Die Gewerkschaften dürfen sich nicht einbinden lassen!

von Nils Böhlke, Ulrike Eifler und Julia-C. Stange

Eine große Parteienkoalition hat das Ziel die deutsche Nachkriegsperiode endgültig zu begraben. Ihr Ziel: Herstellung der „Kriegsfähigkeit“. Dafür wird auf allen denkbaren Ebenen gearbeitet. War da nicht was? Deutschland hat maßgeblich zwei Weltkriege verursacht. Um dies in Zukunft auszuschließen, hat das Grundgesetz die Verpflichtung erhalten, die Politik auf die Friedenserhaltung zu verpflichten. Darüber setzten sich die heutigen Kriegsertüchtiger leichtfetig hinweg. Auch in den Satzungen dere DGB-Gewerkschaften fand dies seinen Niederschlag. So in der der IG Metall, die alle Mitglieder verpflichtet, sich für die Erhaltung des Friedens und für Abrüstung einzusetzen. Doch der laute Protest des gewerkschaftlichen Führungspersonals gegen eine Politik, die inzwischen über einen 5%igen Anteil des Rüstungsshaushalts am BIP diskutiert- das wäre etwa die Hälfte des Bundeshaushalts – bleibt jedoch aus. Umso wichtiger ist es, dass es Stimmen des Widerstands gibt. Im Mittelpunkt einer Diffamierungskampagne unterschiedlicher Billiger dieser „Zeitenwende“ steht gerade die Gewerkschafterin Ulrike Eifler, die unsere volle Solidarität hat. Wir haben darüber bereits berichtet.

https://gewerkschaftliche-linke-berlin.de/solidaritaet-mit-einer-gewerkschaftlichen-friedenskaempferin-gegen-rechte-diffamierungen/

Im folgenden Artikel analysiert sie zusammen mit zwei Kolleg:innen die aktuelle Situation und folgert, was dies für die Gewerkschaften heißen müsste (Jochen Gester)

Bild: Ingo Müller

Der Koalitionsvertrag von Union und SPD liegt auf dem Tisch. Dabei fällt vor allem eines auf: Die Bereitschaft zu sozi­alen Zugeständnissen geht merklich zu­rück. An ihre Stelle tritt eine zunehmen­de Militarisierung, die mit Angriffen auf den Sozialstaat einhergeht. Insbeson­dere die Ausweitung der gesetzlichen Höchstarbeitszeit mit bis zu 13-Stun­den-Schichten geht an die Grundfes­te gewerkschaftlicher Errungenschaf­ten. Trotzdem sind die Reaktionen der Gewerkschaf­ten verhalten.

Die Gefahr ist groß, dass die SPD sie in den Regierungskurs aus Kriegsvorbereitungen, Sozialabbau und politischer Spaltung einbindet. Davon müssen sich die Gewerkschaften frei machen. Anderenfalls drohen sie, in ge­nau die gleiche strategische Falle zu tap­pen, die sie bereits bei der Einführung der Agenda 2010 geschwächt hatte.

Ein unbegrenztes Aufrüstungsprogramm

Auch wenn der Koalitionsvertrag mit dem Titel »Verantwortung für Deutsch­land« versehen ist: Aus Gewerkschafts­sicht ist der Grundcharakter des Pa­piers von Verantwortungslosigkeit geprägt. Das beginnt bei der Lockerung der Schuldenbremse für Rüstungsaus­gaben und hört bei dem Investitions­programm, das offenbar vorrangig zur militärischen Ertüchtigung der öffentli­chen Infrastruktur beitragen soll, noch lange nicht auf. So sollen alle Rüstungs­ausgaben ab einem Prozent des Brutto­inlandsproduktes (BIP) von der Schul-denbremse ausgenommen sein. Das entspricht nach gegenwärtiger Wirt­schaftsleistung etwa 43 Milliarden Euro. Während die Tarifforderung im öffent­lichen Dienst mangels Finanzierbarkeit nach drei Verhandlungsrunden scheiter­te und schließlich in die Zwangsschlich­tung musste, wurde in derselben Wo­che im Bundestag beschlossen, dass alle Ausgaben über 43 Milliarden Euro – so­fern sie im Zusammenhang mit der Auf­rüstung stehen – problemlos finanziert werden können.

