Die Berliner Zeitung spricht mit Wieland Hoban, dem Vorsitzenden des Vereins Jüdische Stimme über Antisemitismus-Vorwürfe, den 7. Oktober, Rassismus und Repressionen in Deutschland.
29.10.2024 – Interview: Alice v. Lenthe
Titelfoto: Kurt Weiss
Die „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost“ ist ein Verein von jüdischen Menschen in Deutschland. Seine Mitglieder fühlen sich nicht vom Staat Israel vertreten und
kritisieren den Umgang der israelischen Regierung mit dem palästinensischen Volk scharf. Der Verein wurde u.a. wegen Boykottaufrufen gegen Israel immer wieder des Antisemitismus bezichtigt, sowohl von anderen Juden als auch von nicht jüdischen Menschen. 2019 gewann der Verein Jüdische Stimme den Göttinger Friedenspreis unter Jury-Vorsitz des Journalisten Andreas Zumach. Der Zentralrat der Juden kritisierte die Entscheidung, Universität und Stadt Göttingen distanzierten sich. Der Berliner Senat strich dem Neuköllner Kulturzentrum Oyoun im vergangenen Jahr die Förderungen, nachdem es Räume an den Verein Jüdische Stimme vermietet hatte. Der Verein beschuldigte daraufhin Kultursenator Joe Chialo, sein Einsatz gegen Antisemitismus gelte lediglich der „vorgefertigten, deutschen Schablone des israelsolidarischen Juden“.
Die Berliner Zeitung sprach mit Wieland Hoban, dem Vorsitzenden des Vereins Jüdische Stimme über Antisemitismusvorwürfe, den Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober, über Rassismus, Pro-Palästina-Proteste und Repressionen gegen diese in Deutschland und der Welt.
Jüdische Stimme – ein Verein israelkritischer Juden
Herr Hoban, was ist die Jüdische Stimme und wofür setzt sie sich ein?
Unsere Organisation fordert das Ende der Besatzung in Palästina, gleiche Rechte für alle Menschen zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer und das Ende des andauernden Genozids. Als jüdische Organisation haben wir noch eine zusätzliche Botschaft: Dass wir den Staat Israel als unseren Repräsentanten ablehnen. Wir widersprechen der Annahme, dass Israel für alle jüdischen Menschen spricht.
Südafrika hat Klage gegen Israel beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag eingereicht, der Vorwurf: Genozid in Gaza. Zwölf Länder haben sich angeschlossen. Israel beruft sich auf sein Recht auf Selbstverteidigung nach den Angriffen der Hamas am 7. Oktober. Wie kommen Sie zu der Überzeugung, dass der Vorwurf des Völkermords bei Israels Vorgehen zutrifft?
In diesem Krieg geht es nicht allein um die Beseitigung der Hamas, sondern um Kollektivbestrafung und Auslöschung des palästinensischen Volks. Das zeigt sich anhand von Aussagen mehrerer, hochrangiger Politiker. Verteidigungsminister Yoav Gallant verkündete nach dem 7. Oktober, Wasser und Strom in Gaza abzustellen, Transporte mit Lebensmitteln zu blockieren, er sprach vom Kampf gegen „menschliche Tiere“. Netanjahu bezog sich auf das biblische Volk Amalek, einen ewigen Feind, der mit allen Frauen, Kindern, Babys und Vieh vernichtet werden muss. Es ist eine Rhetorik der totalen Vernichtung und diese wird auch militärisch umgesetzt: Krankenhäuser werden bombardiert, Fluchtwege, und als solche ausgewiesene „sichere“ Zonen. Zehntausende werden getötet. Es ist ein Genozid.
Meinen Sie wirklich, dass es um eine Auslöschung des palästinensischen Volkes als solches geht? Zwanzig Prozent der israelischen Bevölkerung sind doch Palästinenser, auch im Westjordanland leben Palästinenser. In Gaza warnt die israelische Armee die Bevölkerung vor Luftangriffen.
Im Westjordanland wird massenhaft Gewalt gegen Palästinenser von Armee und Siedlern ausgeübt, israelische Politiker verlangen explizit Vertreibung. „Warnungen“ vor Luftangriffen verbreiten nur Panik und führen zu ständiger Flucht, weil es überhaupt keinen sicheren Ort in Gaza gibt. Außerdem werden Hilfsgüter blockiert, dadurch verhungern viele, falls sie die Bomben überleben.
Zu Anfang sprachen Sie von der „Besatzung Palästinas“ – was meinen Sie damit?
