„Russland muss verlieren“

Bundestag fordert Sieg der Ukraine über Russland, während Kiew herbe militärische Rückschläge hinnehmen muss. Berlin bindet Zivilgesellschaft in Kriegsvorbereitungen ein. Gewerkschaften bremsen Widerstand aus.

23 Feb 2024

BERLIN/KIEW (Eigener Bericht) – Der Deutsche Bundestag bekräftigt die Fortsetzung seiner Unterstützung für die Ukraine und fordert, Russland müsse „diesen Krieg verlieren“. Einen entsprechenden Antrag, der auch ankündigt, der Ukraine bei der Rückeroberung aller seit 2014 verlorenen Territorien zu helfen, hat das Parlament am gestrigen Donnerstag mit den Stimmen der Regierungsfraktionen verabschiedet. Die Siegesparolen konstrastieren geradezu grotesk mit der militärischen Lage in der Ukraine, deren Streitkräfte gerade eine empfindliche Niederlage bei Awdijiwka hinnehmen mussten, nach der Gefangennahme von bis zu 1.000 Soldaten mehr denn je von ernster Personalnot geplagt werden und sich einer neuen russischen Offensive gegenübersehen. Auch um den Durchhaltewillen der Ukraine zu steigern, hat der Bundestag die Option einer Lieferung von Marschflugkörpern des Typs Taurus eröffnet, der nach Einschätzung von Militärs keine Wende bringen, aber die Schäden in Russland vergrößern wird. Parallel steigt der Druck zur Aufrüstung der Bundeswehr und zur Einbindung der Zivilbevölkerung in die Kriegsvorbereitungen. Die Gewerkschaften tragen dazu bei, Widerstand dagegen zu schwächen.

Niederlage in Awdijiwka

Die ukrainischen Streitkräfte haben Ende vergangener Woche in Awdijiwka eine Niederlage erlitten, die laut Einschätzung von US-Beobachtern gravierende Folgen haben kann. Die ukrainische Militärführung war offenkundig noch in aussichtsloser Lage bestrebt, Awdijiwka um jeden Preis zu halten, und ordnete den Rückzug viel zu spät an. Dieser verlief chaotisch und kostete eine hohe Anzahl ukrainischer Soldaten das Leben. Außerdem gerieten nach Auskunft ukrainischer Militärs 850 bis 1.000 weitere Soldaten in russische Gefangenschaft – ein Schlag, der die unter dramatischem Personalmangel leidenden ukrainischen Streitkräfte schwer trifft.[1] Außerdem heißt es, die Moral der Truppen, die ohnehin wegen der Ablösung des beliebten Oberbefehlshabers Walerij Saluschnyj deutlich getrübt sei, sei nun noch weiter im Schrumpfen begriffen. Dass die Armeeführung befohlen habe, beim Rückzug verletzte Soldaten zurückzulassen, habe die Stimmung nicht gerade verbessert.[2] Russland treibt nun seine Offensive weiter voran, sucht im Süden der ostukrainischen Front das Dorf Robotyne zu erobern, das die Ukraine erst im Herbst hatte einnehmen können, und verfügt zudem über Optionen, seine Angriffe etwa von Awdijiwka, aber auch von Bachmut oder Marinka aus weiter zu forcieren.[3]

Territorien zurückgewinnen

In dieser Situation hat der Deutsche Bundestag am gestrigen Donnerstag einen Antrag verabschiedet, der ein recht eigentümliches Verhältnis zur Realität offenbart. Während sich die militärische Lage der Ukraine stark verschlechtert und ihr weitere Rückschläge drohen, erklären die Abgeordneten der Berliner Regierungsfraktionen, es sei „essenziell, dass die Ukraine diesen Verteidigungskampf gewinnt“. Hatte es, so etwa in Äußerungen von Kanzler Olaf Scholz, einst noch geheißen, Russland dürfe „nicht gewinnen“, so fordert der Bundestag nun: „Präsident Putin und sein Regime müssen diesen Krieg verlieren“.[4] Die Ukraine müsse künftig in die Lage versetzt werden, ihre „territoriale Unversehrtheit … innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen [gemeint sind diejenigen vor 2014, d. Red.] in vollem Umfang wiederherzustellen“. Wie das bei der aktuellen militärischen Lage möglich sein soll, ist nicht ersichtlich, zumal der Bundestag vor allem Durchhalteparolen äußert und zwar bekräftigt, die Bundesrepublik werde der Ukraine wie bisher zur Seite stehen, aber kaum konkrete zusätzliche Maßnahmen ankündigt. Neu ist vor allem, dass sich das Parlament für „den Zukauf von Munition“ ausgesprochen hat. Dabei geht es um den Kauf von US-Munition, die Washington wohl nicht mehr finanzieren wird (german-foreign-policy.com berichtete [5]).