Damit bringt die künftige GroKo et­was auf den Weg, an dem die Ampel ge­scheitert war: eine grenzenlose Aufrüs­tung ohne den frontalen Angriff auf den Sozialstaat. Ebenso wie Christian Lind­ner würde auch Friedrich Merz die Fi­nanzierung der Zeitenwende am liebs­ten über den Abbau des Sozialstaates sicherstellen. Dass sie dennoch den Um­weg über Sondervermögen und kredit­finanzierte Aufrüstung gehen, liegt daran, dass die Zeit für Koalitionen mit größtmöglichen neoliberalen Schnitt­mengen, wie sie beispielsweise mit der AfD möglich wären, noch nicht gekom­men ist. Aktuell brauchen sie die Koali­tion mit der SPD, um die Gewerkschaf­ten und Teile der politischen Linken in ihre Politik aus Aufrüstung und neoli­beraler Wirtschaftswende einzubinden. Der politische Kitt ist die Verschleie­rung des Zusammenhangs von Aufrüs­tung und Sozialabbau. Spätestens aber bei der Frage der Finanzierung der Zin­sen für die Rüstungsmilliarden wird der Freifahrtschein für grenzenlose Rüs­tungsausgaben Fragen der Gegenfinan­zierung aufwerfen. Die Verteilungsfrage wird sich weiter zuspitzen.

Der Klassenangriff im Koalitionsvertrag

So sehr sich Lars Klingbeil und Saskia Esken darum bemühen, den Eindruck zu erwecken, der Koalitionsvertrag kom­me klassenneutralisiert daher, ist er vor allem eines: Ein Angriff auf die Inter­essen der lohnabhängigen Klasse. Wie­der einmal zeigt sich: Wer sich nicht ex­plizit auf die Seite der Lohnabhängigen stellt, stellt sich gegen sie. Die Abschaf­fung des Acht-Stunden-Tages und die Reduzierung der gesetzlich verpflichten­den Betriebsbeauftragten werden erheb­liche Auswirkungen auf Stressbelastung und Unfallrisiko in den Belegschaf­ten haben. Wenn dann noch Überstun­den über die tarifliche Vollzeitarbeits­zeit hinaus steuerfrei gestellt werden, wird dies zu erheblichen Mehrbelastun­gen führen. Christian Lindner hatte be­reits im Frühjahr 2022 angekündigt, dass die Beschäftigten zur Finanzierung der Zeitenwende mehr Überstunden würden leisten müssen. Mit dem Koali­tionsvertrag soll dafür die Grundlage ge­legt werden. Auch der Umbau des Bür­gergeldes sowie die Verschärfung von Mitwirkungspflichten und Sanktionen lässt befürchten, dass diese Maßnah­me – analog zur Agenda 2010 – die Be­legschaften gerade in Zeiten massiven Stellenabbaus in den Industriebetrieben disziplinieren könnte.

Ein echter Paradigmenwechsel aber ist die sogenannte Frühstarterrente, im ahmen derer der Staat für jeden Bür­ger zwischen sechs und 18 Jahren zehn Euro pro Monat in ein individuelles, ka­pitalgedecktes und privatwirtschaftlich organisiertes Altersvorsorgedepot ein­zahlen will. Eine Regierung, die ansons­ten jeden Cent zweimal umdreht, um ihn nicht vielleicht doch lieber in die Hoch­rüstung zu stecken, muss sich zumin­dest den Verdacht gefallen lassen, mit ei­ner derartigen Maßnahme vor allem ein Ziel zu verfolgen: Den Ausstieg aus dem Sozialversicherungssystem und den Ein­stieg in die kapitalgedeckte Rente vor­zubereiten. Dies gilt umso mehr, da der Koalitionsvertrag eine Reform des So­zialstaates noch vor Jahresende ankün­digt. Dazu sollen für den Bereich Rente, Kranken- und Pflegeversicherung Kom­missionen eingesetzt werden, die bereits im vierten Quartal 2025 Reformvor­schläge vorlegen sollen. Inzwischen hat der Chefverhandler der Union, Thorsten Frei, die Katze aus dem Sack gelassen und für das kommende Jahr Einschnitte im Sozialsystem angekündigt. Sie un­terstreichen, dass die »Reform« zulas­ten der breiten Bevölkerung gehen wird. »Gesundheit, Pflege und Rente, das sind die großen Herausforderungen, da wer­den auch unangenehme Entscheidungen getroffen werden müssen«. Eine Um­schichtung der öffentlichen Ausgaben sei seiner Meinung nach notwendig, weil »die Ausgaben für Verteidigung erhöht werden müssen«.1