Israel hat 1967 nach dem Sechs-Tage-Krieg das Westjordanland, Ostjerusalem, den Gazastreifen und die syrischen Golanhöhen völkerrechtswidrig besetzt und dort Siedlungen gebaut. Im Westjordanland herrscht eine Militärdiktatur, mit ungleichen Rechten für Palästinenser und Israelis. Eigentlich ist das eine Annektierung mit Apartheidsystem. Im Gazastreifen wurden die Siedlungen zwar 2005 geräumt, aber es gab seit 2007 eine umfangreiche israelische Blockade, die ein normales Leben dort unmöglich machte.
Auch Menschenrechtsgruppen und UN-Gutachter sprechen von Apartheid im Westjordanland. Kritiker wie der gerade verstorbene israelische Historiker Yehuda Bauer bemängelten, das Wort sei unpassend, weil es hier um nationale, nicht „rassische“ Unterschiede gehe.
„Rasse“ ist ohnehin ein Konstrukt, insofern ist das Wortklauberei. Es geht bei der Definition von Apartheid, die im Römischen Statut festgeschrieben ist, um ein System der Vorherrschaft auf Grundlage ethnischer Zugehörigkeit, was eindeutig der Fall ist – auch innerhalb Israels.
Der jüdische Hintergrund als Politikum – „Unsere Identität wird gegen Muslime in Stellung gebracht“
Warum schließen sich Menschen der Jüdischen Stimme an?
Viele schließen sich uns an, wenn sie anfangen, ihren jüdischen Hintergrund als etwas Politisches zu betrachten. Denn dieser ist politisch umkämpft, gerade im deutschen Diskurs. Hier herrscht leider die Sichtweise vor, dass Jüdinnen und Juden immer zu Israel stehen und das auch tun sollten. Aber das trifft eben nicht auf alle von uns zu. Auch nicht jüdische Deutsche schreiben uns vor, wie wir uns zu positionieren hätten und nennen es antisemitisch, wenn wir uns nicht zu Israel bekennen. Ihre Wiedergutmachungslogik hängt davon ab, Israel als Repräsentanten der Juden, der ermordeten Juden zu behandeln und zu verteidigen. Aber viele unserer Mitglieder sagen da: Nein, es reicht. Sie wollen nicht dabei zusehen, wie ihre jüdische Identität missbraucht wird, um die Taten Israels und auch eine zunehmend rassistische Rhetorik in Deutschland zu legitimieren. Unsere Identität wird gegen Muslime, gegen Migranten in Stellung gebracht, indem gesagt wird: Damit die Juden sich sicher fühlen, müssen wir Muslime abschieben. Wir stellen uns dem entgegen.
Ihr Verein ist mit ähnlichen Organisationen in anderen Ländern vernetzt. Wie steht es da um den Diskurs rund um Antisemitismus?
Dass der Antisemitismus-Vorwurf instrumentalisiert und missbraucht wird, sieht man auch in den USA, in Großbritannien oder in Frankreich. Jüdische Gruppen müssen sich dagegen äußern und zur Aufklärung beitragen. Ich referiere regelmäßig über Antisemitismus, auch um zu zeigen, wie viel Schindluder mit dem Wort getrieben wird und wie unehrlich und politisiert dieser Diskurs ist. Es ist eine Waffe im proisraelischen Arsenal.
Aber es gibt doch auch wirkliche Fälle von Antisemitismus.
Natürlich, und denen muss man mit Aufklärung entgegenwirken. Aber der politische Mainstream hierzulande verbreitet selbst ein antisemitisches Vorurteil: Dass die Interessen jüdischer Menschen und die Interessen des Staates Israel identisch seien. Das ist sehr gefährlich für Juden. Sie können dadurch in Deutschland angefeindet werden, weil Israel in Palästina Menschen angreift – weniger aus ideologischem Judenhass, sondern als eine Reaktion auf die Gleichsetzung des Staates Israels mit allen Juden weltweit. Und auf den Staat Israel haben viele Menschen eine berechtigte und nachvollziehbare Wut.
Sie sprechen von einer berechtigten Wut auf Israel. Wie ordnen Sie den Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober in diesem Zusammenhang ein?
Es war ein Ausbruch antikolonialer Gewalt. Es war zwar eine militärische Operation mit bestimmten militärischen Zielen, aber durch das Töten so vieler Zivilisten wurde es weitgehend nur als mörderischer Anschlag wahrgenommen. Ich halte das Wort „Terrorangriff“ aber für falsch, weil es die Ursache verschleiert: Jahrzehnte der Unterdrückung, einschließlich mehrfacher Massenvertreibung und Massentötung.
