Wie man die Linke in den Krieg lockt… – oder: „Antiimperialismus“ und „Decolonize Russia!“

Von Leo Ensel

Bild: Wikipedia. „Decolonize Russia!“ In ganze 41 neue Staaten möchte das von US-amerikanischen Neocons unterstützte „Free Nations of Postrussia Forum“ die Russische Föderation zerschlagen. Manche stramme Linke in Europa finden das richtig gut! (Red.) Zur Website der Vereinigung «Free Nations of Postrussia Forum»

Der Stellvertreterkrieg in der Ukraine führt auch im Westen zu höchst merkwürdigen Verwerfungen. Nicht wenige stramme Linke (oder sich als solche Definierende) plädieren plötzlich, in trauter Einheit mit konservativen Scharfmachern, für den Einsatz westlicher Waffensysteme gegen Ziele in Russland – inclusive Taurus-Marschflugkörpern! – Sie dazu zu bringen, ist viel leichter als man denkt: Man muss sie nur richtig ködern.

„Die Linke“, wenn man das mal so unstatthaft verallgemeinern darf, war in ihrer Gesamtheit nie pazifistisch. Im Gegenteil: Dezidiert pazifistische Positionen wurden nicht selten mit Hohn und Spott übergossen. Aber es gab zu allen Zeiten immer wieder große Persönlichkeiten, die zumindest gegen bestimmte Kriege unmissverständlich und wortgewaltig Position bezogen – und diesen Antikriegseinsatz oft bitterst bezahlen mussten. „Antimilitarismus“ nannte man das.

Antimilitarismus

Zu Recht erinnern wir uns jedes Jahr Mitte Januar an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die Persönlichkeiten der deutschen Linken, die einem in diesem Zusammenhang als Erste einfallen. 

Rosa Luxemburg, der es am Vorabend des I. Weltkriegs, 1912, zusammen mit dem französischen Sozialisten Jean Jaurès in Paris gelang, die europäischen Arbeiterparteien im Falle eines Krieges auf einen Generalstreik zu verpflichten (der dann aber, als es ernst wurde, doch nicht stattfand); die im Herbst 1913 auf einer Antikriegsdemonstration in Frankfurt am Main die hundertausende Menschen zählende Menge zu Kriegsdienst- und Befehlsverweigerung aufrief: „Wenn uns zugemutet wird, die Mordwaffen gegen unsere französischen oder anderen ausländischen Brüder zu erheben, so erklären wir: ‚Nein, das tun wir nicht!‘“ und dafür zu 14 Monaten Gefängnis verurteilt wurde; die einen Nervenzusammenbruch erlitt, als die SPD am 4. August 1914 zusammen mit den anderen Reichstagsfraktionen einstimmig für die Aufnahme eines milliardenschweren Sondervermögens zur Kriegsfinanzierung stimmte und kurzfristig sogar an Selbstmord dachte; die zwischen 1915 und 1918 insgesamt drei Jahre und vier Monate in verschiedenen Gefängnissen interniert war und am 15. Januar 1919 von Freikorpssoldaten heimtückisch ermordet und in den Landwehrkanal geworfen wurde.

Karl Liebknecht, der bereits 1907 eine Schrift „Militarismus und Antimilitarismus“ verfasste und dafür noch im selben Jahr wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu anderthalb Jahren Festungshaft verurteilt wurde; der noch im Juli 1914 in Belgien und Frankreich auf Antikriegsveranstaltungen sprach und am 2. Dezember 1914 als einziger Reichstagsabgeordneter den Mut hatte, gegen die Bewilligung eines weiteren Sondervermögens zur Kriegsfinanzierung zu stimmen; der am 1. Mai 1916 als Führer einer Antikriegsdemonstration auf dem Potsdamer Platz das Wort mit den Sätzen „Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!“ ergriff und daraufhin erneut wegen Hochverrats angeklagt und zu vier Jahren und einem Monat Zuchthaus verurteilt wurde, von denen er knapp zwei Jahre absaß; und der am selben Tag wie Rosa Luxemburg von Freikorpssoldaten ermordet wurde.