Die Stimmen der Arbeitgeber

Noch interessanter als der Koalitions­vertrag selbst sind die Reaktionen der Arbeitgeber, flankiert von den Top-Öko­nomen dieses Landes. Ihr Fazit: Im Gro­ßen und Ganzen okay, aber bitte mehr Tempo und noch weniger Zugeständnis­se an den Sozialstaat. So sagte Ifo-Präsi­dent Clemens Fuest, die Richtung stim­me, aber es fehlten Reformen, um die Ausgaben des Sozialstaates zu senken -er schlägt vor, das Renteneintrittsalter heraufzusetzen und die Rentenformel so zu verändern, dass sich der Anstieg der Renten verlangsamt.2 Bankenpräsident Christian Sewing bläst ins gleiche Horn: Der Koalitionsvertrag enthalte wichtige Impulse für dringend benötigte Struk­turreformen, man hätte sich aber an der einen oder anderen Stelle noch mehr ge­wünscht.3 Und für Friedrich Heinemann vom Zentrum für Europäische Wirt­schaftsforschung (ZEW) fehlte es schon dem Sondierungspapierpapier an allem, was Deutschland dringend benötige: hö­heres Renteneintrittsalter, Ausweitung der Wochenarbeitszeit, mehr Eigenver­antwortung im Fall von Krankheit und Pflege, Flexibilisierung des Arbeits­marktes und ein konsequenter Subven­tionsabbau.4 Vor einigen Wochen wurde sogar bekannt, dass Gesamtmetall zwei Wissenschaftler damit beauftragt hat, einen Gesetzentwurf zu verabschieden, der das Streikrecht einschränken soll.5

Die Reaktionen der Arbeitgeber müs­sen im Zusammenhang mit der öko­nomischen Krise gesehen werden. Sie verschärft den Konflikt zwischen Ka­pital und Arbeit nachhaltig. Bereits die Aufkündigung der Tarifverträge zur Beschäftigungssicherung beim Vor­zeige-Automobil-Unternehmen VW im vergangenen Herbst unterstrich, die Zeit der Sozialpartnerschaft scheint zu Ende zu gehen. Der Koalitionsvertrag und die Vorstöße der Arbeitgeber verstärken diesen Eindruck. Insbesondere in der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, aber auch im Acht-Stunden-Tag stecken ge­wonnene und in Gesetze transformierte Klassenkämpfe. Diese anzugreifen, heißt die Grundfeste gewerkschaftlicher Er­rungenschaften anzugreifen.

