Was will die AfD?

Beispiel: Friedenspolitik

Albrecht Kieser liest nach, was die AfD wirklich will

Bild: Von Björn Höcke am 27. April auf Facebook und Twitter gepostetes Foto (https://www.facebook.com/photo/?fbid=654295902660729&set=a.599798814777105). Quelle: DFG/VK

Wer Frieden will, muss in den Krieg ziehen können, es wollen und auch tun. Diese Ansicht vom Wesen der Politik teilen alle bürgerlichen Parteien. Auch die Forderung der AfD nach Frieden in der Ukraine (wegen der manche Menschen die AfD für eine Friedenspartei halten) orientiert sich an diesem militaristischen Weltverständnis. Mit der Durchsetzung einer europäischen und globalen Friedensordnung hat sie nichts zu tun.

Der in der Ukraine geführte Krieg sei nicht in deutschem Interesse, begründet die AfD ihre Haltung. Hier liegt die wesentliche Differenz zu den kriegsbefürwortenden Parteien, die das Gegenteil behaupten. Einem anderen aktuellen Krieg stimmt die AfD zu, dem Krieg um Gaza. Er dient nämlich in den Augen der AfD durchaus deutschen Interessen („Staatsräson“), weshalb die Partei den Schulterschluss mit den „Altparteien“ problemlos herstellt und übrigens von deren Seite keinerlei Aufhebens um Brandmauern und dergleichen gemacht wird.

Die Kriegspolitik der AfD ist fest verankert in ihrer Programmatik. Keines der AfD-Programme enthält einen Abschnitt „Friedenspolitik“. Das Thema Frieden wird der „Verteidigungs- und Sicherheitspolitik“ untergeordnet. Wir lesen:

„Die Zukunft der europäischen Sicherheit liegt in der Bündelung der militärischen Fähigkeiten der Staaten. Wir begrüßen eine sinnvolle Zusammenarbeit auf europäischer Ebene bei Befähigung, Beschaffung und Entwicklung militärischer Fähigkeiten. Bei Schlüsselfähigkeiten muss Deutschland die Systemführerschaft anstreben. Schwerpunkte sollen dabei die Befähigung zur Landesverteidigung und die Sicherung der Handelswege sein. (…) Wir sind für die Freiheit der Handelswege, der internationalen Kommunikation (wie die des Internets), für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und für die gleichberechtigte, faire Nutzung der globalen Ressourcen.“ (EU-Programm S. 30, 31)

Gleichberechtigung“, wenn es um „Nutzung globaler Ressourcen“ geht? Was ist damit gemeint? Sollte nicht erst einmal von den Rechten der Länder gesprochen werden, an deren Ressourcen die AfD in deutschem Namen teilhaben möchte, sagen wir mal Chile, Kenia, Namibia? Warum sollte der globale Norden, zu dem Deutschland zählt, „gleichberechtigt“ diese Ressourcen nutzen können? Gesteht die AfD etwa den genannten Staaten die „gleichberechtigte Nutzung“ deutscher Ressourcen zu?

Natürlich nicht. Die „Gleichberechtigung“ und „Fairness“ wie auch die angedrohte „Sicherung der Handelswege“ in den AfD-Programmen entspringen dem alten kolonialistischen und imperialistischen Verständnis von vermeintlich gottgegebenen Zugriffsrechten der Industriestaaten auf die Reichtümer des globalen Südens. Diese Anmaßung birgt die wichtigste Quelle aller modernen Kriege.

„Im Ergebnis benötigt Deutschland Streitkräfte, deren Führung, Stärke und Ausrüstung an den Herausforderungen künftiger Konflikte orientiert sind und höchsten internationalen Standards entsprechen.“ (Grundsatzprogramm)

Danke AfD für diese offenen Worte.

Erstveröffentlicht in der SoZ (Sozialistische Zeitung) September 2024
https://www.sozonline.de/

Wir danken für das Publikationsrecht.