Das Trojanische Pferd

Noch einmal: Auch wenn man bisweilen situativ antimilitaristisch Position bezog, pazifistisch war „die Linke“ nie. Wie ja überhaupt die Anwendung von Gewalt nie grundsätzlich abgelehnt wurde. Subkutan schwangen immer Ideen vom ‚gerechten Krieg‘, und ‚gerechter Gewalt‘ mit – jedenfalls solange beides entweder revolutionär, antiimperialistisch oder antikolonialistisch war!

Und genau hier liegt die linke Achillesferse. Hier ist der Punkt, wo am Leichtesten ein Trojanisches Pferd in den Diskurs eingeschleust werden kann, mit dem, stellt man es geschickt an, manche Linke (oder solche, die sich dafür halten) bis in einen Dritten Weltkrieg hineingelockt werden können. Im Falle der Ukraine geht das so: 

Schafft man es, bestimmten Menschen, die sich für links halten, die These anzudrehen, die Ukraine befände sich in einem „antiimperialistischen Abwehrkampf“ oder, noch weitergehend, Russland müsse unbedingt „dekolonisiert“ werden, dann hat man diese Leute höchst elegant auf Linie gebracht. Plötzlich finden die sich nämlich besten Gewissens nicht nur in unmittelbarer Nähe zu smart-woken Lifestyle-„Linken“ wie Baerbock, Habeck und Hofreiter, sondern gleich in einer Frontlinie mit den ungeschminkten Scharfmachern Strack-Zimmermann, Kiesewetter, Wadephul und Friedrich Merz wieder. Hätten sie genug Mumm in den Knochen, könnten sie gleich als Interbrigadisten Seit an Seit mit ultranationalistischen ukrainischen Paramilitärs fröhlich in den Kampf ziehen.

Eine atemberaubende „Einheitsfront“, indeed!

„Antiimperialismus“ …

Für die meisten reicht es allerdings vorerst, entsprechendes Gerät in die Ukraine zu schicken oder vom sicheren Hafen aus vollmundig entsprechende Erklärungen in die Welt hinauszutönen. Wie die Spitzenkandidatin der Partei „Die Linke“ für das Europaparlament, Carola Rackete, die September vergangenen Jahres dort zusammen mit Abgeordneten linker Parteien aus Finnland, Schweden und Dänemark für eine Resolution stimmte, in der die Mitgliedsstaaten der EU aufgefordert wurden, „Beschränkungen des Einsatzes westlicher Waffen gegen legitime militärische Ziele im Hoheitsgebiet Russlands unverzüglich aufzuheben“. Einige der „The Left“-Fraktion stimmten sogar ausdrücklich für die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern. (Maßnahmen, denen sich ausgerechnet Ex-US-Präsident Joe Biden mit der Begründung, er wolle eine direkte militärische Konfrontation zwischen den USA und Russland unbedingt vermeiden, lange Zeit verweigert hatte!) In einem Interview mit der italienischen Zeitung „La Stampa“ begründete die ehemalige Kapitänin von Sea-Watch das so: 

„Links zu sein bedeutet, an der Seite der Unterdrückten zu sein, sei es in Palästina, Kurdistan oder der Ukraine. Wenn wir uns darüber einig sind, wer Recht und wer Unrecht hat, können wir nur in diese Richtung handeln. Ich war immer kritisch gegenüber der NATO, aber in diesem Fall ist die Situation ganz klar: Es war Russland, das nach Georgien zum zweiten Mal in die Ukraine einmarschiert ist. Putin erkennt die Souveränität der Ukraine nicht an und will sie zerstören. Es gibt ein eindeutig unterdrücktes Volk und es ist unsere Pflicht, ihm bei der Verteidigung zu helfen. Es ist keine Frage von Ost oder West, von Russland oder der NATO. Es ist eine Frage des Imperialismus. Wir müssen den Schwächeren helfen, sich gegen die Missbräuche der Stärkeren zu verteidigen, und Russland ist eindeutig stärker als die Ukraine. Aus diesem Grund muss die EU weiterhin Waffen an Kiew liefern und zulassen, dass es auf russischem Territorium angreift.“