Soziale Spaltung

Nicht zufällig kommen die Klassenan­griffe in Begleitung einer Rhetorik der sozialen Spaltung. Nicht nur der ange­drohte Leistungsentzug für Bürgergel­dempfänger, auch Maßnahmen zur Ver­schärfung der Migration lenken den Blick nicht auf die wahren Spaltungsli­nien, sondern erwecken den Eindruck, weniger Migranten in der Bundesrepub­lik trügen dazu bei, dass die Daseinsvor­sorge weniger desolat, die Kommunen weniger handlungsunfähig und das Le­ben in der Bundesrepublik etwas mehr lebenswert wäre. Um von der massiven Umverteilung in die militärischen Töp­fe abzulenken, haben Union und SPD ein ganzes Bündel an Maßnahmen zur Begrenzung der Migration auf den Weg gebracht: Zurückweisung an der Gren­ze, Stopp der Aufnahmepro­gramme, Be­grenzung von Familiennachzug. Die künftigen Koaliti­onäre lassen nichts aus.
Dass der Koalitionsvertrag von der größten Menschenrechtsorganisation Amnesty International als »menschen­rechtliches Armutszeugnis« betrachtet wird,6 ficht sie nicht an. Sie übertragen den Begriff der »Zeitenwende« auf die innere Sicherheit. Und je stärker sie zur Finanzierung der Kriegsvorbereitungen den Sozialstaat abtragen werden, desto stärker wird vermutlich die Bedienung rassistischer Feindbilder herangezogen werden, um von der eigentlichen Spal­tung der Gesellschaft in arm und reich abzulenken. Für diejenigen, die sich nicht ablenken lassen, wird der Über­wachungsapparat aufgebläht und die Rechtsstaatlichkeit abgebaut. Die Ein­führung der Vorratsdatenspeicherung sowie der biometrische Abgleich von Bildern mit öffentlichen Fotos im Inter­net durch die Sicherheitsbehörden sind kein Zufall. Laut Amnesty Internatio­nal stellen sie tiefgreifende und unver­hältnismäßige Eingriffe in die Grund­rechte dar.

Die Reaktionen der Gewerkschaften

Dieser Entwicklung zum Trotz fällt die gewerkschaftliche Kritik am Koaliti­onsvertrag bislang verhalten aus. Die künftigen Pläne, um die Wirtschaft anzu­kurbeln und Arbeitsplätze zu sichern«, lobte etwa DGB-Chefin Yasmin Fahimi den Koalitionsvertrag. Die Reaktionen von ver.di und der IG Metall fielen ähn­lich, wenn auch weniger überschwäng­lich aus. Doch eine deutliche Kritik an der Aufrüstung als neuem Treiber für Sozialkürzungen vermisste man auch hier. Das hat Gründe: Die Mindest­lohnerhöhung auf 15 Euro und das Ta­riftreuegesetz senden das Signal in die Gewerkschaften, dass der Koalitions­vertrag auch für sie positive Effekte be­reithält. Hinsichtlich des Mindestlohns hatte Friedrich Merz kurz nach Ver­öffentlichung des Koalitionsvertrages deutlich gemacht, dass eine Erhöhung auf 15 Euro keinesfalls garantiert sei. Auch das Tariftreuegesetz gilt erst ab Vergaben ab 50.000 Euro. Und Kontrol­len, durch die ein solches Gesetz über­haupt erst eine Wirkung entfalten könn­te, sollen auf ein absolutes Mindestmaß begrenzt werden. In den Verhandlungen hatte Merz zudem erfolgreich die Er­leichterung der Allgemeinverbindlich­erklärung von Tarifverträgen, die Ein­schränkung von Mitgliedschaften im Arbeitgeberverband ohne Tarifbindung – sogenannte OT-Mitgliedschaften – so­wie ein arbeitsrechtliches Verbandskla­gerecht für Gewerkschaften abgewehrt. Wenig verwunderlich also, dass auch das Tariftreuegesetz nicht die Stärkung der Tarifbindung in den Mittelpunkt stellt, sondern diese der Außen- und Si­cherheitspolitik unterordnet. So sind sämtliche Vergaben, die im Zusammen­hang mit der Bundeswehr oder anderen Sicherheitskräften oder im Zusammen­hang mit der Vorbereitung auf eine Kri­sensituation stehen, vom Vergabever­fahren ausgenommen.