Die EU-Hardliner wollen Russland „dekolonialisieren“ …

26. August 2024

Bild: You Tube Video, Screenshot. https://www.youtube.com/watch?v=LX3XOPU5d-c

Von: Stefano di Lorenzo in Geschichte, Politik, Wirtschaft

(Red.) Es gibt kaum ein Land auf dieser Welt, dessen Grenzen sich in den letzten 200 Jahren nicht verschoben haben. Nur in den seltensten Fällen war es die Folge des Rechts der Völker auf Selbstbestimmung, meistens war es eine direkte Kriegsfolge oder sonst eine Folge von Machtpolitik. Doch auch hier wird mit unterschiedlichen Ellen gemessen: Während niemand auf die Idee kommt, die USA aufzufordern, ihre inneren und äußeren Grenzen zu überdenken und zu korrigieren, gibt es prominente westliche Politiker, die das heutige Russland aufteilen möchten – erwartungsgemäß natürlich, um Russland damit zu schwächen. (cm)

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wurde 1975, mitten im Kalten Krieg, zur Förderung des Dialogs zwischen den West- und Ostblöcken gegründet. Nun ist die OSZE sicherlich eine respektable Institution, die theoretisch wertvolle Vermittlungsarbeit zwischen verschiedenen Ländern und Diplomatie leisten sollte. Doch manchmal lassen sich solche Organisationen von den Ereignissen überwältigen. Einst bezeichnete sich sogar die Europäische Union als „Garant des Friedens“ in Europa. Heute ist sie am Krieg in der Ukraine beteiligt und hat sich von Anfang an gegen jede Verhandlung zwischen Russland und der Ukraine gestellt. Es mag sich unglaublich anhören, aber Russland und die Ukraine haben gezeigt, dass sie mit viel besseren Ergebnissen verhandeln konnten, wenn sich europäische Vermittler nicht einmischten, oder wenn es sich bei den Vermittlern um nicht-westliche Länder wie beispielsweise die Türkei oder sogar Katar handelte. 

Doch zurück zur OSZE. Letzten Monat tagte wie jedes Jahr die Parlamentarische Versammlung der OSZE, diesmal in Bukarest, Rumänien. Im Abschlusscommuniqué hieß es unter dem Absatz „Entschließung über die Verstärkung der Unterstützung für die Ukraine“, Punkt 47, wie folgt:

„[Die Parlamentarische Versammlung der OSZE] erkennt die systematische Politik der Verletzung der Menschenrechte und der Rechte der Völker in der Russischen Föderation zum Nachteil ihrer indigenen Völker als kolonialistisch und als Verstoß gegen die grundlegenden Erklärungen der Vereinten Nationen an und erkennt, aufbauend auf der Entschließung 2024/2579 des Europäischen Parlaments vom 29. Februar 2024 und der Entschließung 2540/2024 der Parlamentarischen Versammlung des Europarats vom 17. April 2024, an, dass die Dekolonialisierung der Russischen Föderation eine notwendige Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden ist.“

Im Anschluss an diese Erklärung trat Russland, das immer noch Mitglied der OSZE ist, formell aus der Parlamentarischen Versammlung der OSZE aus.

Was bedeutet die Dekolonialisierung Russlands?

Es sollte wenigstens ein bisschen verwundern, dass eine internationale Organisation zur Förderung des Dialogs, der auch Russland angehört, den Begriff der „Dekolonialisierung Russlands“ verwendet. Diese Art Rhetorik wurde bis vor einigen Jahren nur von den radikalsten und pathologisch russophoben Elementen in Ländern wie Polen oder etwa Estland übernommen. Oder von den hemmungslosesten atlantischen Denkfabriken in Washington DC, die sich nach den goldenen Tagen des Kalten Krieges sehnten. 

In Europa versuchte man in der Regel etwas vorsichtiger zu sein, um die Kränkungen der Vergangenheit und den Drang nach totaler Hegemonie auf dem europäischen Kontinent durch Vernunft zu mildern. Russland mochte man aus vielen Gründen nicht, aber man versuchte, den Dialog zu suchen und Differenzen auszugleichen. Diese Zeiten scheinen vorbei zu sein. Man muss ja nicht unbedingt pro-russisch sein. Doch Russophobie bleibt eine Pathologie, die den Intellekt trüben kann. Wie so oft liegt das Gute in der Mitte.

Was ist dann mit der Dekolonialisierung Russlands gemeint? Ist das heutige Russland denn ein Kolonialreich alten Stils, wie wir es aus der Vergangenheit kennen, das Überbleibsel einer längst vergangenen Epoche, in der europäische Nationen schwächere, wirtschaftlich und militärisch weniger entwickelte und in der Regel außereuropäische Nationen kolonisierten und ausbeuteten? 