Die Hamas tötete am 7. Oktober 2024 mehr als 1200 Menschen und nahm über 200 in Geiselhaft. Unter den Opfern waren viele Zivilisten: Kinder und Alte, ein Musikfestival wurde angegriffen, die UN sieht Grund zur Annahme, dass es auch zu sexualisierter Gewalt kam. Das können Sie doch keine Militäroperation nennen!
Wie aus detaillierten Plänen hervorgeht, waren mehrere Militärbasen das eigentliche Ziel, vor allem der Stützpunkt der Gaza-Division in Re’im, sowie das Nehmen von Geiseln zum Austausch. Aber es ist in ein Massaker ausgeartet und Hunderte von Zivilisten wurden getötet. Ein solches „Ausarten“ passiert nicht zufällig. Tötung und Geiselnahme von Zivilisten gelten als Kriegsverbrechen.
Den Angriff einen Akt des Widerstands zu nennen, bedeutet nicht, ihn zu verharmlosen, die Tötung von Hunderten Zivilisten zu verschweigen oder gar gutzuheißen. Auch manche unserer Mitglieder waren über Freunde oder Verwandte persönlich betroffen. Widerstand ist nicht harmlos; er kann furchtbar blutig sein und unschuldige Opfer fordern. Trotzdem muss man die Ursachen analysieren.
Israel als Kolonialstaat?
Warum verstehen Sie Israel als einen kolonialen Staat?
Israel ist das Ergebnis eines planvollen Kolonialprojekts, das schon Jahrzehnte vor der Staatsgründung in Gang gesetzt wurde. Theodor Herzl hat schon 1896 sein Buch „Der Judenstaat“ geschrieben, Unterstützung von Kolonialisten gesucht und etwas später darüber gesprochen, wie die arabische Bevölkerung Palästinas über die Grenzen zu schaffen sei. David Ben-Gurion, der der erste Premierminister Israels werden sollte, sprach ebenfalls von „Transfer“.
Aber die Staatsgründung war doch eine sehr direkte Konsequenz des Holocausts. Menschen sind aus Europa geflohen, weil sie verfolgt wurden, nicht weil sie ein fremdes Land besetzen und Menschen vertreiben und töten wollten.
Als die Flüchtlinge des Holocausts dazukamen, war die Besiedlung und auch die Errichtung staatlicher Strukturen aber schon in vollem Gange. Der Staat Israel wurde am 14. Mai 1948 gegründet, einen Monat zuvor waren bereits 300.000 Menschen vertrieben worden. Insgesamt waren es bis Ende 1948 750.000, dazu kamen Massaker wie das von Deir Yassin mit über hundert getöteten Palästinensern.
Es sollte nach dem UN-Teilungsplan vom November 1947 auch einen palästinensischen Staat geben, aber dies lehnten die Palästinenser und andere arabische Staaten ab. Es kam zu einem Bürgerkrieg, nachdem der Plan verabschiedet wurde und einen Angriff arabischer Staaten auf Israel einen Tag nach der Staatsgründung. Flohen die von Ihnen genannten 750.000 Menschen nicht auch aufgrund dieser Kriegsunruhen?
Wie gesagt, es waren schon bis Mai 1948 über 300.000 vertrieben worden. Und warum hätten die Palästinenser einen ihnen aufgezwungen Plan akzeptieren sollen, der nur 45 Prozent des Territoriums für zwei Drittel der Bevölkerung vorsah?
Freiheit für die Palästinenser heißt nicht automatisch Vertreibung der Juden.
Wieland Hoban
In Deutschland wird viel über das Existenzrecht Israels gesprochen. Dies gilt es hier vehement zu verteidigen, um jüdischen Menschen Sicherheit zu gewähren. Wie stehen Sie dazu?
Man muss diesen Begriff hinterfragen. Staatsformen verändern sich, die DDR etwa gibt es nicht mehr. Aber es gibt noch die Menschen, die dort gelebt haben. Und es gibt Menschenrechte, die überall geschützt werden müssen. Oft wird gesagt, wenn das Existenzrecht Israels infrage gestellt wird, läuft das auf die „Zerstörung“ Israels hinaus. Das suggeriert massenhafte Gewalt, Mord, einen zweiten Holocaust. Dabei könnte, mit einem neuen politischen System im Gebiet Israel-Palästina, Gleichheit und politische Vollwertigkeit aller Teile der Bevölkerung geschaffen werden. Freiheit für die Palästinenser heißt nicht automatisch Vertreibung der Juden. Wir brauchen eine sachliche Diskussion.