Wer so schnell weiß, wer hier gut und wer böse ist, wer geradezu reflexartig auf der richtigen, nein: gerechten Seite sich wähnt und entsprechend handelt, hat es natürlich nicht nötig, sich um eine intensive Analyse der Vorgeschichte dieses Krieges und seiner Ursachen zu kümmern. Dass sie mit ihrem Engagement für die „Unterdrückten“ uns alle im Worst Case in einen Krieg mit Russland hineinziehen würde, nimmt die Kämpferin gegen das Unrecht – Putins Drohung mit der Atombombe ist für sie nur „ein Bluff“ – billigend in Kauf!

Mit einem Wort: Wer gegen den Imperialismus kämpft, also Antiimperialistin ist, darf zur Not auch den ganz großen Krieg in Europa, ja am Ende noch den Weltkrieg riskieren – ein wahrlich halsbrecherisches Manöver, dem (und da ist Frau Rackete durchaus konsequent) der Vater der linken Imperialismustheorie, ein gewisser Wladimir Iljitsch Uljanov, seinen Segen sicher nicht verweigert hätte.

… und „Decolonize Russia!“

Noch bunter treiben es Manche – sie verstehen sich ebenfalls als Linke –, die bei dieser Gelegenheit gleich die gesamte Russische Föderation filetieren, pardon: entkolonialisieren wollen. 

Die Idee ist nicht ganz neu und ihre Vertreter stehen spätestens seit dem 24. Februar 2022 wieder aktionsbereit in den Startlöchern. Schon Dick Cheney, von 1989 bis 1993 Verteidigungsminister unter George H.W. Bush, wollte Anfang der Neunziger Jahre „nicht nur die Auflösung der Sowjetunion, sondern auch Russlands selbst, damit es nie wieder eine Bedrohung für den Rest der Welt darstellen kann.“ Was damals verpasst wurde – „das russische Imperium zu zerschlagen“ –, soll nun endlich nachgeholt werden. Ende Mai 2022 schrieb der US-amerikanische Autor Casey Michel in der angesehenen Zeitschrift The Atlantik: „Der Westen muss das 1991 begonnene Projekt zu Ende führen. Er muss versuchen, Russland vollständig zu entkolonialisieren. Sobald die Ukraine Russlands Versuch einer erneuten Kolonisierung abwehrt, muss der Westen die vollständige Freiheit der russischen imperialen Untertanen unterstützen.“ 

Und es blieb nicht bei pompösen Forderungen. Ein im Mai 2022 gegründetes „Free Nations of Postrussia Forum“ – es tagte unter anderem am 31. Januar 2023 im Europäischen Parlament in Brüssel – listet ganze 41 Regionen der Russischen Föderation auf, die es in selbständige Staaten zu verwandeln gilt! Unter anderem finden sich dort, bereits mit den passenden Nationalflaggen, eine Schwarzerde-Republik (prospektive Hauptstadt: Woronesch), eine Wolga-Republik (Samara), die Vereinigten Staaten von Sibirien (Novosibirsk) und eine Pazifische Föderation (Chabarowsk). (By the way: Nationalistische Ukrainer haben sich für den verbleibenden russischen Reststaat auch schon einen neuen Namen ausgedacht: „Moskowien“!)

In Westeuropa sprangen nicht nur Hardliner wie die EU-Außenbeauftrage und Kommissionsvizepräsidentin Kaja Kallas auf den Dekolonisierungszug, auch einige Linke stürzten sich auf den Braten, allen voran die taz und die Heinrich-Böll-Stiftung, die im November 2023 prompt ein „11. Europäisches Geschichtsforum: Dekolonisiert Euch!“ veranstaltete. Kurz: Europäische Linke und stramm neokonservative Kreise der „Einzigen Weltmacht“ wittern in trauter Einheit dekolonialistische Morgenluft! (Auf die Idee, unter diesem Motto auch noch die westliche Hegemonialmacht selbst zu zerlegen, kommt man bezeichnenderweise nicht …)

Die Folgen, falls die Büchse der Pandora tatsächlich geöffnet würde? Die blutigen Kriege Anfang der Neunziger Jahre im postsowjetischen Raum – Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Moldawien – und im zerfallenen Jugoslawien lassen grüßen!