In Russland will man oft Indizien sehen, die beweisen sollen, dass der Westen an einem Auseinanderbrechen der Russischen Föderation interessiert sei. Das Trauma der Auflösung der Sowjetunion und die turbulenten 1990er Jahre haben die Denkweise und die Weltanschauung einer ganzen Generation geprägt. Die Wirtschaft wurde durch die Schocktherapie kaputt gemacht, das, was blieb, wurde von einigen wenigen Oligarchen kontrolliert. Im Hintergrund gab es zwei Kriege in Tschetschenien und andere separatistische Bewegungen — gemeint ist vor allem in Tatarstan, wo 1992 ein Referendum für die Unabhängigkeit abgehalten worden war. Die Auflösung Russlands schien eine mehr als mögliche Perspektive.

In Russland glauben viele, dass der Westen eine mögliche Auflösung Russland plant. Im Westen ist es üblich, mit einer gewissen unverhohlenen Herablassung auf solche Anschuldigungen zu reagieren. Das sei nichts weiter als eine weitere Manifestation typisch russischer Paranoia, der Paranoia eines Imperiums im Niedergang. Doch in den letzten Jahren haben sich tatsächlich viele westliche Politiker und Experten immer häufiger und offener für eine Dekolonialisierung Russlands geäußert. Einfach das als russische Paranoia abzutun wäre zu billig und irgendwie nicht konsequent. Im Januar 2023 tagte im Europäischen Parlament das „Forum Freier Nationen des Post-Russlands“, eine Plattform, die darauf abzielt, für die Völker Russlands die Unabhängigkeit zu erreichen und Russland in viele kleine unabhängige Staaten aufzuteilen. Das Forum tagte später im japanischen Parlament, Ende des Jahres auch im italienischen Senat. Vielleicht geht es hier nicht nur um einen Verfolgungswahn seitens der Russen.

Die Idee, auf den Zerfall Russlands hinzuarbeiten, ist nicht neu. Sie geht dem antikolonialen Diskurs voraus, der in den 1950er und 1960er Jahren mit der Auflösung der britischen und französischen Imperien und dem darauf folgenden „Schuld-und-Reue-Narrativ“ aufkam. Bereits während des Ersten Weltkriegs hatte sich das Deutsche Reich für die Förderung des Nationalismus vieler indigener Völker innerhalb des riesigen russischen Reiches eingesetzt, insbesondere in der Ukraine und den baltischen Staaten, einer Region, in der der Einfluss der deutschen Kultur jahrhundertelang massiv gewesen war. Der ideologische Vater des romantischen Nationalismus, Johann Gottfried Herder, war ein preußischer Deutscher, der fünf wichtige Jahre seiner Jugend in Riga, im damaligen Livland, verbracht hatte.

Nach einer in Russland weit verbreiteten Theorie erhielt der ukrainische Nationalismus, die Herausbildung eines ukrainischen Nationalbewusstseins, schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts von Österreich aus einen großen Schub. In Galizien, der westlichsten Region der heutigen Ukraine, die damals zum Habsburgerreich gehörte, wurden die ukrainische Kultur und der Unterricht in ukrainischer Sprache gefördert, um potenziell destabilisierenden „moskofilischen“ Tendenzen in Lemberg entgegenzuwirken. Die Ukrainer nannten sich damals „ruski“ (mit einem „s“), viele legten mehr Wert auf die Einheit des orthodoxen Glaubens mit Moskau als auf sprachliche Unterschiede.

Die Oktoberrevolution, der Sieg der Bolschewiki im heftigen russischen Bürgerkrieg und Stalins zentralistische Vision hielten die zentrifugalen Impulse des neuen Sowjetstaates eine Zeit lang unter Kontrolle. Im benachbarten Polen, das nach mehr als einem Jahrhundert der Besatzung wieder auferstanden war, entstanden dagegen Ideen der Revanche gegenüber dem alten russischen Gegner. Unter der Führung von Marschall Jozef Pilsudski, der bis zu seinem Tod im Jahr 1935 die Zweite Polnische Republik führte, wurden die Ideen des Prometheismus und des Intermariums zum politischen Ziel. Der Prometheismus zielte darauf ab, die Unabhängigkeit der nicht-russischen Nationen innerhalb der Sowjetunion zu unterstützen. Das Intermarium-Projekt strebte ein multikulturelles Polen an, das sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstrecken sollte. 