Streit um den Taurus

Ausdrücklich spricht sich der Bundestag allerdings für „die Lieferung von zusätzlich erforderlichen weitreichenden Waffensystemen und Munition“ aus.[6] Die Formulierung zielt nach allgemeiner Auffassung auf die Lieferung des bis zu 500 Kilometer weit reichenden Marschflugkörpers Taurus, der Ziele weit im Hinterland auf russischem Territorium erreichen kann. Dazu heißt es in der Bundestagsresolution, die Waffen müssten Kiew „in die Lage“ versetzen, „gezielte Angriffe auf strategisch relevante Ziele weit im rückwärtigen Bereich des russischen Aggressors zu ermöglichen“. Damit sind Angriffe auf die Krim, womöglich aber auch auf Gebiete gemeint, die bereits vor 2014 zu Russland gehörten. Kanzler Scholz will Kiew den Taurus allerdings vorerst noch nicht zur Verfügung stellen. Eine Kriegswende lässt sich mit ihm laut Einschätzung etwa des früheren ukrainischen Oberbefehlshabers Saluschnyj nicht erreichen. Saluschnyj äußerte im Herbst gegenüber der Zeitschrift The Economist, ebenso wie im Falle der F-16-Kampfjets, die die Ukraine erhalten solle, sei der Nutzen weit reichender Raketen mittlerweile beschränkt, weil Russland seine Flugabwehr stark verbessert habe.[7] Möglich ist es jedoch, mit dem Taurus die Schäden für Russland in die Höhe zu treiben und den Krieg einmal mehr zu eskalieren.

„Ein Bedrohungsbewusstsein schaffen“

Auf weitere Kriegsvorbereitungen in Deutschland selbst drang am gestrigen Donnerstag die Unionsfraktion im Bundestag. So verlangte sie, einen „im Bundeskanzleramt verankerten Nationalen Sicherheitsrat“ zu schaffen sowie ihn mit „einem angegliederten Lage- und Analysezentrum“ zu versehen.[8] Außerdem gelte es „Russland als existenzielle Bedrohung anzuerkennen, der Bevölkerung transparent die daraus abgeleiteten Herausforderungen zu erläutern und dadurch ein Bedrohungsbewusstsein zu schaffen“. „Verteidigung“ müsse künftig „als gesamtstaatliche Aufgabe“ betrachtet werden. „Unverzüglich“ gelte es, „unter Einbindung nichtstaatlicher Akteure ein umfassendes Konzept zur Gesamtverteidigung Deutschlands zu erarbeiten“. Der „Bevölkerungs- und Zivilschutz“ sei zum Beispiel „durch Alarmierungsübungen, zusätzliche Schutzbauten sowie Bevorratung von lebensnotwendigen Verbrauchsgütern zu verbessern“. Der Antrag wurde zwar von der Regierungsmehrheit abgelehnt. Allerdings sind diverse Maßnahmen, die CDU und CSU fordern, längst in Arbeit, so etwa mit der Erstellung des Operationsplans Deutschland, der die Militarisierung der Zivilgesellschaft stark vorantreibt (german-foreign-policy.com berichtete [9]).

Widerstand schwächen

Die Bemühungen der Bundesregierung um weitere Militärhilfen für die Ukraine, um eine massive Aufrüstung der Bundeswehr sowie um entschlossene Kriegsvorbereitungen auch im Innern werden bislang weitgehend zuverlässig von den deutschen Gewerkschaften gestützt. Die IG Metall hat vor kurzem gemeinsam mit dem Wirtschaftsforum der SPD sowie dem Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV) ein Papier vorgelegt, das „ein umfassendes industriepolitisches Konzept für die Verteidigungsindustrie“ fordert und Elemente für ein solches präsentiert.[10] Ein derartiges Konzept sei nötig, um „Produktentwicklung und Produktproduktion relevanter Verteidigungssysteme in den Dimensionen Land, Luft und See“ in Deutschland zu ermöglichen, heißt es in dem Papier; „nur mit einer national wettbewerbsfähigen und leistungsstarken SVI [Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, d. Red.] und Bundeswehr“ sei eine „souveräne Handlungsfähigkeit als starker und gleichberechtigter Bündnispartner … darstellbar“. Während die IG Metall damit für die weitere Aufrüstung Partei ergreift, berichten Gewerkschafter immer häufiger, ihre Bemühungen um Frieden würden aktuell von den Gewerkschaftsführungen torpediert. Dies trägt dazu bei, den Widerstand gegen den Berliner Kriegskurs zu marginalisieren.

[1] Julian E. Barnes, Thomas Gibbons-Neff, Eric Schmitt: Hundreds of Ukrainian Troops Feared Captured or Missing in Chaotic Retreat. nytimes.com 20.02.2024.

[2] Tim Lister, Maria Kostenko, Victoria Butenko: Trapped and left for dead, injured Ukrainian soldiers in Avdiivka exchanged desperate messages as the town fell. edition.cnn.com 20.02.2024.

[3] Constant Méheut: Russian Forces Press On With Attacks in Southern Ukraine. nytimes.com 21.02.2024.

[4] Deutscher Bundestag: Drucksache 20/10375. Berlin, 20.02.2024.

[5] S. dazu Der Schlächter.

[6] Deutscher Bundestag: Drucksache 20/10375. Berlin, 20.02.2024.

[7] Ukraine’s commander-in-chief on the breakthrough he needs to beat Russia. economist.com 01.11.2023. S. dazu Der Schlächter.

[8] Deutscher Bundestag: Drucksache 20/10379. Berlin, 20.02.2024.

[9] S. dazu Auf Krieg einstellen (III).

[10] Wirtschaftsforum der SPD, IG Metall, BDSV: Souveränität und Resilienz sichern. Industriepolitische Leitlinien und Instrumente für eine zukunftsfähige Sicherheits- und Verteidigungsindustrie.

Erstveröffentlicht im newsletter von „German Foreign Policy“ v. 22.2. 2024
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9494

Wir danken für das Publikationsrecht.

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