Aber damit nicht genug: Die Nukleardoktrin der Russischen Föderation sieht seit dem Jahr 2020 für den Fall einer Existenzbedrohung des Staates nichts weniger als einen möglichen Einsatz von Atomwaffen vor. Vielleicht sollte man das mit einkalkulieren, bevor man atemberaubende Dekolonialisierungsforderungen forsch in die Welt hinausposaunt. Auch für sich als antiimperialistisch und/oder dekolonialistisch gerierende Linke gilt der klassische Satz aus einem berühmten Buch: 

„An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen!“

Erstveröffentlicht bei GlobalBridge am 29.1. 2025
https://globalbridge.ch/wie-man-die-linke-in-den-krieg-lockt-oder-antiimperialismus-und-decolonize-russia/

Wir danken für das Publikationsrecht.

Veranstaltung: Syriza – der tiefe Fall einer linken Partei

Im Rahmen der langjährigen Zusammenarbeit im Bündnis Griechenlandsolidarität lädt der AK Internationalismus der IG Metall zu der folgenden Veranstaltung ein:

Vortrag und Diskussion

Dienstag, *11. Februar* 2025, 19.30 Uhr

Regenbogenkino, Berlin-Kreuzberg Lausitzer Str. 21a

Referent: *Ilias Chronopoulos*, Mitglied von Syriza und ihrer Jugendorganisation von 2006 bis 2015 (viele Jahre in leitenden Positionen).

Der Eintritt ist frei – eine kleine Spende wird erbeten.
Veranstalter: Bündnis Griechenlandsolidarität Berlin, SoliOli und Regenbogenfabrik. Unterstützt von der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Bild: Collage auf griechischer Quelle

Erstaunlicherweise hat Syriza den Begriff „radikale Linke“ bis heute in ihrem Namen. Innerhalb kürzester Zeit wurde Syriza von einer kleinen linken Partei zur Regierungspartei. Bei den Wahlen 2015 wurde sie zur stärksten Kaft im Parlament. Ohne die Basisbewegungen gegen die Spardiktate der europäischen Institutionen (Troika) hätte sie das nicht schaffen können.
Sie wurde gewählt, weil sie versprach, sich dem Diktat der Troika nicht zu unterwerfen. Nach einem halben Jahr harten politischen Kampfes drehten die Europäer den Griech*innen den Geldhahn zu. Die Griech*innen stimmten in einem Referendum gegen die Unterwerfung unter das Diktat der Troika. Gleichwohl unterschrieb der Syriza-Ministerpräsident Alexis Tsipras wenige Tage später das Spardiktat.

Obwohl viele Mitglieder und Funktionäre daraufhin enttäuscht die Partei verließen, wurde Syriza Ende 2015 wiedergewählt. In den folgenden Jahren aber verlor die Partei immer mehr an Zuspruch und wurde 2019 abgewählt. Tsipras trat nach der nächsten Wahlklatsche 2023 als Vorsitzender zurück. Bei parteiinternen Wahlen, in denen Griechinnen und Griechen auch ohne Parteimitgliedschaft teilnehmen konnten, wurde Stefanos Kasselakis als Vorsitzender gewählt, ein US-Grieche, der nie links war.

Wie kam es dazu, dass Syriza so schnell zur stärksten Partei wurde?

Warum unterwarf Tsipras sich der Troika?

Wie wurde aus einer linken Partei eine bestenfalls im sozialdemokratischen Spektrum einzuordnende Kraft, die kaum noch jemand wählt?


Maidan 2.0

Berlin setzt Entwicklungskooperation mit Georgien aus und befeuert dort die einseitig auf die EU orientierenden Proteste. Die Regierung in Tiflis strebt Mittelstellung zwischen EU und Russland an – wie Kiew bis Anfang 2014.