Doch im Polnisch-Sowjetischen Krieg von 1920 gelang es Polen nicht, Kiew einzunehmen. Einige Monate später waren die Bolschewiken bei Warschau. Der polnischen Armee gelang es überraschenderweise, die sowjetischen Truppen zurückzuschlagen, die berühmte Schlacht ist als das „Wunder an der Weichsel“ in die Geschichte eingegangen. Prometheismus und Intermarium waren zwar Ideen, die viele Bewunderer fanden, aber sie blieben auf das Reich der Ideen beschränkt, ohne in konkrete Projekte umgesetzt werden zu können, Polen war damals dafür einfach zu schwach. Heute betrachten viele in Polen die sogenannten „Kresy“ (Polnisch für „Grenzregionen“), Gebiete, die einst zur Republik Polen-Litauen gehörten, als legitime Einflusssphäre. Es handelt sich ja aus polnischer Sicht um Gebiete, die Polen zu Unrecht genommen wurden. Es ist kein Zufall, dass sich unter den Befürwortern einer Dekolonialisierung Russlands heute viele Polen befinden.

Der postimperiale koloniale Diskurs

Nach dem Zweiten Weltkrieg und mit der Auflösung der Kolonialreiche hielt der antikoloniale Diskurs Einzug in die Universitäten und die öffentliche Meinung. In den Jahren des Kalten Krieges unterstützte die antikapitalistische und internationalistische Sowjetunion sowohl materiell als auch ideologisch die kolonialen Befreiungsbewegungen, insbesondere in Afrika. 

Heute ist der antikoloniale Diskurs in der westlichen Welt zum Mainstream geworden. Doch diese Rhetorik hat oft den Beigeschmack von Heuchelei. Es stimmt, dass der Westen den Kolonialreichen als offene Form der Ausbeutung und militärischen Besetzung abgeschworen hat. Aber andererseits ist der Überlegenheitskomplex des Westens gegenüber dem Rest der Welt keineswegs geringer geworden. Es gilt einfach nicht mehr als gute Etikette laut auszusprechen, was so viele nach wie vor denken, nämlich dass der Westen dem Rest der Welt und den Alternativen möglicher gesellschaftlicher Organisation weit überlegen ist. Früher hat man versucht, die Welt zu evangelisieren. Heute werden Kriege geführt, um die Welt sicher für die Demokratie zu machen, egal ob in der Ukraine oder im Irak. Dass die Ergebnisse dabei oft bescheiden ausfallen, scheint niemanden zu stören. Für die Demokratie muss man notwendigenfalls auch sterben, scheinen viele zu denken.

Der antikoloniale Diskurs in Bezug auf Russland

Russland ist ein föderaler Staat, der innerhalb seiner aktuellen Grenzen von praktisch allen Staaten der Welt anerkannt wird. Die laufenden territorialen Streitigkeiten zwischen Russland und der Ukraine sind im Zusammenhang mit der inneren Stabilität der Russischen Föderation von geringer Bedeutung. Sicherlich hat Russland im Laufe seiner Geschichte Gebiete besetzt, die irgendwann von anderen indigenen Völkern bewohnt wurden. Doch Russland erreichte den Pazifischen Ozean bereits in der Mitte des 17. Jahrhunderts, mehr als ein Jahrhundert vor der Gründung der USA. Heute würden nur wenige Fanatiker von einer Dekolonialisierung der Vereinigten Staaten sprechen oder fordern, dass die USA Arizona und Kalifornien an Mexiko zurückgeben. Doch in Bezug auf Russland ist es akzeptabel und wird als realistisch angesehen, solche scheinbar anachronistischen Streitigkeiten wieder ins Leben zu rufen. Es ist salonfähig geworden, von so etwas wie den unabhängigen Vereinigten Staaten von Sibirien oder einem unabhängigen Kaukasus zu sprechen. Und das, obwohl in den meisten Regionen der heutigen Russischen Föderation die Russen fast überall die größte ethnische Gruppe sind. 

