Von Florian Rötzer
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Es wäre für ihn eine Möglichkeit, nicht als Verräter zu gelten, sondern die Nato als Verräter darzustellen. Die Entscheidung drängt, die Situation an der Front ist ernst, es gibt offenbar große Verluste unter den neu Mobilisierten.
Man weiß nicht wirklich, was der ukrainische Präsident Selenskij mit seinem „Siegesplan“ erreichen will, den er in den USA Biden, Harris und Trump unterbreitete, ohne auf Resonanz zu stoßen. Umsetzbar wäre er nur mit einer Kapitulation Russlands, was derzeit völlig abwegig erscheint, solange die Ukraine nicht die Nato in den Krieg hineinziehen kann. Biden an erster und entscheidender Stelle in der Nato wehrt sich weiterhin dagegen, deswegen auch seine Absage an den Wunsch, mit amerikanischen Langstreckenwaffen Ziele in Russland anzugreifen. Der tschechische Präsident Petr Pavel, einer der Fürsprecher der Ukraine, ruft nun Kiew und andere Unterstützer dazu, die Realität anzuerkennen. Das wahrscheinlichste Ergebnis des Krieges sei, “dass ein Teil des ukrainischen Territoriums unter russischer Besatzung bleiben werde”. Zumindest “zeitweise”, versucht er zu beruhigen.
Der ukrainische Präsident schürt die Hoffnung, seinen „Siegesplan“ am 12. Oktober in Deutschland beim Ramstein-Treffen durchsetzen zu können: „Ich habe den Siegesplan vorgestellt und wir haben vereinbart, dass wir unsere nächsten Schritte bald mit unseren Verbündeten in Deutschland im Ramstein-Format besprechen werden. Oktober ist die Zeit der Entscheidungen“, sagte er gestern. Es drängt, vor allem vor der Präsidentschaftswahl in den USA.
Dass Selenskij, der in einer verzwickten Situation steckt, den Krieg zu beenden, was mehr und mehr Ukrainer wollen, ohne als Verräter für die Nationalisten zu gelten, muss wissen, dass sein „Siegesplan“ nicht von der Nato übernommen wird und angesichts der Kriegslage völlig absurd ist.
Ein Grund, warum er trotzdem mit realistisch nicht möglichen Forderungen auftritt und weiter auf militärischen Sieg setzt, könnte darin bestehen, dass er dann, wenn er einen Waffenstillstand eingehen und Friedensverhandlungen beginnen muss, auf die Unterstützerstaaten zeigen kann, die nicht ausreichend Hilfe gewährt haben und er gezwungen sei, dies zu tun. Verräter wäre dann die Nato, die die Ukraine im Stich gelassen habe, aber nicht seine Regierung. Für die wäre es fatal, wenn die Verhandlungen zu einem ähnlich Ergebnis wie die kämen, die Selenskij vermutlich aus Druck oder Anraten von Boris Johnson und Washington abgebrochen hatte. Das würde die Ukrainer gegen ihn aufbringen, die nicht für den Krieg waren und dann sagen werden: Wofür war das alles gut?
(Das werden auch die Menschen in Europa sagen, wenn die Ukraine territoriale Zugeständnisse machen muss, um zu überleben: Warum wurden so viele Milliarden an Finanz- und Militärhilfe in das Land hineingesteckt, wenn das Ergebnis schon hätte im Mai 2022 erreicht werden können – und mit einem Verzicht auf den Nato-Beitritt auch nur mit dem Verlust der Krim vor dem Krieg?)
Jurij Luzenko, von 2016 bis 2019 der ukrainische Generalstaatsanwalt, der auf Druck von Biden nominiert worden war und der die Verfahren gegen den Konzern Burisma, in dem Hunter Biden einen Vorstandsposten eingenommen hatte, einstellte, ist etwa der Meinung, dass Selenskijs „Siegesplan“ den Zweck hat, nicht von den Unterstützerstaaten angenommen zu werden, um damit eigene Interessen zu verfolgen. Dafür spricht, wie gesagt, einiges.
Einen Schuldigen im Ausland zu finden, ist für Selenskij innenpolitisch wichtig, denn die Fortführung des Kriegs liegt in der Logik der zahlreichen, den Widerstand tragenden Freiwilligenverbände mit ihren zehntausenden schwer bewaffneten Kämpfern, die in der mörderischen Tradition von Bandera und Co. stehen. Manche haben schon seit 2014 mit der „Antiterroroperation“ (ATO) eine Existenz im kriegerischen Kampf und für den Aufbau eines kriegerischen Staates gefunden. Bekanntlich war Selenskij gewählt worden, weil er Frieden mit Russland schmieden und die Minsker-Abkommen umsetzen wollte. Damals soll er von Kämpfer der Freiwilligenverbände bedroht worden sein, auf jeden Fall hat er eine Kehrtwende vollzogen und am 23. März 2021 ein Dekret erlassen: „Strategie zur Beendigung der Besetzung und Reintegration des zeitweise besetzten Territoriums der Autonomen Republik der Krim und der Stadt Sewastopol”. Diese Strategie war vom Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat beschlossen worden. Sie blieb zwar vage, aber anders als militärisch wäre die Deokkupierung nicht zu machen (Wie die Ukraine die Krim von der Besatzung befreien oder säubern will).