06 Dez 2024

Newsletter German Foreign Policy

Bild: Georgische Nationalflagge

TIFLIS/BERLIN (Eigener Bericht) – Die Bundesregierung erhöht den Druck auf die Regierung Georgiens und setzt die Entwicklungskooperation mit dem Land aus. Anlass ist die Entscheidung der Regierung in Tiflis, die Bemühungen Georgiens um einen EU-Beitritt bis 2028 auszusetzen. Grund dafür sind die zunehmenden Proteste der einseitig EU-orientierten Kräfte. Die Regierungspartei Georgischer Traum zielt weiterhin auf eine engere Zusammenarbeit mit der EU und der NATO; dabei will sie jedoch nicht auf eine gewisse Kooperation mit ihrem mächtigen nördlichen Nachbarstaat Russland verzichten, ist deshalb bemüht, die Kontrolle über den Annäherungsprozess an die EU nicht zu verlieren, und lässt sich zwar auf gemeinsame Manöver mit der NATO ein, nicht aber auf solche, die lediglich den Aufmarsch für einen möglichen Krieg gegen Russland proben, so die Defender Europe-Serie. Deutschland und die EU befeuern auch anderweitig die Proteste in Georgien, die wie einst die Maidan-Proteste in der Ukraine die exklusive Einbindung des Landes in die westlichen Bündnisse ermöglichen sollen. Während Berlin die Wahlen in Georgien vom 26. Oktober scharf kritisiert, billigt es Irregularitäten bei der Wahl der Pro-EU-Präsidentin in Moldau.

Wahlrecht ohne Wahlmöglichkeit

Wie flexibel Berlin und die EU im Umgang mit Irregularitäten bei Wahlen sind, wenn diese ihren Interessen entsprechen, haben exemplarisch die jüngsten Wahlen in Moldau gezeigt. Diese konnte die amtierende prowestliche Präsidentin Maia Sandu im zweiten Wahlgang am 3. November mit 54,3 Prozent für sich entscheiden. Zuvor hatte Sandu ein Referendum über die Aufnahme des EU-Beitritts als politisches Ziel in die Verfassung des Landes mit 50,4 Prozent knapp gewonnen. Allerdings hatte die im Land lebende Bevölkerung in beiden Fällen anders entschieden – mit knapper Mehrheit für Sandus auf Ausgleich zwischen West und Ost orientierenden Rivalen Alexandr Stoianoglo und mit klarer Mehrheit gegen einen EU-Beitritt. Ihren doppelten Sieg verdankte Sandu einerseits der hohen Zahl der in Westeuropa und den USA lebenden Auslandsmoldauer, die mit erdrückender Mehrheit für sie und den EU-Beitritt stimmten – und andererseits der Tatsache, dass die in Russland lebenden Auslandsmoldauer, die mit erdrückender Mehrheit für Stoianoglo sind und einen EU-Beitritt ablehnen, bei den Wahlen kaum zum Zuge kamen. In Westeuropa und Nordamerika gab es 231 Wahllokale für Auslandsmoldauer, in Russland nur zwei, beide in Moskau – und dies, obwohl in Russland, über weite Teile des Landes verstreut, Hunderttausende Auslandsmoldauer leben.[1]

Als illegitim dargestellt

Blieb in Berlin und der EU jeder Protest gegen die faktische Entrechtung der politisch missliebigen in Russland lebenden Auslandsmoldauer aus, obwohl sie wahlentscheidende Folgen hatte, so attackierten die Union und ihre Mitgliedstaaten die Parlamentswahl vom 26. Oktober in Georgien scharf. Das Europaparlament hatte sich schon vorab in den georgischen Wahlkampf eingemischt und am 9. Oktober eine Resolution verabschiedet, in der es Sanktionen gegen Repräsentanten der Regierungspartei Georgischer Traum forderte.[2] Über die Wahl, die die Regierungspartei nach offiziellen Angaben mit rund 53,9 Prozent gewann, erklärte eine internationale Beobachtungsmission unter Leitung der OSZE, sie sei „im Allgemeinen verfahrenstechnisch gut organisiert und in geordneter Weise durchgeführt“ worden – „jedoch geprägt von einem angespannten Umfeld, häufiger Beeinträchtigung des Wahlgeheimnisses und mehreren verfahrenstechnischen Ungereimtheiten“.[3] Von offenem Wahlbetrug war explizit keine Rede. Eine Neuauszählung von rund 14 Prozent sämtlicher Stimmen, die stichprobenartig in rund zwölf Prozent der Wahllokale durchgeführt wurde, ergab keine signifikanten Fehler.[4] Dies hielt die EU sowie die Mitgliedstaaten nicht davon ab, die Wahl in Georgien faktisch als illegitim darzustellen. Kritik an der Einmischung des Europaparlaments zugunsten der prowestlichen Opposition blieb selbstverständlich aus.

