Wollen wir sterben?

Von Christof Meueler

Vor langer Zeit war ich in einer linken Gruppe, die fragte sich oft, was »sie« denn nun vorhaben könnten. Wie werden »sie« auf diese oder jene Krise reagieren, was werden »sie« als Nächstes tun? Dieses »sie« war unbestimmt, aber bedrohlich. Es stand eigentlich für alles Blöde und Böse, was einem so einfallen konnte, wenn man an den Kapitalismus dachte: die herrschende Klasse und ihre Büttel, ein Klub von Geistern, die überall auftauchen konnten, um »uns« zu drangsalieren und fertigzumachen. »Wir« gegen »sie«, die klassische Dichotomie. »Zwischen uns und dem Feind einen klaren Trennungsstrich ziehen«, wie schon Mao gelehrt hatte. Aber diese Feinde blieben Geister, man sah sie nicht, man vermutete sie nur. Man könnte auch sagen, es sind nur Worte, an die man erst mal glauben muss.

Ähnlich verhält es sich mit den »Werten«, die nun allenthalben verteidigt werden sollen. Die Worte mögen leer sein, aber sie kosten. Vergangene Woche wurden im Bundestag die neuen Kriegskredite verabschiedet. Seit Beginn des Ukra­ine-Krieges, des russischen Angriffs auf das Nachbarland, heißt es überall: »Wir« gegen »sie«, »unsere« Freiheit gegen »ihre« Diktatur. Wer Frieden will, muss aufrüsten. Scheiß auf Willy Brandt und Petra Kelly. Als hätte sich seit dem Kalten Krieg nie etwas geändert – außer die Grünen, denn die wollten früher damit nichts zu tun haben.

Bis 1990 hieß der Osten DDR. Vor 35 Jahren wurde dort zum ersten und letzten Mal frei gewählt – und dann verschwand dieses Land. Was ist von ihm übrig geblieben? Der Fotograf Daniel Biskup ist aus dem Westen in den Osten gefahren und hat danach gesucht. Deshalb heißt sein Bildband »Spuren«. Eine optische Bestandsaufnahme, erschienen im Verlag Salz und Silber. Die Rezension dazu finden Sie auf Seite 10 dieser Beilage.

»Dabei gibt es so viel, für das es sich zu leben lohnt – und nichts, wofür man sterben sollte«, schreibt Ole Nymoen. Es ist der letzte Satz in seiner sehr aktuellen Abhandlung »Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde«. Die Rede ist hier ausdrücklich von »ich«, nicht von »wir«. Wenn in der unübersichtlichen Welt noch etwas konkret erfahrbar ist, dann ist es das eigene Ich und nicht ein vorgestelltes »Wir«.

Man soll Verantwortung für sich und sein Tun übernehmen, das lernt man in der Schule, das predigen die Ratgeber, und das ist auch die erste Forderung der herrschenden Ökonomie. Genau das macht Nymoen, der als erfolgreicher Journalist und Podcaster arbeitet: In seinem neuen, gar nicht so dicken Buch übernimmt er die Verantwortung für einen Text, den er im vergangenen Sommer in der »Zeit« veröffentlicht hatte. Er hieß »Ich, für Deutschland kämpfen? Never!« und war in den fast nonstop die »Kriegs­tüchtig­keit« propagierenden großen Medien die große Ausnahme. Gegen den Hab-acht-Befehlston schrieb Nymoen: »Wenn ich mir nun die Frage stelle, wofür ich zu kämpfen bereit wäre, dann muss ich ehrlich sein: für fast gar nichts. Und ganz sicher nicht für ›mein Land‹, nicht für diesen Staat, und auch nicht für Europa.«

Danach gab es massenweise Protestbriefe und strenge Gegenartikel in der »Zeit« und anderswo. In seinem neuen Buch erklärt er nun ausführlich seinen Essay. Insbesondere wehrt er sich gegen den Vorwurf, in seinem »Zeit«-Text komme kein »menschliches Wir, soziales Miteinander vor«. Wieso sollte es das? In der bundesrepublikanischen Wirklichkeit kommt es ebenfalls nicht vor. Für Nymoen »besteht dieses Land aus Millionen vereinzelter Erwerbsbürger, die sich in einer Ellenbogengesellschaft bewähren müssen«. In diesem Staatswesen gilt der »obszönste Reichtum als schützenswert«, während »die Ärmsten mit Verachtung gestraft« werden. Im sogenannten Putin-Reich dürfte es ähnlich sein, in der Ukra­ine ebenfalls.