In einer Zeit massiver Deindustriali­sierungserfahrungen und angespannter öffentlicher Haushaltslagen hoffen die Gewerkschaften zudem auf neue Wachs­tumsimpulse durch das Infrastruktur­paket in Höhe von 500 Milliarden Euro über die nächsten zehn Jahre. Obwohl eine Investitionsoffensive in die öffent­liche Infrastruktur seit vielen Jahren eine wichtige und richtige Forderung ist, könnte sich diese Hoffnung nun aber als Infrastrukturfalle erweisen. Denn in der »Zeitenwende« wird auch die Investiti­onspolitik dem Primat der Außen- und Sicherheitspolitik untergeordnet. Zu be­fürchten ist, dass das Sondervermö­gen nur in geringem Ausmaß in kaputte Schuldächer oder die Entlastung des Pflegepersonals fließen wird, und deut­lich häufiger in die Kriegsertüchtigung. Bereits im vergangenen Sommer hatte die Deutsche Gesellschaft für Auswär­tige Politik ein Sondervermögen gefor­dert, um Brücken und Straßen kriegs­tüchtig zu machen.7 In Köln soll eine unterirdische Intensivstation entstehen. Und die Spurweitenanpassung in Osteu­ropa an die hier gängige Spurweite er­fordert ebenfalls milliardenschwere In­vestitionen. Nicht ohne Grund kündigte das Finanzministerium auf der Kom­munikationsplattform X an, die Summe von 500 Milliarden Euro durch das Ein­werben von privatem Kapital auf zwei bis drei Billionen Euro zu erweitern.

Regierung auf Kriegskurs

Unterm Strich dient der Koalitionsver­trag dem Ziel, das Land weiter kriegs­tüchtig zu machen. Die Lohnabhängi­gen haben dabei nichts zu gewinnen, sondern im Gegenteil, sie könnten alles verlieren. Der diesjährige Ostermarsch-Aufruf des DGB zeigt, wie sehr auch geopolitische Fragen in den Gewerk­schaften diskutiert werden müssen, um handlungsfähig zu bleiben. Deutschland solle sich zu seiner friedens- und sicher­heitspolitischen Verantwortung beken­nen, und die Aufrüstung dürfe nicht zu­lasten der sozialen Sicherheit gehen, heißt es darin. Überschrieben ist er im übrigen mit »Frieden sichern, Verteidi­gungsfähigkeit erhöhen, Militarisierung stoppen!« Kein Wort zu den sozialen Zumutungen des Koalitionsvertrages. Kein Wort zu der Militarisierungsof­fensive, mit der die »Zeitenwende« ge­gen eine Bevölkerung durchgesetzt wird, die seit 80 Jahren im Frieden lebt. Nicht einmal ein Fragezeichen hinter der Be­drohungslüge, Putin wolle Deutschland, Europa oder gar die NATO angreifen. Dabei zeigt doch gerade die mühsame Kriegsführung in der Ukraine, dass Pu­tin entweder kein Interesse daran hat, die gesamte Ukraine einzunehmen oder dazu schlicht nicht in der Lage ist.

Der bloße Verweis auf die Erhö­hung der Verteidigungsfähigkeit führt in die Irre, denn seit der Wahl Trumps zum US-amerikanischen Präsidenten und der Eskalation im Oval Office ist auch die Bundesregierung zu konkreten Kriegsvorbereitungen übergegangen: Die Herstellung der Kriegstüchtigkeit, die Rekrutierungsversuche 17-Jähri­ger, die Vorbereitung der Bevölkerung auf entbehrungsreiche Zeiten oder die Stationierung von Mittelstreckenrake­ten, schwer ortbar, mit 17-facher Schall­geschwindigkeit und ausgestattet mit dem Potenzial, die russische Raketen­abwehr zu durchbrechen, haben jeweils nichts mit Verteidigungsfähigkeit zu tun. Auf einer gemeinsamen Tagung von Verfassungsschutz und Wirtschaftsalli­anz vor einigen Wochen, sagte der Ge­neralinspekteur der Bundeswehr Cars­ten Breuer: »Abschreckung muss nicht immer reaktiv sein, sie hat auch aktive Komponenten«. Und er fragte das Pu­blikum aus Nachrichtendienstlern, Un­ternehmensvertretern und Wissen­schaftlern: »Können Sie Krieg?«8

