Für eine Rente wie in Österreich

Aufgrund einer Anfrage der arbeitsmarktpolitischen Sprecherin der Partei DIE LINKE Sabine Zimmermann an die Bundesregierung wurde bekannt, dass geplant ist, das heutige Rentenniveau von 48% des vorherigen Gehalts erneut zu unterschreiten: auf 43,5 %. Bereits jetzt rangiert die Bundesrepublik auf einem der letzten Plätze innerhalb der OECD-Staaten, was die Quote des Rentenanteils vom vorher bezogenen Einkommen betrifft. In der Konsequenz läuft diese Politik darauf hinaus, dass zukünftig jede(r) zweite Beschäftigte mit Alltagsarmut konfrontiert sein würde. Um das abzuwenden, gibt es jetzt dazu die Kampage „Für eine Rentenversicherung als Bürgerversicherung“, die sich an den österreichischen Erfahrungen orientiert.

Dabei kann sie sich darauf stützen, dass die Gewerkschaften, die Linkspartei und auch einige linke Sozialdemokraten an der Forderung einer Rentenversicherung für alle Beschäftigte festhalten. Als vor 20 Jahren die Schröder- Regierung die Rentenkürzung und Rentenprivatisierung  auf den Weg gebracht hatte, hatte Österreich nach Protesten einen anderen Weg gewählt, den der Bürgerversicherung. Das zahlt sich aus!

In Österreich zahlen jetzt alle in eine „Pensionskasse“ ein und die Rente konnte so sogar erhöht werden. Gutverdienende Beamte und Freiberufler stabilisieren das System gerade jetzt, wo geburtenstarke  Jahrgänge in Rente gehen. Soweit sie jetzt Leistungen erhalten sind die zur Zeit noch gering. Auch der Staat und die Unternehmen beteiligen sich mehr als in Deutschland. Es geht, wenn man will!

Wer für eine Rente wie in Österreich, jetzt ist, sollte deshalb die Kampagne unterstützen.

Die Kampagne ist eine Initiative von RentenZukunft

Wie Walter Steinmeier in der Ukraine zum meistgehassten Deutschen wurde

Dieser bereits im Mai erschienene Artikel beschäftigt sich mit dem Schicksal des sog. Normandie-Formats in der Vorgeschichte des Ukrainekrieges und mit der Politik Steinmeiers im besonderen. Der Autor schlussfolgert, es gebe keinen vernünftigen Grund, sich für das von Steinmeier verfolgte Konzept der Konflikteindämmung zu distanzieren. Ich füge hinzu: Seine dann erfolgte Entschuldigung dürfte dann eher als eine Mischung aus mangelndem Rückgrad und transatlantischem Druck zu verstehen sein. (Jochen Gester)

Von Roland Czada

Das deutsche Staatsoberhaupt Steinmeier wurde vom ukrainischen Präsidenten zur unerwünschten Person erklärt. Hintergrund ist die als »Steinmeier-Formel« bekannt gewordene Friedensformel zur Umsetzung des Minsker Abkommens von 2015. Steinmeier war damit in der Ukraine zum bekanntesten und meistgehassten deutschen Politiker geworden. Gegen ihn beziehungsweise gegen die nach ihm benannte »Steinmeier-Formel« waren am 6. Oktober 2019 in Kiew Tausende auf die Straße gegangen. Es drohte darüber sogar ein neuer Präsidentensturz, diesmal gegen Wolodymyr Selenskyj gerichtet. Selenskyj hatte sich nach seinem Amtsantritt im Mai 2019 im Sinne der Steinmeier-Formel kompromissbereit gezeigt und stieß damit bei ukrainischen Nationalisten auf erbitterten Widerstand. Es sieht demnach so aus, als erfahre Hitler in der heutigen Ukraine größere Sympathie als Steinmeier. Was war geschehen, dass es dazu kommen konnte?

Der Konflikt um die »Steinmeier-Formel« ist das letzte Kapitel in einer langen Abfolge von Warnungen und Friedensinitiativen, die vor Ausbruch des Ukraine-Krieges am 24. Februar 2022 unternommen wurden. Schon in den 1990er Jahren waren warnende Stimmen vor einer militärischen Konfrontation zwischen der NATO und Russland im Kampf um die Ukraine laut geworden. Das Minsker Abkommen von 2015 gilt als europäische, von Frankreich und Deutschland auf den Weg gebrachte Friedensinitiative. Das von den damals amtierenden Staatschefs aus Frankreich (François Hollande), Deutschland (Angela Merkel), der Ukraine (Petro Poroschenko) sowie Russland (Wladimir Putin) ausgehandelte Abkommen enthält ein Maßnahmenpaket zur Umsetzung der vorausgegangenen Minsker Vereinbarung zur politischen Beilegung des Konflikts um die von Separatisten gehaltenen Regionen der Ostukraine.

