedensdemos sind Leute über 60 in der Mehrheit. Für viele junge Leute ist »Frieden« kein Wert mehr – vielleicht weil sie keine Eltern haben, die noch Krieg erlebt haben? Wer mit der Propaganda der »humanitären Kriege« aufgewachsen ist, fühle sich moralisch verpflichtet zu uneingeschränkter militärischer Hilfe, meint Habermas. Selbst Fridays for Future fordern Frieden und gleichzeitig Waffen für die Ukraine. Das Duo Cohn-Bendit/Leggewie ist opportunistisch genug, sich auch hier noch reinschleimen zu wollen: »Klimaschutz und Waffenlieferungen sind kein Widerspruch.«43 Solche Idioten sind bald Schnee von gestern. Unser größtes Problem sind aber lautstarke Linksradikale, die im Chor mit den Grünen Sanktionen gegen Russland und Waffen für die Ukraine fordern – ohne dass sie irgendeinen Einfluss darauf hätten, wer wem zu welchem Zweck welche Waffen liefert. »Antinationale« verteidigen einen nationalistischen »Volkskrieg«. Ein Erbe der Antideutschen, die vor drei Jahrzehnten jedem Proleten Antisemitismus vorhielten, der es wagte, »wir« zu sagen, und gleichzeitig »Bomben auf Bagdad« forderten. Im Unterschied zu damals räumen heute viele Waffenlieferungsbefürworter mit ihren NS-Vergleichen sogar ihr früheres Beharren auf der Singularität der Vernichtungspolitik der Nazis ab.44

Aber die Ukraine ist nicht Spanien 1936 oder Rojava. Auch große Teile der ukrainischen Linken sprachen zunächst vom »Recht auf nationale Selbstverteidigung«. Vor allem Anarchisten hatten sich nach dem russischen Einmarsch zu den Territorialen Verteidigungskräften gemeldet, die mittlerweile in die Armee integriert wurden. Eine große Rolle spielt(e) hier Sotsyalnyi Rukh (Soziale Bewegung), nach eigenen Angaben mit rund 100 Mitgliedern die bedeutendste »antikapitalistische ­Organisation« der Ukraine: »Heute kämpfen alle, alle stehen an der Front und verteidigen die Ukraine: Linke, Anarchisten, die Gewerkschaften, die Mittelschicht, die extreme Rechte«, rühmte sich deren Mitglied Wladislaw Starodubtschew in der Konkret. Es gibt aber auch ukrainische Linke, die sich im »imperialistischen Krieg zwischen Nato und Russland auf dem Boden der Ukraine« auf keine Seite stellen wollen. Die Erfahrungen an der Front haben auch einige der anarchistischen Vaterlandsverteidiger zum Umdenken gebracht. Die Brutalität des Abnutzungskriegs ändert nicht nur die Moral der Soldaten – es gibt inzwischen viele Desertionen –, sondern auch die politischen Positionen im Westen und die Bereitschaft in der breiten Bevölkerung, den Krieg weiterhin zu unterstützen oder zu ignorieren.45

Auch auf der Schwarzer/Wagenknecht-Kundgebung waren viele, die zunächst für Waffenlieferungen eingetreten waren, aber angesichts der militärischen Eskalation und der vielen Toten jetzt für Waffenstillstand und Verhandlungen plädieren.

»War! – What is it good for? Absolutely nothing!«
(Edwin Starr)

Standen nach dem russischen Überfall UkrainerInnen Schlange vor den Rekrutierungsbüros, so ist der Enthusiasmus verflogen, seit die Soldatenfriedhöfe immer größer werden. Die Armee hat Probleme, Soldaten zu finden, und greift zu illegalen Methoden. Viele verstecken sich oder haben den Weg ins Ausland gefunden. Allerdings sollen schon 10 000 Kriegsdienstverweigerer an der Grenze verhaftet worden sein.

In einem bemerkenswerten Interview äußerten sich ukrainische Soldaten Anfang März zu ihrer Situation in Bachmut und sprachen von einer Überlebensquote von 30:70. Männer würden nach zweiwöchigem Crash-Kurs an die vorderste Front geschickt. Einige forderten den Rückzug.

Russland hat entgegen der Versprechen Putins im Sommer 300 000 Mann zwangsmobilisiert, was den Krieg näher an die Bevölkerung gebracht hat. Das hat zu einer massiven Flucht junger Männer ins Ausland geführt. Im Gegensatz zu Ukrainern bekommen sie in der BRD allerdings keine Anerkennung als Flüchtlinge, da ihr Fluchtgrund nicht »politisch« sei; baltische Staaten schieben Kriegsdienstverweigerer ab. In einem Video-Appell vom 11. März beklagten russische Reservisten, dass sie verheizt werden. Putin solle sich nicht auf dem Papier, sondern vor Ort um die Lage kümmern.

Mitte Februar 2023 jammerte die Weltwoche: »Kürzlich publizierte das Institut Yougov eine Umfrage: Wie viele Deutsche würden ihr Land bei einen ­Angriff verteidigen? Das Ergebnis: 11 Prozent. In Worten: elf. 5 Prozent freiwillig, der Rest gezwungenermaßen. … Was ist da falsch gelaufen?«

Wer könnte ernsthaft Verhandlungen erzwingen?