Klar ist, dass Selenskij wieder auf Verhandlungen drängt, die er aber unter Kontrolle halten will. Für den zweiten Friedensgipfel hat er schon eine Absage aus Moskau erhalten, was nicht verwundert, denn es bräuchte für Verhandlungen einen einigermaßen neutralen Vermittler, der nicht selbst Kriegspartei ist. Ob China ein Vermittler sein kann, ist fraglich. Aber das Land hat zusammen mit Brasilien und weiteren Ländern des Globalen Südens“ eine „Plattform Freunde des Friedens“ initiiert. Aufgerufen werden in dem Kommuniqué alle Länder zu deeskalieren, Bedingungen für direkte Gespräche bis zum Erreichen eines Waffenstillstands zu schaffen, die humanitäre Hilfe zu verstärken, sich gegen jeden Einsatz von Atomwaffen und Angriffen auf AKWs zustellen und die Stabilität der globalen Industrie- und Versorgungsketten zu schützen
Ein erstes Treffen fand in New York während der UN-Generalversammlung unter Leitung des chinesischen Außenministers Wang Yi und seines brasilianischen Kollegen Mauro Vieira am Freitag statt. Teilgenommen haben Algerien, Ägypten, Bolivien, Indonesien, Südafrika, Kolumbien, Mexiko, Sambia, die Türkei, Kasachstan, Saudi-Arabien und Ungarn. Als Beobachter nahm die Schweiz teil, die den ersten, trotz massiv zurückgeschnittenen Forderungen gescheiterten Friedensgipfel unter der Regie von Salenskij organisiert hatte. Jetzt unterstützt das schweizerische Außenministerium die brasilianisch-chinesische Initiative. Auch Frankreich scheint mitzumischen. Der russische Außenminister Lawrow kommentierte, was auf eine mangelnde Kommunikation mit China hinweist: “Ich verstehe nur eines nicht: “Wie sind die Franzosen und die Schweizer zu dem gestrigen Treffen gekommen? Sie setzen sich aktiv für die Ukraine ein, fordern ihren Sieg über die Russische Föderation, liefern Langstreckenwaffen und Raketen, fragte ich meinen chinesischen Kollegen. Er sagte, dass sie sehr bettelten. Gemeinsam wurde beschlossen, sie als Beobachter einzuladen.”
Schnelles Handeln wäre vermutlich für die ukrainische Führung trotz der Zwickmühle erforderlich, weil sich die militärische Lage zu verschlechtern scheint und die Verluste zunehmen. Durch die Mobilisierung konnten zwar neue Rekruten eingezogen werden. Aber die Lage an der Front ist nach einem Bericht der Financial Times offenbar so kritisch, dass die neuen Soldaten praktisch ohne Ausbildung in den Kampf geschickt und geopfert werden. Dafür verantwortlich auch die Kriegsunterstützer in den Nato-Ländern wie hierzulande Roderich Kiesewetter, Anton Hofreiter oder Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die die ukrainischen Soldaten ungerührt sterben lassen wollen. Das sind eben jetzt nicht mehr diejenigen, die sich freiwillig gemeldet haben, sondern die zwangseingezogenen.
Die Truppen an der Front sind überaltert und erschöpft, Desertion nimmt zu, wird aber kaum verfolgt, um nicht noch weiter abzuschrecken. Kommandeure von vier Brigaden erzählten der FT, dass von den neuen Soldaten 50-70 Prozent in den ersten Tagen getötet oder verletzt werden. Sie hätten kaum Ausbildung, keine Motivation – kein Wunder, wenn man zwangseingezogen wird – und Todesangst. Wenn sie unter Beschuss geraten, flüchten sie aus ihren Positionen und aus der Armee. Manche seien so geschockt, dass sie in die Psychiatrie eingewiesen werden müssen, „Wir brauchen dringend starke Soldaten“, sagte ein Kommandeur.
Die Ukraine schließt von der Mobilisierung Männer unter 25 Jahre aus, dafür ist der Durchschnittssoldat 45 Jahre alt. Ein Stellvertretender Kommandeur sagte, von 30 Männern in einer Infanterieeinheit sei die Hälfte Mitte 40, nur 5 seien unter 30 und der Rest 50 Jahre und älter. Bei den Neuen kommt hinzu, dass die Ausbilder nicht kampferfahren sind und den Rekruten gar nicht beibringen können, was sie wissen müssen, um zu kämpfen und zu überleben. Nachdem Zehntausende erfahrene Soldaten im Krieg gestorben seien, so ein Kommandeur einer Artillerieeinheit, gebe es zu wenige Soldaten an der Front und zur Ausbildung. „Manche können nicht einmal ihr Gewehr richtig halten“, sagte ein Kommandeur. Die Soldaten an der Front werden nicht regelmäßig ausgewechselt, und wenn ein Wechsel stattfinden, dürfen sie oft nicht aus der Kriegszone zur Erholung und kommen die Unerfahrenen, die überrollt werden.
Das ist ein anderes Bild, das die nun wahrlich nicht prorussische Zeitung FT malt. Es untergräbt die von den Kriegsbefürwortern hier geschürte Vorstellung, dass alle Ukrainer willens sind, für die Interessen der Regierung oder der Nato, für Territorien oder die „Freiheit“ zu kämpfen. Hunderttausende Männer sind geflohen, um nicht eingezogen zu werden, weiterhin versuchen Männer im wehrpflichtigen Alter auch für viel Geld ins Ausland zu fliehen oder sich zu verstecken.
Erstveröffentlicht im Overton Magazin v. 29.9. 2024
https://overton-magazin.de/top-story/will-selenskij-dass-sein-siegesplan-an-der-nato-scheitert-um-verhandlungen-beginnen-zu-koennen/
Wior danken für das Publikationsrecht.