Steinmeier und das Scheitern des Minsker Abkommens

Der im Abkommen als erster Schritt vereinbarte Waffenstillstand war gleich nach dessen Unterzeichnung und daraufhin immer wieder von beiden Seiten gebrochen worden. Die Ukraine befand sich dadurch im permanenten Kriegszustand. Das Minsker Abkommen sah einen Autonomiestatus für die von prorussischen Rebellen gehaltenen Gebiete Luhansk und Donezk vor, ähnlich dem der Bundesländer in Deutschland. Während die Kämpfe in der Ostukraine immer wieder aufflackerten, bestand die Ukraine von Anfang an auf der Kapitulation der selbsternannten Volksrepubliken Luhansk und Donez als erstem Schritt zur Umsetzung des Abkommens, während Russland zuerst Wahlen forderte. Keine Wahlen unter Waffen, lautete dagegen die Forderung der Ukraine.

Der damalige deutsche Außenminister Walter Steinmeier bracht daraufhin 2016 einen Vorschlag ins Spiel, der zur Auflösung der Pattsituation beitragen sollte. Er sah vor, zuerst Wahlen in den Separatistengebieten unter Aufsicht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) abzuhalten, dann – wenn diese Wahlen fair abliefen – beiden Regionen einen Selbstverwaltungsstatus ähnlich dem unserer Bundesländer zu gewähren, daraufhin eine Demilitarisierung des Gebietes einzuleiten und schließlich die ursprüngliche ukrainische Ostgrenze wiederherzustellen.

Die damalige ukrainische Regierung unter Staatspräsident Petro Poroschenko und Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk lehnte Steinemeiers Vorschlag ab. Erst der am 21. April 2019 neu gewählte Präsident Wolodymyr Selenskyj brachte Steinmeiers Vorschlag wieder ins Spiel. Er hatte im Wahlkampf eine Lösung des Konfliktes in der Ostukraine versprochen, die er direkt im Kontakt mit dem russischen Präsidenten Putin erörtern wollte, wissend, dass Putin das als Steinmeier-Formel bekannt gewordene Prozedere unterstützt hatte. Als Selenskyj nach seinem Amtsantritt im Mai 2019 unter anderem in Gesprächen mit dem französischen Präsidenten Emmanuelle Macron und Bundeskanzlerin Merkel darauf einging, stieß er auf heftigen parlamentarischen und publizistischen Widerstand. Im Oktober 2016 organisierten rechtsextreme Nationalisten Massenproteste gegen die »Steinmeier-Formel«. Selenskyj, der mit dem Versprechen eines Friedensabkommens gewählt worden war, scheiterte an einer parlamentarischen Mehrheit und an außerparlamentarischen Protesten, die den Keim eines neuen »Maidan«, gewaltsamen Zusammenstößen in Kiew mit der Möglichkeit seiner Absetzung, in sich trugen.

Die Minsker Vereinbarung und das Minsker Abkommen, um die es im Kern geht, orientieren sich an den Friedensformeln des Westfälischen Friedens von 1648. Sie hatten ein Machtteilungsarrangement zum Ziel, wie es zwischen Katholiken und Protestanten im Instrumentum Pacis Osnabrugense erreicht wurde. Die Ukraine wäre zu einer Bundesrepublik mit Autonomiestatus seiner Regionen geworden. Das wollten die dortigen Rechtsnationalisten nicht. Ihr Argument, damit werde das Land zerstückelt und Russland ausgeliefert, erinnert fast wörtlich an die nationalsozialistische Kritik am Westfälischen Frieden, dem sie genauso eine Zerstückelung Deutschlands und Auslieferung an Frankreich vorwarfen. Die Unitarisierung des »Tausenjährigen Reiches« war eine Antwort auf den »Schandfrieden von Münster und Osnabrück«.