China hat mehrfach angeboten, Russland zu bremsen, Brasilien hat sich als Vermittler angeboten. Nun will der Papst nach Russland und in die Ukraine fliegen. Sogar Ischinger, der langjährige Vorsitzende der »Münchner Sicherheitskonferenz« spricht sich plötzlich für Verhandlungen aus. Sobald die USA ihre Unterstützung zurückziehen und die Neutralität der Ukraine garantieren, wäre der Krieg erstmal gestoppt.

Ein Waffenstillstand wäre kein Frieden, sondern nur eine Atempause angesichts der Krisen auf allen Ebenen. Damit der Konflikt nicht wieder nur »eingefroren« wird wie 2014 und alle Seiten derweil weiter aufrüsten, bräuchte es eine neue breite, transnationale, soziale und kulturelle Bewegung von unten wie damals gegen den Vietnam-Krieg. Nur sie könnte wirklich was ändern.

Ein Schritt wäre, dass alle Atommächte ihre Nuklearwaffen nur noch auf ihrem nationalen Hoheitsgebiet stationieren. Die Bewegung der Blockfreien fordert das seit Jahren. (Übrigens hatte sich der Bundestag 2010 mit großer Mehrheit für den Abzug der Atomwaffen aus Deutschland ausgesprochen.) Ami go home!

Entscheidend wird die Entwicklung der Klassenkämpfe in Russland, Südafrika, Indien, Iran, China… und vor allem in den USA sein. Sie sind zentral dafür, wie es auf der Welt weitergeht.

»I dedicate this show to the
American deserters«

(Jimi Hendrix 1969)

Die Ukraine: »Im Grenzland des Weißseins«

In ihrem einem lesenswerten Artikel in Luxemburg zeigt Olena Lyubchenko, wie »Ukrainisch-Sein« mit ­»Europäisch-Sein« durch Konzepte von Rasse, Klasse, Geschlecht und Sexualität vermittelt wird. Die Eliten definieren sich zunehmend als »weiße« und »europäische« »ukrainische Nation«. »Das Konzept der ›Selbstbestimmung‹ … wird instrumentalisiert und in der eurozentrischen Denkweise westlicher und ­ukrainischer Eliten von seinen kommunistischen und antifaschistischen Wurzeln abgetrennt.«

Ukrainische Proletarierinnen leisten in Italien, Polen, der BRD, den USA und Kanada Pflegearbeit in ­Privathaushalten. Seit 2014 ist ihre Zahl stark angestiegen, 2020 arbeiteten 2,2 bis 2,7 Millionen UkrainerInnen im Ausland, was 13 bis 16 Prozent der Gesamtbeschäftigung im Land entspricht. Die ukrainische Reproduktionsarbeit »dient auch dazu, eine Grenze um die europäische Zivilisation aufrechtzuerhalten«. Die ukrainische »Leihmutterschaftsindustrie« erzeugte im Jahr 2018 Einnahmen von über 1,5 Milliarden US-Dollar. Gegenüber der indischen oder thailändischen Konkurrenz setzt sie auf den Wettbewerbsvorteil, dass ukrainische Frauen als »weiß« und »europäisch« gelten. Die Ukraine ist womöglich international führend in der Branche. Während die zukünftigen Eltern 38 000 bis 45 000 US-Dollar bezahlen, erhalten die Leihmütter nur 300 bis 400 US-Dollar monatlich und ca. 15 000 US-Dollar am Ende der Schwangerschaft (der Mindestlohn in der Ukraine liegt bei etwa 180 Euro im Monat).

Ukrainische Eizellenspenderinnen und Leihmütter werden als »besonders fruchtbar« dargestellt und als »Trägerinnen des Weißseins« konstruiert. Deshalb seien sie Leihmüttern aus dem globalen Süden vorzuziehen. »Ein normaler Körperbau und ein normales Körpergewicht, helle Augen, Haare und Haut, feine Gesichtszüge sprechen für ukrainische Spenderinnen.« Diese Zuschreibungen homogenisieren das »Ukrainischsein«. Im ukrainischen Nationalismus ist kein Platz für Multikulti. Anders als im globalen Süden, wo Armut das Hauptmotiv sei, kämen die meisten Spenderinnen aus der Mittelschicht, wird behauptet. Aber in Interviews gaben ukrainische Leihmütter an, dass sie durch den Krieg in der Donbass-­Region vertrieben worden sind, anderen ging es darum, ihr geringes Einkommen aufzubessern. (Luxemburg, Oktober 2022)

Fußnoten:

[38] Raúl Sánchez Cedillo: Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine. Argumente für einen konstituierenden Frieden. Februar 2023, S. 30.

[39] Pierre Rimbert: »Kiews falsche Freunde«, in Le Monde Diplomatique 10/22.

[42] »Die ukrainische Volkswirtschaft ist offen für Investoren«, businesswire,
6.9.2022.

[41] Siehe »Ukraine’s anti-worker law comes into effect«, OpenDemocracy,
25.8.2022.

[42] Cedillo, a.a.O., S. 287.

[43] FAZ, 26.2.2023.

[44] Lesenwert: Ingar Solty »Knoten im Kopf« in junge welt, 1.3.23.

[45] Nick Brauns »Stimmen aus der Klandestinität« in junge welt, 23.2.23.

Hier ist die Quelle:
https://www.wildcat-www.de/wildcat/111/w111_krieg.html

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