Für die Bundesrepublik konstatiert Nymoen, »dass dieser Staat ganz sicher kein Wohltäter gegenüber seinen Untertanen ist«. Den Bewohnern des Landes aber wird erzählt, dass sie alle gleich seien, sie hätten dieselben »Werte«. Damit hantierten in Deutschland lange nur die Konservativen, jetzt ist dieser Nullsprech allgemeiner Standard. Die Deutschen sollten sich höchstens fragen, ob es ihnen dabei nicht »zu gut« gehe, jetzt, da man sich doch auf drohende Kriege vorbereiten müsse, mit Kriegstüchtigkeit und Kriegswirtschaft. Right or wrong, my country: »Die Politiker, die die soziale Spaltung vorantreiben, rufen zur Geschlossenheit auf«, urteilt Nymoen.

Aber die Heimat, die teure, mögen manche da entgegnen. Nymoen negiert keine Heimatgefühle, die kann man haben oder auch nicht, weist aber darauf hin, dass es der Landschaft egal ist, wer über ihre Menschen regiert, »und auch die Schönheit der Natur bleibt davon unangetastet«. Den Menschen allerdings müsste es weniger egal sein, wenn sie in den Krieg kommandiert werden, mit dem modernen Versprechen, das geschehe nun geschlechtergerecht. Wir reden von Kriegen mit konventionellen Waffen, logisch, ein Atomkrieg ist weder vorstell- noch führbar, macht aber den Politikern und ihrer Gefolgschaft anscheinend nicht mehr so viel Angst wie noch im Kalten Krieg.

Ein Krieg beginnt dadurch, dass er befohlen wird, von Politikern, wem sonst.

Entscheidend ist die Kommandostruktur, hebt Nymoen hervor. Ein Krieg beginnt dadurch, dass er befohlen wird, von Politikern, wem sonst. Sie müssen nicht aufs Schlachtfeld, sie müssen ja das Land führen, in welche Katastrophe auch immer. Für das Soldatsein aber wird der Mensch entmenschlicht, »vom vernünftigen und moralischen Wesen in ein Tötungswerkzeug verwandelt – und das vom Staat, der von so vielen Denkern als Voraussetzung von Vernunft und Freiheit angesehen wurde«!

Wenn sich ein Staat verteidigen will, dann wird stets die Unterscheidung zwischen »Volk und Führung verwischt«, schreibt Nymoen, indem der Staat behauptet, die »Sicherheit« seiner Bürger garantieren zu wollen – aber gibt es etwas Unsicheres als Krieg? Sicher ist nur, dass die Politiker unterschiedlicher Länder sich nicht einigen können oder wollen und deshalb einen Krieg beginnen, rein strukturell gesehen. Lenins berühmte Erklärung, dabei gehe es nur um die Interessen der Wirtschaft, also um Geld und sonst nichts, findet Nymoen unbefriedigend, weil für ihn der Staat ein eigenständiger Akteur ist. Er weist darauf hin, dass Staaten aus Kriegen entstehen oder dadurch ihre Form verändern. Staaten hetzen ihre Bewohner in den Krieg, wobei sich viele Konflikte weniger um ökonomische als um nationalistische oder religiöse Symbole drehen: Falkland-Inseln, Bergkarabach oder Taiwan.

Den beliebten Aussagen, dass ein Krieg »sinnlos« sei oder »völkerrechtswidrig«, kann er ebenfalls nichts abgewinnen. Diese Kategorien hängen davon ab, wer sie gebraucht. »Wir« gegen »sie«. Den Menschen, die umgebracht werden, ist es egal. »Denn Krieg ist nicht falsch, weil er verboten ist«, resümiert Nymoen. »Er ist falsch, weil einige wenige Menschen über die Leichenberge anderer gehen können, um ihre Interessen durchsetzen zu können.« Und doch ist er sich sicher, dass die Menschen allgemein mehr eint, als sie trennt: Sie wollen in Frieden leben. Alles andere ist Ideologie.

Ole Nymoen: Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde. Gegen die Kriegstüchtigkeit. Rowohlt, 144 S., geb., 16 €.

Erstveröffentlicht im nd v. 25.3. 2025
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1189993.leipziger-buchmesse-wollen-wir-sterben.html?sstr=Meueler

Wir danken für das Publikationsrecht.

»Die Dinge sind oft näher, als sie scheinen«

Heraus zum 1. Mai! Doch wie geht es dem Arbeiterlied? Ein Gespräch mit Kai Degenhardt

Interview: Christof Meueler

Seit knapp zehn Jahren gehört das Singen von Arbeiterliedern zum immateriellen Weltkulturerbe. Ist das gut oder schlecht?

Es zeigt jedenfalls, dass Arbeiterlieder inzwischen offenbar als vom Aussterben bedroht angesehen werden und als kulturelle »Waffe im Klassenkampf« nicht gerade gefürchtet sind.

