Von Florian Rötzer
Florian Rötzer ist einer der wenigen deutschen Journalisten, die die Entwicklung des Krieges in der Ukraine ständig verfolgen und nicht einen „embedded journalism“ betreiben, bei dem sich die Journalist:innen die Agenda einer Kriegspartei zueigen und sich in diesem Sinne nützlich machen. Hier berichtet er darüber, wie ein Staat, der im Westen als Leuchtturm der Demokratie gefeiert wird, Wehrpflichtige mit Gewalt an die Front zu schicken versucht, weil es für die Kriegsprofiteure eine Katastrophe ist, wenn es zur Einstellung der Kampfhandlungen und zu einem Ende des Sterbens kommt. (Jochen Gester)
Titelbild: „Busifizierung“ eines gewaltsam rekrutierten jungen Ukrainers. Video
So lange die schwarz-rote Bundesregierung im Amt ist, wird es die massive Aufrüstung geben und wird die Wehrpflicht kommen. Noch druckst Verteidigungsminister Pistorius – eigentlich müsste man korrekterweise sagen: Militär- oder Kriegsminister – mit der Einführung eines „attraktiven“ freiwilligen Wehrdienstes herum, um die Debatte um die Wehrpflicht möglichst klein zu halten.
Pistorius könnte Klartext sprechen und das Orwellsche Verteidigungsministerium korrekterweise in ein Kriege- oder Militärministerium umtaufen. Dann weiß jeder, wie er dran ist. Weil aber gerne heute gesagt wird, dass Aufrüstung und Krieg Friedenspolitik ist, würde es wahrscheinlich noch eher Friedensministerium heißen. Zwar betont Donald Trump auch den Slogan „Frieden durch Stärke“, was auch die Trump-Doktrin genannt wird, beim Scheiter von Verhandlungen mal schnell wie im Iran militärisch zuzuschlagen, aber er überlegte auf dem Nato-Gipfel auch laut: „So hieß es früher – Kriegsminister. Dann wurden sie politisch korrekt und benannten es in Verteidigungsminister um. Vielleicht sollten wir darüber nachdenken, den Namen wieder einzuführen.“
Es wäre im Interesse der Bundesregierung auch ungeschickt, schon die Einführung der Wehrpflicht zu beschließen, da die erforderliche Infrastruktur noch nicht vorhanden ist. Aber jeder weiß, dass ohne die Wehrpflicht nicht zusätzliche 60.000 oder gar 80.000 Soldaten zu dem seit vielen Jahren bei einer stagnierenden Personalstärke um die 180.000 zu gewinnen sein werden. Zudem soll die Zahl der Reservisten auf 200.000 verdoppelt werden. Dazu braucht es Zwang.
Geplant ist daher ein Wehrdienstgesetz, das erst mal darin besteht, dass 18-jährige Männer einen Fragebogen ausfüllen müssen, um sie in die Bundeswehr zu locken. Weil dann mit Gewissheit nicht Zehntausende den noch nicht näher ausgeführten „attraktiven“ Bedingungen erliegen werden, soll es einen Mechanismus geben, dann schnell auf Wehrpflicht umzuschalten. Mysteriös sprach Pistorius kürzlich von einer „Teilverpflichtung von Teiljahrgängen“. Nebulös bleibt bislang auch, wie selektiert wird, was wieder zu Ungerechtigkeiten führen wird, ob eine Grundgesetzänderung angestrebt wird, um auch Frauen einzuziehen, ob auch durch eine Wehrpflicht, Zigtausende für die Bundeswehr geworben werden können und wie Kriegsdienstverweigerern die Anerkennung wie einst im Kalten Krieg erschwert werden kann, einen Ersatzdienst zu leisten.
Die jungen Männer und Frauen, die dem Staat dienen und für dessen jeweilige Regierung und deren Interessen im Ernstfall ihr Leben aufs Spiel setzen sollen, haben nach Umfragen sichtlich wenig Begeisterung, für das Vaterland in einer Hierarchiemaschine diszipliniert zu werden, um dann willig in den Krieg zu ziehen. In einer kürzlich von YouGov durchgeführten Umfrage, sind die älteren Menschen, die wie Pistorius und Co. nicht mehr in den Genuss kommen, mit großer Mehrheit für die Wehrpflicht. Bei den 18-29-Jährigen sprechen sich 35 Prozent dafür aus, bei den Über-70-Jährigen 66 Prozent. Insgesamt ist dank der Altersunterschiede eine knappe Mehrheit von 54 Prozent für Wehrpflicht, 40 Prozent sind dagegen.
Der European Council on Foreign Relations (ECFR) hat eine aktuelle Umfrage in 12 europäischen Ländern auch zur Wehrpflicht in Auftrag gegeben. Abgesehen von Frankreich sind überall die 18-29-Jährigen, die davon betroffen sind, gegen eine Wehrpflicht, selbst in Polen und Rumänien, mit zunehmendem Alter wächst die Zustimmung. In Italien und Ungarn sprechen sich alle Altersgruppen für eine Ablehnung der Wehrpflicht aus. Die Menschen in den baltischen Ländern, in denen es eine Wehrpflicht gibt, wurden hierzu – sicherheitshalber? – nicht befragt.
Solange kein Krieg ausgebrochen ist, bleibt der Wehr- oder Kriegsdienst abstrakt. Im Kriegsfall sieht das anders aus. Gestern wurde bei Lanz von diesem und seinen Gästen im Rahmen von Aufrüstung, Kriegsangst und Wehrpflicht wieder das hohe Lied von den Ukrainern angestimmt, die für die Freiheit kämpfen. Sie seien „entschlossen“, haben ein „starkes Motiv“, sagt Lanz. Es sei „beeindruckend, wie die Ukrainer immer noch stehen, weil sie wissen, wofür sie es tun“. Er habe mit russischen Kriegsgefangenen gesprochen, die „bis heute nicht wissen, warum sie tun, was sie tun“. Sönke Neitzel forderte die Bereitschaft, im äußersten Fall „für die Freiheit zu kämpfen“. Das würde er auch tun und zur Bundeswehr gehen, wenn er einen Beitrag leisten kann. Julian Olk meinte, wenn Mächte ein Interesse haben, uns „die Freiheit“ zu nehmen: „Im Zweifel würde ich für das Land kämpfen.“ Was diese Freiheit ist, wird nicht näher ausgeführt, ob sie die der bürgerlichen Mittelschicht ist, die darin gut lebt, darf man annehmen.
Dabei wird mit Scheuklappen betrachtet, was Krieg ist und wie die Wehrpflicht im Krieg aussieht. Schon lange schließen sich keine Rekruten mehr in der Ukraine dem MIlitär und den vielen Freiwilligenverbänden an, dafür werden diejenigen Männer im wehrpflichtigen Alter, die sich nicht ins Ausland absetzen oder gegen viel Geld freikaufen konnten, auf offener Straße mit Gewalt gejagt und verschleppt.