Steinmeier hatte 2015 eine Forschungsinitiative zur Aktualität des Westfälischen Friedens gestartet und dazu eine Projektgruppe im Bundespräsidialamt eingesetzt. Die Friedensformel des Minsker Abkommens basiert indirekt darauf. Das Ziel einer neutralen, föderal verfassten Ukraine hätte ihrer Geschichte und Konfliktsituation besser entsprochen als ein unitarischer Staat, zumal die überwiegende Mehrheit der im Osten und Süden lebenden Bevölkerung eine Westorientierung des Landes lange ablehnte (vgl. die Schaubilder zu Umfrageergebnissen des Jahres 2013 und 2014 aus dem Band von Ulrich Schmid, und Christian Kleeb, Christian: UA – Ukraine zwischen Ost und West. Zürich: Vontobel-Stiftung 2015 – Download s. unten).

Der Westfälische Friedensschluss als Vorbild rationaler Konfliktlösung

Der Dreißigjährige Krieg war von der Konfessionsspaltung im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation ausgegangen. Er begann 1618 in Böhmen und hatte bald alle damaligen europäischen Großmächte in einen verheerenden, in ganz Mitteleuropa wütenden Krieg hineingezogen. Der an seinem Ende zustande gekommene Westfälische Friede von 1648 gilt heute als Meisterleistung, unter anderem weil mit ihm ein ideologischer Konfessionskonflikt in einen rational händelbaren Interessenkonflikt transformiert wurde. Interessen kann man kompromissförmig ausgleichen, Glaubenskonflikte bleiben jedem Kompromiss verschlossen. Das war die epochemachende Erkenntnis, die dem Westfälischen Friedensschluss zugrunde lag.

Gleichwohl galt der Friedensschluss in Deutschland bis ins 20. Jahrhundert als Zeichen innerer Zerstrittenheit, der Kleinstaaterei und der äußeren Niederlage des alten Reiches. Die über Jahrhunderte gepflegte negative Sicht auf 1648 entfaltete eine letztlich unheilvolle Wirkung. Auf ihrer Grundlage ließ sich die nationalsozialistische Politik der Vereinheitlichung und ›Gleichschaltung‹ als Rückerlangung eines mit dem »Friedensdiktat« von 1648 vorgeblich geraubten Reichsgedankens rechtfertigen. Es gab sogar Pläne, nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue europäische Staatenordnung bei einem Friedenskongress in Münster völkerrechtlich abzusegnen. Am dortigen Stadtarchiv wurde eine Forschungsstelle eingerichtet, unter anderem um den Zweiten Weltkrieg als Parallele und Gegenstück zum Dreißigjährigen Krieg in einer Ausstellung unter dem Titel »Frankreichs größter Triumph – Deutschlands größte Schmach« zu dokumentieren. Der Plan verschwand aber noch vor Kriegsende in der Versenkung, weil Hitler eine künftige Aussöhnung mit Frankreich dadurch nicht gefährden wollte.

Mit ähnlichen Argumenten, die in Deutschland Machtteilung lange Zeit als Verrat an der Souveränitätsidee kritisiert hatten, wurde in der Ukraine die »Steinmeier-Formel« zurückgewiesen. Es sieht so aus, als sei Steinmeier in der Ukraine wegen der »Steinmeier-Formel« zum bestgehassten Mann nach Putin geworden. Selenskyj hat nicht zuletzt deshalb abgelehnt, ihn 2022 mitten im Krieg nach Kiew einzuladen.

Ukrainische Nationalisten verwarfen das bundesstaatliche Modell, weil es ihrer Ansicht nach die Gefahr einer Abspaltung von Teilgebieten an Russland enthielt oder zumindest ein ostukranisches »Bayern« als ständigen Störenfried zur Folge hätte. Dem hätte man allerdings mit einem Zweikammersystem entgegenwirken können, in dem die autonomen Regionen an der nationalen Politik beteiligt werden (ähnlich dem Bundesrat in Deutschland). Dieser unitarische Föderalismus wirkt einer Sezession entgegen, weil mit dem Ausscheiden aus dem Bund die Mitwirkungsrechte am Gesamtstaat verloren gingen (deshalb bleibt Bayern auch gerne Teil der Bundesrepublik). An dieser Lösung störte wiederum, dass man in Kiew befürchtete, dadurch hätte Russland über die ihm zugeneigten Regionen einen direkten Zugriff auf die nationale Politik der Ukraine.

Die Minsker Abkommen und die Steinmeier-Formel hätten den Konflikt lösen und die Ostgrenze der Ukraine wiederherstellen können. Ihnen entgegen stand eine in Westeuropa überkommene Vorstellung unitarischer souveräner Staatlichkeit. Das Minsker Abkommen ist von ukrainischen Nationalisten untergraben worden. Leider fand die Ukraine bei westlichen Verfassungsexperten nur wenig Beachtung und Unterstützung. Stattdessen verfolgten Legionen westlicher »Wirtschaftsberater« eine neoliberale Mission, die wenig zur Befriedung der Lage beitrug, sondern zu Oligarchentum und weit verbreiteter Korruption gepaart mit populistischer Politik führte.