Multiple Krise

Inzwischen ist hinreichend analysiert, dass es im Ukraine-Krieg nicht in ers­ter Linie um die Ukraine und Russ­land geht, sondern dass dahinter eine Vielfach-, Multi- oder Sechsdimensi­onen-Krise des Kapitalismus mit ver­schiedenen Krisenbestandteilen steht.9 Der Versuch, die Krise in einer Sphä­re zu lösen, führt zwangsläufig zu einer Verschärfung der Krise in einer ande­ren Sphäre. So habe sich in Deutschland die ökonomische und die politische Kri­se mit Beginn des Ukraine-Krieges ver­schärft. Auf Druck der USA hatten die Sanktionen gegenüber Russland eine Gaswende in Europa erzwungen. Dabei wurde der europäische Energiemarkt von der russischen Gasversorgung abge­schnitten und für das doppelt so teure, ökologisch fragwürdige amerikanische Frackinggas geöffnet. Die Folge war ein gravierender Anstieg der Energie- und Nahrungsmittelpreise, unter der sowohl die energieintensive Industrie zu lei­den hatte, als auch die breite Bevölke­rung. Hinter dieser Entwicklung steht eine Politik der USA, die amerikanische Wirtschaft zu stärken und das chinesi­sche Wirtschaftswachstum auszubrem­sen. Der Kampf um die Hegemonie zwi­schen den USA und China, aber auch der EU ist Ausdruck sich verändern­der Weltbeziehungen – die hegemoniale Rolle der USA wird zunehmend infrage gestellt und andere Akteure versuchen bei der Neuaufteilung der Welt eine ge­wichtigere Rolle zu spielen.10

Es ist also nicht ganz zufällig, dass führende Regierungsmitglieder schon seit längerem von einer neuen deut­schen Führungsrolle sprechen. Auch Deutschland will eine wichtige Rolle bei dieser Neuaufteilung spielen. So be­gründete Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Rede an der Prager Karls-Uni­versität im August 2022 die deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine nicht etwa damit, dass Deutschland der Uk­raine helfen wolle, sich gegen den Ag­gressor zu wehren. Vielmehr wies er darauf hin, dass die USA sich auf den Konflikt mit China konzentrieren müss­ten und Europa daher als eigenstän­diger politischer Akteur auftreten und Deutschland dabei eine Führungsrolle einnehmen müsse. Und der Vorsitzende der SPD, Lars Klingbeil sagte in einer Grundsatzrede bei der Friedrich-Ebert-Stiftung sogar, dass Deutschland nach 80 Jahren der Zurückhaltung wieder zu neuer Führungsstärke gelangen müsse.

Die Forderung von Boris Pistorius, dass Deutschland wieder kriegstüchtig wer­den müsse, war also kein rhetorischer Fauxpas, sondern ist die Konsequenz ei­ner Politik, die darauf abzielt, Deutsch­land in den aktuellen geopolitischen Konflikten als eigenständigen Akteur zu positionieren. Hinter Militarisierung und Aufrüstung steht also der Versuch, den Verlust an ökonomischer Stärke durch militärische Stärke zu kompensie­ren. Dabei werden die Angst vor Dein­dustrialisierung und dem ökonomischen Abstieg zum Treiber für Militarisierung und Aufrüstung.11

Politisches Mandat

»Wer für den Frieden ist, muss gegen den Krieg kämpfen«, hat der ehemalige Bezirksleiter der IG Metall Baden-Würt­temberg, Willi Bleicher, einmal gesagt. Bei genauerer Betrachtung der Eska­lationsgefahr und der dahinterstehen­den ökonomischen und militaristischen Triebkräfte wird deutlich, dass Frie­den kein »Orchideenthema« (mehr) ist. Frieden und Entspannungspolitik sind vielmehr die Voraussetzung dafür, dass das gewerkschaftliche Streiten für bes­sere Arbeits- und Lebensbedingungen stattfinden und erfolgreich sein kann.