Natürlich strebt jedes kleine Volk nach Unabhängigkeit, das ist in gewisser Weise natürlich. Aber dass Europa jeden Anflug von Nationalismus zu Hause stigmatisiert und andernorts einen potenziell zerstörerischen Nationalismus schürt, ist nicht nur heuchlerisch, sondern geradezu irre. Kaja Kallas, die estnische Ex-Premierministerin und designierte neue außenpolitische Chefin der EU, findet es normal, lächelnd zu erzählen, dass es schön wäre, wenn es anstelle von Russland eine Reihe kleinerer Staaten gäbe. Aber was wären die Folgen, wenn man einen solchen Ansatz zu ernst nähme? Der Krieg in der Ukraine hat die Welt bereits gefährlich nahe an einen möglichen Atomkonflikt gebracht. Bislang hat sich Russland zurückhaltend und unwillig gezeigt, den Konflikt mit dem Westen zu eskalieren, und hat die atomare Schwelle nicht überschritten. Viele Falken im Westen behaupten sogar, Angst vor einer nuklearen Eskalation zu haben bedeute, in die Falle des bösen Putins zu tappen. Putin wüsste ja, dass westliche Bürger nicht bereit seien, für die Demokratie zu sterben, deswegen wolle er in den Europäern Angst vor einem Atomkrieg schüren. Doch die russische Nukleardoktrin äußert sich klar über mögliche Bedrohungen der Einheit des russischen Staates und den Einsatz von Atomwaffen. Einige scheinen zu glauben, dass, wenn die Sowjetunion ohne eine nukleare Katastrophe zerfiel, dasselbe auch mit Russland geschehen könnte. Aber es bleibt ein riskantes Spiel, bei dem Russland vielleicht nicht das einzige Land wäre, das auseinanderfallen könnte.

Siehe dazu auch: «Der größte Schweizer Medienkonzern prämiert die schlimmsten Kriegshetzer und Russenhasser».

Erstveröffentlich in GlobalBridge v. 26.8. 2024
https://globalbridge.ch/die-eu-hardliner-wollen-russland-dekolonialisieren/

Wir danken für das Publikationsrecht.

Kursk und die Folgen

Kiew fordert nach der Ankündigung Berlins, die Finanzmittel für die Ukraine zu begrenzen, direkten Zugriff auf russisches Auslandsvermögen. Verhandlungsbemühungen sind durch den Angriff auf Kursk zunichte gemacht worden.

23 Aug 2024

Von German Foreign Policy

BERLIN/KIEW (Eigener Bericht) – Nach der Ankündigung Berlins, die Finanzierung der Ukraine zu begrenzen, fordert Kiew einen unmittelbaren Zugriff auf im Westen eingefrorenes Vermögen des russischen Staats. Die Bundesregierung hat vor kurzem mitgeteilt, über die bereits für Kiew verplanten Mittel hinaus keine neuen Ausgaben zur Unterstützung der Ukraine tätigen zu wollen; das Land soll nun auf Basis der Zinserträge aus den eingefrorenen Auslandsguthaben der russischen Zentralbank finanziert werden. Kiewer Regierungsangaben zufolge reicht das nicht aus; es sollen deshalb die Guthaben selbst beschlagnahmt werden. Faktisch wäre das ein Präzedenzfall für den Diebstahl fremden Staatseigentums, der weltweit Folgen hätte – wohl auch für Auslandsvermögen westlicher Staaten. Die Debatte spitzt sich auch deshalb zu, weil die Ukraine faktisch bankrott ist. Weckten noch kürzlich Äußerungen von Präsident Wolodymyr Selenskyj und die Entsendung von Außenminister Dmytro Kuleba nach China Hoffnung auf Waffenstillstand und Wiederaufbaumaßnahmen, so sind diese nach dem Angriff der Ukraine auf das russische Gebiet Kursk zerstoben. Der Angriff habe Verhandlungen unmöglich gemacht, werden Diplomaten zitiert.

Anlass zu Verhandlungen

Zur Aufnahme von Gesprächen mit Moskau hatte Kiew aus verschiedenen Gründen Anlass. Zum einen war sein Versuch, auf dem vorgeblichen Friedensgipfel Mitte Juni in der Schweiz eine Reihe einflussreicher Staaten des Globalen Südens auf seine Seite zu ziehen und damit Russland politisch zu isolieren, gescheitert; die Regierungen etwa Indiens, Brasiliens oder Südafrikas hatten sich Abschlusserklärung des Gipfels mit dem Hinweis verweigert, Friedensgespräche mit nur einer Konfliktpartei ergäben keinen Sinn.[1] War zumindest das Vortäuschen von Verhandlungsbereitschaft also Voraussetzung für weitere Bemühungen, den Globalen Süden für die Ukraine zu gewinnen, so zeichnete sich zusehends auch materieller Druck ab. Die russischen Angriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur, die Kiew zum Einlenken nötigen sollten, haben der Washington Post zufolge mittlerweile neun der 18 Gigawatt vernichtet, die die Ukraine im kalten Winter zu Spitzenzeiten benötigt.[2] Bereits jetzt ist die Bevölkerung der Ukraine mit schweren Stromausfällen konfrontiert; die ohnehin stark geschädigte Wirtschaft wird durch den Energiemangel zusätzlich beeinträchtigt. Die ukrainischen Angriffe auf Russlands Erdölindustrie dagegen fügen Moskau relativ geringere Schäden zu – und weil sie zeitweise den Ölpreis in die Höhe getrieben haben, stoßen sie in den westlichen Hauptstädten intern auf Unmut.