Die »Steinmeier Formula« hatte es in den USA wochenlang in Talkshows geschafft und Kommentarspalten gefüllt. In Deutschland herrschte dazu Funkstille. Deshalb kann es sich Selenskyj 2022 auch leisten, über Steinmeiers Friedensinitiative hinwegzugehen und ihn allein als energiehungrigen Russenfreund darzustellen.

Fazit und Folgen

Die noch lebende Nachkriegsgeneration der »Fünfundvierziger« und der 1950er Jahre konnte sich im Kalten Krieg sicherer fühlen als in gegenwärtigen Verhältnissen. Das erschreckt und verdient, genau analysiert zu werden. Der Krieg um die Ukraine eignet sich als Musterbeispiel, weil an seiner Vorgeschichte ein mehrfaches Versagen deutlich wird. Jeder Krieg hat Nachwirkungen und eine Vorgeschichte. Kein Krieg kann allein im Blick auf einen letzten Akt der Aggression oder die Person eines Aggressors verstanden werden.

Gleich nach dem russischen Einmarsch gaben ukrainische und osteuropäische Stimmen Deutschland und Frankreich eine Mitschuld am Krieg, weil deren Eliten in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik entgegen allen Warnungen die Gefahr heruntergespielt hatten. Von anderer Seite heißt es, die das behaupten, hätten mit ihrem eigenen Begehren nach NATO-Erweiterung und Querschüssen im NATO-Russland-Rat die Verständigung mit Russland hintertrieben und auf diese Weise den Konflikt befeuert. Hier wird ein innereuropäischer Konflikt deutlich, der das ohnehin gespannte Verhältnis zwischen osteuropäischen und westeuropäischen EU-Mitgliedstaaten auch künftig belasten dürfte.

Dadurch, dass der Westen zwar im Ukraine-Krieg als Waffenlieferant und mit Wirtschaftssanktionen auftritt, an Friedensgesprächen aber nicht teilnimmt, erscheint nach Kriegsbeginn eine umfassende Verhandlungslösung unmöglich. Wir haben es mit einem Stellvertreterkrieg zu tun, in dem man die Ukraine für die Sache des Westens kämpfen lässt. Dies begünstigt eine unkontrollierbare Konfliktdynamik und erschwert einen dauerhaften Verhandlungsfrieden. Nach der russischen Ukraine-Invasion scheint Entspannungspolitik diskreditiert zu sein. Dieser Eindruck basiert allerdings auf einem falschen Verständnis von Entspannungspolitik. Er beruht auf der Vorstellung, diese sei von universellen Werten bestimmt gewesen. Tatsächlich besteht Entspannungspolitik stets notgedrungen in der Duldung von Werten und Interessen einer Gegenseite, die den eigenen diametral entgegenstehen. Das wird von denen leicht vergessen, die jetzt kampflustig von einem Endsieg des Westens über die Autokratien des Ostens träumen – oder von einer inneren Revolte gegen den Krieg in Russland. Dort sind die Zustimmungswerte zu Putin nach dem Angriff auf 80 Prozent gestiegen und von da auf 82 Prozent nach Äußerungen von US-Präsident Biden über einen erwünschten regime change in Russland. Wer da von Sieg und russischen Revolten träumt, hat wenig Aussicht auf einen Verhandlungsfrieden.

Bundeskanzler Scholz hatte noch am 19. Februar 2022, fünf Tage vor dem russischen Einmarsch, einen letzten Versuch unternommen, zwischen Moskau und Kiew zu vermitteln. Das Wall Street Journal berichtete: »Scholz sagte Selenskyj auf der Münchener Sicherheitskonferenz, die Ukraine solle auf ihre NATO-Bestrebungen verzichten und als Teil eines umfassenderen europäischen Sicherheitspakts zwischen dem Westen und Russland ihre Neutralität erklären. Der Pakt würde von Putin und Biden unterzeichnet werden, die gemeinsam die Sicherheit der Ukraine garantieren würden. Zelensky antwortete, man könne Putin nicht zutrauen, ein solches Abkommen einzuhalten, und dass die meisten Ukrainer der NATO beitreten wollten. Seine Antwort ließ deutsche Beamte besorgt zurück, dass die Chancen auf Frieden schwinden« (https://www.wsj.com/articles/vladimir-putins-20-year-march-to-war-in-ukraineand-how-the-west-mishandled-it-11648826461).