Gewalttätige Proteste

In Georgien selbst wird weiter mit harten Bandagen um die Wahl gekämpft. Die Opposition und Präsidentin Salome Surabischwili weigern sich, sie anzuerkennen. Nach der georgischen Verfassung muss die Präsidentin das Parlament zur konstituierenden Sitzung einberufen. Surabischwili weigerte sich, das zu tun. Als das Parlament, um demokratischen Stillstand zu verhindern, am 25. November zusammenkam, blieben 61 Abgeordnete der Opposition fern; sie weigerten sich, ihre Mandate anzunehmen – ein Versuch, das Parlament zu delegitimieren. Surabischwili sowie eine Gruppe scheidender Abgeordneter hatten beim Verfassungsgericht die Annullierung der Parlamentswahl beantragt; die Präsidentin hatte mit der Äußerung, das Gericht habe nun eine „großartige Möglichkeit, eine tiefe Krise im Land zu lösen“, Druck auf die Richter ausgeübt.[5] Diese entschieden dennoch mit einer deutlichen Mehrheit von fünf zu zwei, die Anträge gar nicht erst zur Entscheidung anzunehmen. Auch Straßenproteste gegen die Regierung dauern an. Polizisten werden mit Pyrotechnik, Lasern und Brandsätzen gezielt angegriffen; bereits am Dienstag wurde von 143 zum Teil schwer verletzten Beamten berichtet.[6] Auch die Zahl der ebenfalls zum Teil schwer verletzten Demonstranten nimmt zu. Darüber hinaus seien mehr als 300 Protestierende festgenommen worden, hieß es am gestrigen Donnerstag.[7]

Nicht um jeden Preis

Im Zentrum der Auseinandersetzungen steht dabei die Entscheidung der Regierung in Tiflis, das Land zwar weiterhin an die EU anzunähern und auch mit der NATO zu kooperieren, dies aber nicht um jeden Preis zu tun, um eine weitere Zusammenarbeit mit dem Nachbarstaat Russland nicht unmöglich zu machen. So hält die Regierungspartei Georgischer Traum zwar am Ziel der EU-Mitgliedschaft fest. Sie hat aber zugleich das sogenannte Transparenzgesetz verabschiedet, das aus dem Ausland finanzierte Nichtregierungsorganisationen dazu verpflichtet, sich offiziell zu registrieren und sich behördlich kontrollieren zu lassen. Vorbild ist der Foreign Agents Registration Act (FARA) in den Vereinigten Staaten – german-foreign-policy.com berichtete.[8] Das Gesetz soll die unkontrollierte Einmischung westlicher Staaten mit Hilfe der Finanzierung und der Steuerung der Opposition verhindern, wie sie vor und bei den Maidan-Protesten in der Ukraine geschah. Georgien arbeitet außerdem eng mit der NATO zusammen; so begrüßten seine Streitkräfte im August 2023 rund 3.500 Militärs aus rund zwei Dutzend NATO-Staaten zum Manöver Agile Spirit in ihrem Land.[9] An dem US-geführten Manöver Defender Europe 23 dagegen nahmen sie nicht teil: Bei dem Manöver wurde konkret der Aufmarsch für einen Krieg gegen Russland geprobt.[10]