„Von der Tagesordnung genommen“

Laut der Washington Post ließ sich Kiew deshalb kurz nach dem Schweizer Ukraine-Gipfel auf einen Vorstoß Qatars ein, zu Verhandlungen mit Moskau überzugehen.[3] Demnach sollte zunächst ein beidseitiger Verzicht auf Angriffe auf die Energie- bzw. die Ölinfrastruktur in Kraft treten – dies mit der Perspektive, zu einem umfassenderen Waffenstillstand ausgeweitet zu werden. Qatar habe darüber fast zwei Monate lang mit beiden Seiten verhandelt, hieß es unter Berufung auf Diplomaten; die Regierung in Doha habe gehofft, in Kürze eine Einigung zu erzielen. Der ukrainische Angriff auf das Gebiet Kursk habe die Bemühungen jetzt aber umgehend zunichte gemacht. Der liberale russische Politiker Grigori Jawlinski etwa ließ sich von der New York Times mit der Aussage zitieren, in Moskau habe man Hoffnung gehegt, „die Kämpfe könnten dieses Jahr enden“.[4] Der Angriff auf das Gebiet Kursk habe nun aber die Chancen dafür nicht nur reduziert, sondern sie sogar „von der Tagesordnung genommen“. Zwei ehemalige russische Regierungsmitarbeiter schlossen sich gegenüber der US-Zeitung dieser Einschätzung an. Ausdrücklich bestätigte Juri Uschakow, außenpolitischer Berater des russischen Präsidenten Wladimir Putin, angesichts der jüngsten Kiewer „Eskapade“ werde man zumindest vorläufig „nicht verhandeln“.[5]

Vermittler düpiert

Hinzu kommt, dass Kiew mit seinem Vorgehen einmal mehr potenzielle Vermittler verprellt. Erst im Juli hatte China den ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba zu Gesprächen nicht zuletzt mit seinem Amtskollegen Wang Yi empfangen – in der Absicht, Wege zu einer Verhandlungslösung zu bahnen.[6] Zudem hatte Indien mit der ukrainischen Regierung über einen Besuch von Ministerpräsident Narendra Modi verhandelt – sozusagen als Ausgleich für Modis Besuch im Juli in Moskau. Während Kiew mit Beijing und New Delhi über Wege zu einer Konfliktlösung diskutierte, bereitete es hinter deren Rücken längst den Angriff auf Kursk vor. Modi trifft am heutigen Freitag düpiert in der ukrainischen Hauptstadt ein. Auch Qatars Regierung muss konstatieren, dass sie mit ukrainischen Gesprächspartnern über Wege aus dem Krieg verhandelte, während Kiew insgeheim bereits die Eröffnung eines neuen Schlachtfeldes auf russischem Territorium plante. Doha, gleichfalls düpiert, sagte die schon in Kürze geplanten Gespräche inzwischen ab.[7]

„Der Topf ist leer“

Gleichzeitig zeichnen sich neue Spannungen zwischen Kiew und Berlin ab. Wie bereits am vergangenen Wochenende berichtet wurde, will die Bundesregierung ab sofort keinerlei neue Mittel mehr für die Ukraine zur Verfügung stellen. Bereits fest verplant sind die knapp acht Milliarden Euro, die der Bundeshaushalt 2024 für die Unterstützung der Ukraine vorsieht. Im Bundeshaushalt 2025 sind weitere vier Milliarden Euro für Kiew enthalten; diese sind aber, wie es heißt, „offenbar schon überbucht“.[8] Für 2026 ist von drei, für 2027 und 2028 jeweils von einer halben Milliarde Euro die Rede. Weitere Mittel sollen – darauf beharren Kanzler Olaf Scholz und Finanzminister Christian Lindner – lediglich dann gewährt werden, wenn für die entsprechenden Vorhaben „eine Finanzierung gesichert“ sei. Hintergrund sind die Berliner Bestrebungen, die Staatsausgaben einzuschränken, um die Neuverschuldung zu begrenzen. Zwar würden bereits getätigte Zusagen noch realisiert, heißt es; doch wird ein Mitarbeiter der Bundesregierung mit der Feststellung zitiert: „Ende der Veranstaltung. Der Topf ist leer.“[9]