Anatolij Scharij, ein Journalist und Politiker, dessen Partei verboten wurde, der sich nach Spanien geflüchtet hat und vor kurzem in Abwesenheit zu einer 15-jährigen Gefängnisstrafe und Einziehung seines Vermögens wegen Hochverrats und anti-ukrainischer Propaganda verurteilt wurde, veröffentlicht immer wieder Videos, die zeigen, wie das „starke Motiv“ der ukrainischen Männer aussieht, die seit Kriegsbeginn nicht aus dem Land ausreisen dürfen, was trotzdem viele mit Beziehungen, Geld oder riskanten Fluchtwegen geschafft haben. In der freiheitlichen Ukraine wurde das sowieso kaum vorhandene Recht auf Kriegsdienstverweigerung praktisch abgeschafft. Videos von der Gewalt, die Mitarbeiter von Rekrutierungszentren ausüben, gelten vermutlich als anti-ukrainische Propaganda. Auch bei Marta Havryshko wird man fündig.

Vor allem seit Mitte 2024 werden Wehrpflichtige zwischen 25-60 Jahren mit Straßenkontrollen und Razzien eingefangen, was sich zu einem guten Korruptionsgeschäft entwickelt zu haben scheint. Wir haben schon öfter darüber berichtet, zuletzt: Organisierte Korruption bei den Rekrutierungszentren und der Jagd auf Wehrpflichtige. Das Einfangen von Wehrpflichtigen, die, wenn sie sich nicht freikaufen können, flüchtig ausgebildet und dann an die Front geschickt werden, wird auch Busifizierung genannt, weil dies meist mit zivilen Kleintransportern geschieht.

Die jungen Menschen hierzulande sollten sich anschauen, wie es Menschen ergeht, die kein starkes Motiv für den Krieg haben und entschlossen für die Freiheit des Staates kämpfen wollen, sondern die aus welchen Gründen auch immer ihre persönliche Freiheit und ihr Leben behalten wollen. Und die Lanzens, Neitzels, Dröges und Co., die für die tapferen Ukrainer schwärmen, sollten die Kriegswirklichkeit zur Kenntnis nehmen, anstatt sie zu beschönigen, um die Kriegstüchtigkeit hier einzuführen.

Familienangehörige, manchmal auch Passanten versuchen, den Rekrutierungsmilitärs, die im ganzen Land gefürchtet und verachtet werden, die sich wehrenden Männer zu entreißen. Mitunter gelingt die Flucht. Meist werden sie aber fortgeschleppt. Um ihnen beizubringen, dass sie tun, was sie müssen, aber nicht wollen.
Erstveröffentlicht im Overton Magazon v. 26.6.2025
https://overton-magazin.de/top-story/gewaltsame-verschleppung-die-wirklichkeit-der-gespriesenen-wehrpflicht-in-der-ukraine/
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