Der Druck nimmt zu

Ähneln die Ereignisse vor allem in der georgischen Hauptstadt Tiflis mehr und mehr den Ereignissen im Winter 2013/14 auf dem Kiewer Maidan, so gleichen auch die Aktivitäten der westlichen Staaten, insbesondere Deutschlands und der EU, ihrer damaligen Unterstützung der ukrainischen Opposition. Die georgischen Proteste werden von westlichen Politikern unmittelbar befeuert; so trat beispielsweise der SPD-Bundestagsabgeordnete Michael Roth wiederholt öffentlich vor Demonstranten in Tiflis auf.[11] Nachdem die Regierung des Georgischen Traums am Donnerstag in Reaktion auf die umfassende westliche Einmischung angekündigt hatte, ihre Bemühungen um einen EU-Beitritt bis zum Jahr 2028 auszusetzen, machte sich der EU-Botschafter in Tiflis, Paweł Herczyński, zum Sprecher der Pro-EU-Kräfte im Land: Die Aussetzung der EU-Beitrittsbemühungen, behauptete Herczyński, stehe „im Widerspruch zum Willen der überwiegenden Mehrheit der georgischen Bevölkerung“.[12] Am Dienstag teilte das deutsche Entwicklungsministerium mit, es setze die Kooperation mit Georgien mit sofortiger Wirkung aus; mit der gegenwärtigen Regierung in Tiflis sei eine Zusammenarbeit „nicht mehr sinnvoll umsetzbar“.[13] Bereits am Montag hatten Estland, Lettland und Litauen rund ein Dutzend georgische Politiker und Beamte, darunter Innenminister Vakhtang Gomelauri und den Milliardär und Ehrenvorsitzenden des Georgischen Traums, Bidsina Iwanischwili, mit Einreisesperren belegt.[14] Der Druck „Europas“ auf Georgien, sich exklusiv auf seine Seite zu schlagen, nimmt ganz wie 2013/14 in der Ukraine weiter zu.

Mehr zum Thema: Der Druck der Straße und „Konsequenzen“ für Georgien.

[1] Michael Martens: Die Diaspora hat sie gerettet. Frankfurter Allgemeine Zeitung 05.11.2024.

[2] Joint Motion for a resolution on the democratic backsliding and threats to political pluralism in Georgia. europarl.europa.eu 08.10.2024.

[3] Statement von Kommission und Josep Borrell zur Parlamentswahl in Georgien. germany.representation.ec.europa.eu 28.10.2024.

[4] Teilweise Neuauszählung bestätigt Ergebnis. tagesschau.de 31.10.2024.

[5] Friedrich Schmidt: Georgien am Scheideweg. Frankfurter Allgemeine Zeitung 04.12.2024.

[6] Over 140 Georgian Policemen Injured in Ongoing Anti-Government Protests. caspianpost.com 04.12.2024.

[7] Pro-EU protesters defy Georgia crackdown after police raid opposition forces. france24.com 05.12.2024.

[8] S. dazu „Konsequenzen” für Georgien.

[9] Phillip Walter Wellman: NATO exercise Agile Spirit kicks off in Georgia amid West’s wariness of Russian clout. stripes.com 23.08.2024.

[10] Georgia Will Not Participate in “Defender 23” Military Exercise. civil.ge 02.05.2023. S. auch Am Rande des Krieges.

[11] Michael Roth: Maybe this is my last visit in Georgia as I’m going to leave politics. I hope I can come back as a friend of Georgia. 1tv.ge 11.11.2024.

[12] Othmara Glas: Georgien unterbricht EU-Beitrittsgespräche bis 2028. Frankfurter Allgemeine Zeitung 30.11.2024.

[13] Erklärung von Entwicklungsministerin Svenja Schulze zur Entscheidung der georgischen Regierung, die Beitrittsgespräche mit der EU auszusetzen. bmz.de 03.12.2024.

[14] Litauen, Lettland und Estland verkünden Sanktionen gegen georgische Führung. spiegel.de 02.12.2024.

Erstveröffentlicht bei German Foreign Policy
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9787

Wir danken für das Publikationsrecht.

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