Trotz aller Versuche, eine Friedenslösung zu finden, sitzen diejenigen, die sich in Europa am meisten für den Frieden einsetzten, nach dem russischen Angriff auf der Anklagebank. Die künftige Geschichtsschreibung dürfte diese aktuelle Fehlwahrwahrnehmung spätestens dann korrigieren, wenn die Ukraine nach einem zu erwartenden verlustreichem Teilsieg nicht mehr als troublemaker für Russland auftritt, sondern Westeuropa in zwei Teile spaltet. Sie wird dies absehbar zusammen mit weiteren postsowjetischen und osteuropäischen Staaten tun, die als neo-nationalistische Kräfte einer post-nationalen EU Paroli bieten.

Verwendete Literatur

Czada, Roland 2017. »Ein ›Westfälischer Friede‹ für die Krisenherde der Gegenwart?«, in Osnabrücker Jahrbuch Frieden und Wissenschaft 24 (2017), S. 159-179. https://www.politik.uos.de/download/czada.westfaelischerfriede.pdf

Kissinger, Henry 2015. World order. Reflections on the character of nations and the course of history. London: Penguin Books.

Schmid, Ulrich; Kleeb, Christian 2015. UA Ukraine zwischen Ost und West. Zürich: Vontobel-Stiftung. https://www.vontobel-stiftung.ch/Download/AssetStore/5a2a08b1-c2df-4e19-970c-33d9cfacc397/ua-ukraine-zwischen-ost-und-west.mobi

Internetquellen zum Thema

https://www.euractiv.com/section/europe-s-east/news/thousands-rally-in-kyiv-to-protest-the-steinmeier-formula-for-eastern-ukraine/

https://www.euractiv.com/section/europe-s-east/news/normandy-summit-upholds-the-steinmeier-formula-for-eastern-ukraine/

*** Explainer: What Is The Steinmeier Formula — And Did Zelenskiy Just Capitulate To Moscow?

https://www.rferl.org/a/what-is-the-steinmeier-formula-and-did-zelenskiy-just-capitulate-to-moscow-/30195593.html

*** Sources: Germany, France ask Zelensky to comply with Russia’s spin of Minsk Agreements

https://kyivindependent.com/national/sources-germany-france-ask-zelensky-to-comply-with-russias-spin-of-minsk-agreements/

Erschienen in der Zeitschrift „Globkult“ vom 13.4. 2022
Wir danken dem Autor für das Recht zur Veeröffentlichung.

Bollwerk des Westens

Die NATO ruft mit ihrem Strategischen Konzept endgültig die globale Großkonkurrenz aus

Von Jürgen Wagner

Es lässt sich wohl mit Fug und Recht sagen, dass die NATO mit der Verabschiedung ihres neuen Strategischen Konzeptes auf dem Madrider Gipfeltreffen Ende Juni 2022 endgültig die „Ära der Konkurrenz großer Mächte“ (Ursula v.d. Leyen) ausgerufen hat. Während Russland im bis dato gültigen Konzept aus dem Jahr 2010 noch überwiegend in einem positiven Licht erschien und von China gleich überhaupt keine Rede war, hat sich der Wind schon seit einigen Jahren spürbar gedreht. Das nun verabschiedete Strategische Konzept stellt somit den vorläufigen Höhepunkt sich bereits seit Längerem abzeichnender Entwicklungen dar. Seit Jahren wird immer eindringlicher vor der Gefahr gewarnt, dass es zu einem Krieg zwischen den Großmächten, der NATO auf der einen und Russland und/oder China auf der anderen Seite kommen könnte – nach der Lektüre des neuen NATO-Konzeptes sollte allen klar sein, dass es sich hierbei keineswegs um Panikmache handelt. Besonders beunruhigend ist dabei vor allem die darin vorgenommene regionale wie funktionale Entgrenzung der besagten Großmachtkonkurrenz, ohne gleichzeitig irgendwelche Wege aufzuzeigen, wie aus der immer gefährlicher werdenden Krise wieder herausgekommen werden kann.

Großmachtkonkurrenz…

Die Vorarbeiten für das neue Strategische Konzept begannen spätestens als es im November 2019 im Bündnis zwischen dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump und den europäischen Verbündeten, insbesondere mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der die NATO für „Hirntod“ erklärt hatte, zu erheblichen Spannungen gekommen war. Daraufhin beauftragte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg eine 10köpfigen Expertengruppe unter Co-Vorsitz des ehemaligen Verteidigungsministers Thomas de Maizière damit, Eckpunkte für eine Revitalisierung des Bündnisses und ein künftiges Strategisches Konzept zu erarbeiten.