Sie haben über das Arbeiterlied ein Buch geschrieben: »Wessen Morgen ist der Morgen«. Hatten Sie schon länger den Plan, einen Situationscheck des Arbeiterliedes vorzunehmen?

Ja, das hatte ich schon länger im Kopf. Als linker Liedermacher wird man häufig von Gewerkschaften eingeladen, auch zum 1. Mai. Und da werden gerne Arbeiterlieder gehört und gefordert. Damit habe ich früher immer ein bisschen gefremdelt.

Warum?

Das entsprach nie meinen eigenen Hörgewohnheiten, ich bin damit nur am Rande sozialisiert worden. Als Jugendlicher habe ich zwar auch Floh de Cologne gehört, aber das war für mich damals nicht Arbeiterlied im eigentlichen Sinn. Und es gab diese Platte vom Pläne-Label »Hören sie mal rot…«, das Arbeiterlieder-Festival 1970 in Essen. Als ich Kind war, lief die manchmal bei uns zu Hause.

Sie haben nicht nur ein Buch über das Arbeiterlied geschrieben, sondern auch eine Platte mit Beispielen eingespielt. Darauf sind zum Teil diese klassischen Lieder, die auch auf »Hören Sie mal rot« zu finden waren, die aber von Ihnen anders arrangiert und interpretiert werden. »In Hamburg fiel der erste Schuss« ist mit Emphase gesungen, dagegen wird der alte Agitprop-Hit »Der rote Wedding« sehr vorsichtig, fast schüchtern vorgetragen.

Ich finde es schwierig, die alten Lieder ganz traditionell zu bringen. In der Klassik nennt man das, glaube ich, historische Aufführungspraxis. Das habe ich im Übrigen auch bei »In Hamburg fiel der erste Schuss« nicht gemacht. Ich habe da eine verzerrte E-Gitarre gespielt und eben keine Schalmeien und Trommeln eingesetzt. Beim »Roten Wedding« kam mir die optimistische Siegesgewissheit dieses Liedes, im Wissen darum, was historisch danach passiert ist, nicht so einfach über die Lippen und über die Finger. Da musste ich eine Vortragsweise finden, die auch das Gebrochene, die erlittene Niederlage, transportiert.

Dagegen haben Sie »Tonio Schiavo«, klassisch dargeboten, da sehe ich gar keinen Unterschied.

Da wäre ich auch der Falsche, eine Neuinterpretation anzulegen. Ich war mit meinem Vater, der das Lied ja geschrieben hat, fast 20 Jahre auf Tour, da haben wir es hunderte Male zusammen in dieser Art gespielt.

Das vorletzte Lied auf dem Album stammt von Ihnen, »Nachtlied vom Streik«. Es handelt von einem verrenteten Arbeiter vor dem Fernseher, der den gesellschaftlichen Widerstand gegen die globalen Katastrophen schwach findet, denn er weiß: »Ohne Streik wird gar nichts gehen.«

Das Lied beschreibt auch die fragmentierte Zusammensetzung der Arbeiterklasse. Es gibt die Dienstleistungen an der Kasse, im Pflegebereich, am Band und an der Schuttrutsche und international natürlich auch, wenn die Stahlproduktion in Südostasien stattfindet. Und die vielen Wanderarbeiter und Wanderarbeiterinnen, die versuchen, in die besser bezahlten Weltgegenden zu kommen. Trotzdem gilt: »Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will«, wie es schon Georg Herwegh 1863 für eines der ersten deutschen Arbeiterlieder, »Bet’ und arbeit’!«, gedichtet hat.

Arbeiterlieder entstehen eigentlich nur durch kollektive Praxis, durch Bewusstwerdung in der Auseinandersetzung – das ist die Quintessenz Ihres Buchs. Wenn dieses Handeln nicht da ist, wirken die alten Lieder museal.

Darum ging es mir bei der Platte. Denn das Pathos und das Triumphalistische aus den Vortragsweisen von früher habe ich oft als so eine Art Folkloreabend zum Mutmachen für die Übriggebliebenen erlebt. Daran stört mich weniger der unzeitgemäße Sound, als dass damit ein falscher Trost gespendet werden soll. Ich maße mir aber jetzt nicht an, die zeitgemäße Version als State of the Art zu bieten. Mein Ansatz ist als Aufforderung zu verstehen, dass dies jüngere Leute machen müssen, damit es für sie passt, wenn sie in den Kämpfen stehen.

Die gibt es ja – auch als Streiks, bei Amazon oder in der Pflege. Ich weiß aber nicht, was da gesungen wird.