„Israel-Hasser“ und „Terror-Verharmloser“ – so nannte der Präsident des Zentralrats der Juden die Jüdische Stimme
Präsidenten des Zentralrats der Juden, Josef Schuster. Wie ist das Verhältnis der Jüdischen Stimme zu anderen jüdischen Organisationen in Deutschland?
Das Verhältnis ist schlecht, beziehungsweise nicht vorhanden. Der Zentralrat ist ein rechtskonservativer Dachverband der jüdischen Gemeinden, also Teil einer religiösen Struktur. Er hat nicht die Funktion, politischer Repräsentant der jüdischen Bevölkerung zu sein, aber das verkennen viele. Die zionistische Haltung des Zentralrats, auch die etwa der jüdischen Studierendenunion, ist offensichtlich. Sie versuchen, uns zu delegitimieren, weil wir uns nicht zu Israel bekennen. Und zwar indem sie behaupten, wir seien entweder keine echten Juden oder nur eine kleine extremistische Gruppe.
Wenn Rechte mit eigenen antisemitischen Einstellungen andere des Antisemitismus bezichtigen, um den eigenen Rassismus zu legitimieren.
Wieland Hoban
Was machen diese Vorwürfe des Antisemitismus gegen Sie mit Ihnen?
Diese inflationäre Verwendung des Begriffs macht ihn leider bedeutungslos. Das ist schädlich für den Umgang mit wirklichem Antisemitismus. Was ich allerdings als Gipfel des Zynismus empfinde, ist, wenn selbst Rechte mit eigenen antisemitischen Einstellungen andere des Antisemitismus bezichtigen, um den eigenen Rassismus zu legitimieren. Zum Beispiel Hubert Aiwanger, der mit seinem antisemitischen Flugblatt kurz einen Skandal auslöste. Er klagte jetzt über den „importierten Antisemitismus“ der Migranten, den man sich da ins Land geholt abe. Als ob es Deutschland nötig hätte, Antisemitismus zu importieren.
Repressionen gegen Pro-Palästina-Proteste in Deutschland – „Der Staat hält sich einfach nicht an seine eigenen Regeln“
Mitglieder der Jüdischen Stimme sind oft auf Pro-Palästina-Demonstrationen zu sehen. Wie empfinden Sie die Berichterstattung über diese Proteste in Deutschland?
Die meisten Berichte sind voreingenommen und zeigen ein großes Unvermögen, die palästinensische Perspektive zu verstehen. Es wird schnell mit der Antisemitismuskeule hantiert, indem die Wut auf Israel mit Antisemitismus gleichgesetzt wird. Auch weil viele Deutsche sich nicht vorstellen können, dass Palästinenser Israel nicht ablehnen, weil es ein jüdischer Staat ist, sondern weil es der Staat ist, der sie unterdrückt, besetzt, entrechtet und ermordet. Es gibt diese deutsche Fixierung auf Israel als dem jüdischen Staat und die Vorstellung von den Juden als ewige Opfer, weil sie die Opfer der Deutschen waren. Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass je nach Kontext jede Menschengruppe Opfer oder Täter, Unterdrücker oder Unterdrückter sein kann.
Die Jüdische Stimme hat im April einen Palästina-Kongress mitorganisiert. Dieser wurde schnell von der Polizei beendet und dem früheren griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis, der als Gastredner auftreten wollte, wurde die Einreise verwehrt. Was denken Sie über ein solches Vorgehen?
Wir fordern nicht nur Freiheit in Palästina, sondern auch Demokratie in Deutschland. Hier gibt es mittlerweile massive Einschränkungen der Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Demonstrationen und Parolen wurden verboten, es gab viele Festnahmen, die mit unseren Gesetzen nicht zu begründen sind. In Frankfurt sollte zuletzt eine Palästina-Demo verboten werden, aber das Verbot wurde in zwei Instanzen abgelehnt, weil es nicht rechtens war. In Berlin gibt es enorme Polizeigewalt, vielfach gefilmt und verbreitet, aber ohne jegliche Konsequenz für die Polizei. Der Staat hält sich einfach nicht an seine eigenen Regeln.
Wieland Hoban ist Vorsitzender des Vereins Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost. Er arbeitet als Komponist und akademischer Übersetzer für Philosophie, Kunstmusik und Literatur und ist Autor wissenschaftlicher und journalistischer Texte.

Foto: Wieland Hoban privat
Erstveröffentlicht in der Berliner Zeitung v. 29.10.24
https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/juedische-stimme-vorsitzender-wieland-hoban-reagiert-im-interview-auf-antisemitismus-vorwuerfe-li.2262895
Wir danken für das Publikationsrecht.