Der von dieser Gruppe im November 2020 im Konsens verabschiedete Bericht „NATO 2030“ kam dann auch mit der Kernaussage daher, das Bündnis müsse seine Position gegenüber Russland und nun auch China grundlegend ändern: „Die NATO muss ihr Strategisches Konzept von 2010 erneuern. […] Die NATO muss sich an die Erfordernisse herausfordernderer strategischer Rahmenbedingungen anpassen, die durch die Rückkehr systemischer Rivalitäten, einem unablässig aggressiven Russland, den Aufstieg Chinas und die wachsende Bedeutung neuer Technologien geprägt werden.“ Dementsprechend wurde bereits in der Erklärung des letztjährigen NATO-Gipfels im Juni 2021 der Ton gegenüber Russland und China verschärft, was nun also auch im ranghöchsten Strategiedokument der Allianz aufgegriffen wurde.

Es gehört seit eh und je zum „guten“ Ton in Strategiedokumenten, ökonomisch-machtpolitische Konflikte als Auseinandersetzungen zwischen „gut“ und „böse“ zu beschreiben – das neue Konzept der NATO macht hier keine Ausnahme: „Autoritäre Akteure stellen unsere Interessen, unsere Werte und unsere demokratische Lebensweise infrage. […] Diese Akteure stehen ebenfalls an vorderster Front der Anstrengungen, multilaterale Normen und Institutionen vorsätzlich zu untergraben und autoritäre Regierungsmodelle zu fördern“ (Ziffer 7) Wer im Strategischen Konzept gleich im nächsten Absatz als Hauptgegner identifiziert wird, dürfte nach dem Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht weiter überraschen: „Die Russische Föderation ist die größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum.“ (Ziffer 8) Wie bereits angedeutet, wird nun erstmals auch China im Strategischen Konzept prominent als ernste Bedrohung der Allianz ausgewiesen. Das Land sei eine „Herausforderung“ und es strebe danach, „die regelbasierte internationale Ordnung zu untergraben“. (Ziffer 13)

… auf allen Ebenen…

Sorgen macht, wie gesagt, die inzwischen völlige geografische wie auch funktionale Entgrenzung der neuen Großmachtkonkurrenz, die aus Sicht der NATO mittlerweile tatsächlich auf allen erdenklichen Ebenen ausgetragen wird.  

Räumlich werden etwa die „Westbalkanstaaten und der Schwarzmeerraum“ genannt, die von „strategischer Bedeutung“ seien und „gegenüber böswilliger Einmischung und Zwang seitens Dritter“ unterstützt werden müssten (Ziffer 45). Als weitere Regionen von „strategischem Interesse für das Bündnis“ führt das Konzept auch den „Nahen Osten“ sowie „Nordafrika“ und die „Sahel-Region“ auf. Dortige Konflikte könnten ein Einfallstor für Einflussgewinne der erklärten Gegner Russland und China sein, wird gewarnt: „Die südliche Nachbarschaft der NATO, insbesondere der Nahe Osten, Nordafrika und die Sahelregion, stehen Herausforderungen in den Bereichen Sicherheit, Demografie, Wirtschaft und Politik gegenüber, die sich gegenseitig bedingen. Diese werden durch die Auswirkungen des Klimawandels, schwache Institutionen, gesundheitliche Notlagen und Ernährungsunsicherheit noch verschlimmert. Diese Situation bildet einen fruchtbaren Boden für die Ausbreitung nichtstaatlicher bewaffneter Gruppen einschließlich Terrororganisationen. Sie macht es darüber hinaus möglich, dass sich strategische Wettbewerber destabilisierend und mit Zwangsmaßnahmen einmischen können.“ (Ziffer 11)