Ich auch nicht. Bei den Demos höre ich oft nur die Trillerpfeifen. Früher wurde vor den Werkstoren ja regelmäßig gesungen, etwa von Hannes Wader, Frank Baier, Schlauch oder Fasia.

In der Bundesrepublik wurden Arbeiterlieder meist gesungen von Leuten, die nicht so weit von der DKP entfernt waren.

Ich würde sagen, von Künstlern rund um den allemal parteinahen Pläne-Verlag. Aber es gab daneben natürlich diverse Gewerkschaftschöre, auch Arbeiterlieder bei den Spontis rund um das Trikont-Label und auch bei den Maoisten das eine oder andere Parteilied. Aus der offiziell-sozialdemokratischen Arbeiterbewegung ist seit den 70er Jahren aber nichts Vergleichbares hervorgegangen.

Rückblickend wirken die Agitprop-Gruppen der KPD vor 1933 am attraktivsten: Eine Mischung aus mobiler Revue und Liedern, produziert aus dem Umfeld von Piscator, Brecht und Eisler.

Da traf die Volksbühnenbewegung auf die Unterhaltungsmusik der 20er Jahre. Das war ein Quantensprung für das Arbeiterlied. Aber Eisler und andere kamen ja von den Neutönern, die wollten neben den roten Spieltruppen auch die europäische Avantgarde einbringen in die Arbeiterchöre. Die haben auch ziemlich abgefahrene, mehrstimmig-dissonante Sachen dafür komponiert, die aber von den normalen Amateurchören kaum noch zu singen waren.

In der DDR hat sich das Arbeiterlied nicht mehr entwickelt. Sie schreiben von einer Regression, von einem Rückgriff auf das Vorgefundene. Liegt das daran, dass die Arbeiterklasse zumindest offiziell an der Macht war?

Die Eigentumsverhältnisse waren zwar auf dem Papier andere, aber über die Verteilung des Mehrprodukts bestimmte die Partei, nicht die Arbeiter, um es mal platt zu sagen. Aber später gab es die Singebewegung und die sich daraus entwickelnde Liedermacherszene unter dem Stichwort »DDR konkret«, das Reinhold Andert geprägt hat, aus der dann eine Liedtheater-Szene mit Leuten wie Gundermann, Wenzel und Mensching entstand, die keine klassischen Arbeiterlieder gemacht, aber die den Alltag der DDR kritisch ausgeleuchtet haben – neben den Arbeiterliedern, die als staatstragendes Kulturerbe fortgeführt wurden, was leider auch oft sehr pompös und schwülstig wirkte.

Haben Sie während Ihrer Arbeit an dem Buch auch Frustration verspürt, weil eine politisch konfrontative Arbeiterbewegung gesellschaftlich einst viel stärker war und damit auch das Arbeiterlied?

Mir war das zwar von vornherein klar, doch mir ist noch einmal deutlicher geworden, wie grundlegend die Niederlage der gesamten Linken nach 1989/90 gewesen ist. Das Ende von Kohle und Stahl, das Verschwinden des klassischen Industrieproletariats und die Schwächung der Gewerkschaften. Der Niedergang dauert an. Es gibt eine fragmentierte Klasse mit starker Hierarchisierung und gleichzeitig einen mächtigen Nationalismus mit faschistischen Tendenzen. Und eine komplette Marginalisierung von revolutionärer Artikulation in den Medien. Da kommt sehr vieles zusammen an schlechten Bedingungen.

Andererseits lautet der letzte Satz in Ihrem Buch: »Die Dinge sind oft näher, als sie scheinen.«

Man hat das im vergangenen Jahr in England und in Frankreich gesehen: Wenn so eine Streikbewegung erstmal losbricht, bekommt sie eine eigene Dynamik und erfährt Solidarität. Dann würde auch hierzulande eine Feier am 1. Mai anders aussehen und die gemäßigten DGB-Positionen würden zurückgedrängt. Im Moment sieht es hier noch nicht danach aus, aber manchmal kann es eben auch schnell gehen.

Kai Degenhardt: Wessen Morgen ist der Morgen: Arbeiterlied und Arbeiterkämpfe in Deutschland. Papyrossa, 215 S., br., 16,90 €.
Kai Degenhardt: »Arbeiterlieder« (Plattenbau)

Interview

Uwe Bitzel

Kai Degenhardt, Jahrgang 1964, ist Liedermacher und Autor, der lange mit seinem Vater Franz Josef (1931-2011) auf der Bühne stand. Er hat nun Arbeiterlieder neu untersucht und eingespielt.

Quelle: nd v. 30.4.24
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1181861.arbeiterlieder-die-dinge-sind-oft-naeher-als-sie-scheinen.html?sstr=Die|Dinge

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