Die Gewerkschaften sind also gut be­raten, ihr gesellschaftspolitisches Man­dat nicht an eine Partei abzugeben und schon gar nicht an eine Partei, deren Aufgabe es ist, die Gewerkschaften in den Kriegs­kurs einzubin­den. Sie müs­sen vielmehr ihr gesellschaftspolitisches Mandat ei­genständig wahrnehmen – und zwar in der inhaltlichen Breite, wie sich die Krise vor ihnen auffächert. Das heißt, dass sich gewerkschaftliche Themen nicht allein auf Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik beschränken dür­fen, sondern auch Fragen von Krieg und Frieden umfassen müssen. Die multi­ple, vielfältige Krisensituation und die zunehmenden geopolitischen Konflikte erfordern es, dass wir die gesellschaftli­chen Entwicklungen in ihrer Gesamtheit betrachten, dass wir die Zusammen­hänge sehen und das politische Mandat als ein inhaltlich allumfassendes Man­dat definieren.

1 Welt-Liveticker, 18.4.2025; www.welt.de/ politik/deutschland/article255966494/Regie­rungsbildung-Gruenen-Chef-zum-Umgang-mit­der-AfD-Wir-stehen-wie-das-Kaninchen-vor­der-Schlange-Liveticker.html.

2 Clemens Fuest: »Die niedrige Gastro-Steuer nutzt vor allem Menschen mit höheren Einkom­men«, Handelsblatt vom 10.4.2025.

3 »Wirtschaft lobt und mahnt zu Tempo«, ta­gesschau vom 9.4.2025; www.tagesschau.de/ wirtschaft/koalitionsvertrag-reaktion-wirt­schaft-100.html.

4 »Das sagen Ökonomen zum Sondierungs­papier«, Tagesspiegel vom 9.3.2025; www. tagesspiegel.de/politik/das-sagen-okono­men-zum-sondierungspapier-unsinnige-sub­ventionen-und-klientelpolitik-13337368.html.

5 »Gesamtmetall legt Gesetzentwurf zu Schlichtungen im Arbeitskampf vor«; www.ge­samtmetall.de/gesamtmetall-legt-gesetzent­wurf-zu-schlichtungen-im-arbeitskampf-vor/.

6 »Deutschland: Koalitionsvertrag bricht mit zahlreichen Menschenrechten«, 9.4.2025; www. amnesty.de/pressemitteilung/deutschland-koa­litionsvertrag-cdu-csu-spd-menschenrechte. Sozialismus.de Heft 5-2025

7 »Militärische Mobilität. Wie Deutschland seine Verkehrsinfrastruktur für die Zukunft rüs­tet«, Deutsche Gesellschaft für auswärtige Po­litik, Policy Brief, Nr. 12, Juli 2024; dgap.org/ system/files/article_pdfs/DGAP%20Policy%20 Brief_Nr-12_Juli-2024_9S_0.pdf.

8 »Bundeswehr-General Breuer: Russland könnte ab 2029 Nato angreifen – ›Wir müssen gewinnen‹«, Berliner Zeitung vom 25.3.2025.

9 Vgl. Ingar Solty, »Die Sechsdimensionen-Krise«, in: Ulrike Eifler (Hrsg.): »Den Frieden gewinnen, nicht den Krieg«, Münster 2024.

10 Vgl. Peter Mertens: Meuterei. Wie unsere Weltherrschaft ins Wanken gerät, Berlin 2024.

11 Vgl. Michael Brie/Erhard Crome/Frank Deppe: »Friedenspolitik für die Welt des 21. Jahrhunderts«, Ein Diskussionspapier der Ini­tiative Nein zu Kriegen, August 2024; nie-wie­der-krieg.org/wp-content/uploads/2024/08/ Friedenspolitik-im-21-Jhdt.pdf.

Nils Böhlke ist Mitglied im Landesvorstand der Partei Die Linke, NRW. Ulrike Eifler ist Mit­glied im Parteivorstand der Partei Die Linke. Die ehemalige Personalrätin und Fachpflege­kraft Julia-C. Stange sitzt seit Februar als Ab­geordnete für Die Linke im Bundestag. Alle drei sind Bundessprecher*innen der BAG Betrieb & Gewerkschaft.

Erstveröffentlicht auf Sozialismus.de in der Maiausgabe 2025
https://www.sozialismus.de/kommentare_analysen/

Wir danken für das Publikationsrecht.

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