Weiter wird Russland vorgeworfen, es wolle „Länder östlich und südlich von uns destabilisieren“, dies schließe auch den „Hohen Norden“ den „Ostsee-, Schwarzmeer- und Mittelmeerraum“ ein, was die westliche „Sicherheit und Interessen infrage“ stelle. (Ziffer 8) Mit Blick auf Osteuropa sind es wenig überraschend besonders Georgien und natürlich die Ukraine, denen verstärkte Aufmerksamkeit gewidmet wird. Bei der extrem konfliktbeladenen Frage der NATO-Mitgliedschaft beider Länder, wurde ein Mittelweg gewählt: Auf der einen Seite wurde betont, die NATO bekräftige den „auf dem Gipfeltreffen 2008 in Bukarest gefassten Beschluss“, wo beiden Ländern eine Beitrittsperspektive in Aussicht gestellt wurde. Nachdrücklich wird zudem darauf verwiesen: „Beschlüsse über eine Mitgliedschaft werden von den NATO-Verbündeten gefasst und Dritte haben in diesem Prozess kein Mitspracherecht.“ Auf der anderen Seite wird aber betont, die NATO stehe zwar für „alle demokratischen Staaten offen“, knüpfte dies aber an die Bedingung, dass sie „willens und in der Lage sind, die Aufgaben und Pflichten einer Mitgliedschaft zu übernehmen“ und eine Aufnahme zur „gemeinsamen Sicherheit“ beitragen müsse (Ziffer 40f.).

Während all diese Passagen zwar nicht ausschließlich, aber doch fast überall primär auf Russland gemünzt sind, ist es klar, dass sich die erstmalige Erwähnung einer weiteren Region in einem Strategischen Konzept der NATO nur gegen ein anderes Land richten kann: „Der indopazifische Raum ist für die NATO wichtig, da Entwicklungen in dieser Region unmittelbare Auswirkungen auf die euro-atlantische Sicherheit haben können. Wir werden den Dialog und die Zusammenarbeit mit neuen und bestehenden Partnern im indopazifischen Raum stärken, um regionenübergreifende Herausforderungen anzugehen und gemeinsame sicherheitspolitische Interessen zu verfolgen.“ (Ziffer 45)

Darüber hinaus werden auch sogenannte „hybride Bedrohungen“ im „politischen, wirtschaftlichen, Energie- und Informationsbereich“ genannt, die eigentlich unterhalb der Schwelle eines klassischen Krieges liegen. Aus Sicht der NATO könnten „Hybride Operationen“ jedoch ebenso „schwerwiegend wie ein bewaffneter Angriff sein“ und dazu führen, „dass der Nordatlantikrat Artikel 5 des Nordatlantikvertrags ausruft.“ (Ziffer 27) Ferner gelte es den „Zugang zum Weltraum“ (Ziffer16) und die Fähigkeit im „Cyberraum wirksam zu operieren“ (Ziffer 24) zu gewährleisten.

… mit konkreten Kriegsvorbereitungen…

Jahrelang bestimmten Fragen, wie Militäreinsätze gegen kleine oder allenfalls mittlere Gegner gewonnen werden können, die Planungen der NATO – dies ist schon länger nicht mehr der Fall, wie nun auch im wichtigsten Dokument der Allianz bestätigt wird: „Wir werden einzeln und kollektiv das volle Spektrum an Streitkräften, Fähigkeiten, Plänen, Ressourcen, Mitteln und Infrastruktur liefern, das zur Abschreckung und Verteidigung benötigt wird, und zwar auch für hochintensive dimensionsübergreifende Kriegsführung gegen gleichwertige Wettbewerber, die Kernwaffen besitzen.“ (Ziffer 22)

Abseits der zwar nüchternen, nichtsdestotrotz aber überaus Besorgnis erregenden Feststellung, dass sich die NATO nun auf Großmachtkriege vorbereitet, ist hier vor allem der Plural „interessant“, der nahelegt, dass in dieser Passage nicht nur Russland, sondern auch China gemeint ist. Gleichzeitig betont das Konzept den Anspruch, gegenüber diesen Gegnern eine militärische Überlegenheit zu erlangen, indem in neue Technologien investiert wird: „Aufstrebende und disruptive Technologien bergen sowohl Chancen als auch Risiken. Sie verändern das Wesen von Konflikten, gewinnen größere strategische Bedeutung und werden zu maßgeblichen Schauplätzen des weltweiten Wettbewerbs. Der [sic! technologische Vorherrschaft bestimmt zunehmend den Erfolg auf dem Schlachtfeld.“ (Ziffer 17)

Trotz seiner begrenzten Eigenmittel dient in diesem Zusammenhang vor allem das Sicherheits- und Investitionsprogramm (NATO Security Investment Programme, NSIP), dessen Budget, bei einem deutschen Anteil von rund 16,3 Prozent, im Zuge des NATO-Gipfels deutlich erhöht wurde, schreibt die Wirtschaftswoche: „Den Angaben zufolge soll der zivile und der militärische Haushalt von 2023 an jährlich um je 10 Prozent erhöht werden, der für das Sicherheits- und Investitionsprogramm NSIP sogar um 25 Prozent. Für die Periode von 2023 bis 2030 würden Nato-Berechnungen zufolge dann knapp 45 Milliarden Euro zur Verfügung stehen.Ohne die Erhöhung wären es nur um die 20 Milliarden Euro gewesen.“