Präzedenzfall

Gedeckt werden soll Kiews Finanzbedarf nach dem Willen Berlins nicht mehr aus deutschen Mitteln, sondern stattdessen aus Zinserträgen, die die im Westen eingefrorenen Mittel der russischen Zentralbank einbringen – insgesamt gut 260 Milliarden Euro. Konkret werden zur Zeit die Zinsen der gut 173 Milliarden Euro ins Visier genommen, die der Finanzkonzern Euroclear mit Sitz in Brüssel verwaltet. Die G7 haben beschlossen, die Zinsen zugunsten der Ukraine zu beschlagnahmen und Kiew auf ihrer Grundlage einen Kredit zu ermöglichen; jährlich könnten damit mehrere Milliarden Euro beschafft werden, heißt es.[10] Allerdings sind noch diverse Fragen offen. So wird berichtet, Experten rechneten mit einer Laufzeit des Kredits von möglicherweise 20 Jahren. Das setze faktisch voraus, dass die russischen Gelder auch noch nach einem etwaigen Friedensschluss mit der Ukraine eingefroren blieben, sollte ein solcher zustande kommen. Hinzu kommt das nach wie vor ungelöste Problem, dass ein westlicher bzw. ukrainischer Zugriff auf russisches Staatseigentum als klarer Präzedenzfall gewertet würde. Damit müssten westliche Staaten damit rechnen, dass ihr Eigentum im Ausland im Konfliktfall gleichfalls enteignet werden könnte, nicht nur zur Entschädigung von Kriegs-, sondern auch von Kolonial- und insbesondere von NS-Verbrechen.

Finanzdesaster

Umso schwerer wiegt, dass Kiew jetzt, wie die stellvertretende Finanzministerin Olga Zykova soeben auf einer Videokonferenz des Kiewer Centre for Economic Strategy erklärte, nicht nur die schnelle Freigabe der Kreditmittel auf Basis der Zinserträge des eingefrorenen russischen Staatsvermögens fordert, sondern den Zugriff auf das Staatsvermögen selbst. Das sei nötig, heißt es, um den ukrainischen Staatshaushalt zu stabilisieren, der zuletzt zu mehr als 50 Prozent aus auswärtigen Zuwendungen gespeist worden sei.[11] Für das Jahr 2025 benötige man Hilfsgelder in Höhe von mindestens 35 Milliarden US-Dollar; 15 Milliarden US-Dollar fehlten noch. Als einziger Ausweg aus dem zunehmenden Finanzierungsdesaster gilt ein Ende des Krieges und der Wiederaufbau des Landes; beides aber ist nach dem ukrainischen Angriff auf Kursk weniger in Sicht denn je.

[1] S. dazu Ziele klar verfehlt.

[2] Isabelle Khurshudyan, Siobhán O’Grady, John Hudson, Catherine Belton: Ukraine’s offensive derails secret efforts for partial cease-fire with Russia, officials say. washingtonpost.com 17.08.2024.

[4], [5] Anton Troianovski, Andrew E. Kramer, Kim Barker, Adam Rasgon: Ukraine Says Its Incursion Will Bring Peace. Putin’s Plans May Differ. nytimes.com 19.08.2024.

[6] S. dazu Diplomatie statt Waffen.

[7] Isabelle Khurshudyan, Siobhán O’Grady, John Hudson, Catherine Belton: Ukraine’s offensive derails secret efforts for partial cease-fire with Russia, officials say. washingtonpost.com 17.08.2024.

[8], [9] Peter Carstens, Konrad Schuller: Kein neues Geld mehr für die Ukraine. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 18.08.2024.

[10] Christian Schubert: Ein russischer Hebel gegen Putin. Frankfurter Allgemeine Zeitung 21.08.2024.

[11] Andreas Mihm: Kiew: Brauchen Milliarden schnell. Frankfurter Allgemeine Zeitung 22.08.2024.

Erstveröffentlich in German Foreign Policy v. 22.8. 2024
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9647

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