Die Sicherstellung technologischer Überlegenheit ist aber vor allem Sache der Einzelstaaten und sie erfordert von ihnen erhebliche Investitionen, woran auch das NATO-Konzept erinnert. Pünktlich kurz vor Gipfelbeginn hatte die NATO neue Zahlen zu den Militärausgaben ihrer Mitgliedsstaaten veröffentlicht, die von 895 Mrd. Dollar (2015) auf 1190 Mrd. Dollar (2022) deutlich gestiegen sind. Dennoch gelte es hier weiter aufzusatteln, man müsse „sicherstellen, dass unsere Nationen die Verpflichtungen im Rahmen der Zusage zu Investitionen im Verteidigungsbereich (Defence Investment Pledge) vollständig erfüllen, sodass das gesamte Spektrum an benötigten Fähigkeiten bereitgestellt werden kann.“ (Ziffer 48) Zum Vergleich, die aktuelle Military Balance weist für China Militärausgaben von 207 Mrd. Dollar (2021) und für Russland von 62 Mrd. Dollar (2021) aus.

… gegen Russland…

Im Strategischen Konzept werden eine Reihe von Aufrüstungsmaßnahmen angekündigt, die teils dann auch bereits in noch konkreterer Form im Zuge des Gipfels beschlossen wurden. Die NATO wolle ihr „Abschreckungs- und Verteidigungsdispositiv deutlich verstärken“ und in diesem Zug eine „substantielle und durchgängige Präsenz auf dem Land, zur See und in der Luft sicherstellen“, und zwar „vorne mit robusten, im Einsatzgebiet stationierten dimensionsübergreifenden kampfbereiten Streitkräften [und] Infrastruktur zur schnellen Verstärkung“. (Ziffer 21)

Was man sich darunter konkret vorzustellen hat, wurde bereits einen Tag vor Gipfelbeginn in einer Pressekonferenz des NATO-Generalsekretärs deutlich. Stoltenberg kündige an, die NATO beabsichtige mehrere oder womöglich sogar alle bisher in Bataillonsstärke (~1.000-1.500) in acht osteuropäischen Ländern befindlichen NATO-Vorposten künftig auf Brigadestärke (~3.000-5.000) auszubauen. Ferner solle die Schnelle Eingreiftruppe (NATO Response Force, NRF) von 40.000 auf 300.000 SoldatInnen erheblich aufgestockt werden, hieß es dort weiter. Medienberichten zufolge sollen Teile der NRF künftig innerhalb von 10 Tagen, andere in spätestens 30 oder 50 Tagen verlegbar sein. Außerdem scheint vorgesehen zu sein, die jeweiligen Kräfte eines Landes einem bestimmten Gebiet zuzuordnen, woraus sich für Deutschland eine „Zuständigkeit“ für Litauen oder gar die gesamte baltische Region ergeben könnte. Deutschland werde hierzu 15.000 SoldatInnen, 65 Kampfjets und Transportflieger sowie 20 Kriegsschiffe beisteuern, war kurz darauf ebenfalls der Presse zu entnehmen.

Unmissverständlich wird im Konzept zudem betont, dass nukleare Abrüstung zwar wünschenswert wäre, an sie aber auf absehbare Zeit nicht zu denken sei. Schließlich seien die „strategischen nuklearen Kräfte des Bündnisses“, vor allem der USA, mit Abstrichen aber auch die Großbritanniens und Frankreichs, „der oberste Garant für die Sicherheit des Bündnisses.“ (Ziffer 29) Und aus diesem Grund wird auch unmissverständlich an der Nuklearen Teilhabe festgehalten, bei der in fünf europäischen NATO-Ländern, darunter auch Deutschland, US-Atomwaffen lagern und im Ernstfall von lokalen PilotInnen ins Ziel geflogen würden. Zwischenzeitlich war die Nukleare Teilhabe in Deutschland durchaus sehr umstritten – und auch wenn die kritischen Stimmen spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine weitgehend verstummt sind, betont das Konzept noch einmal zur Sicherheit: „Die nationalen Beiträge an Flugzeugen mit dualer Einsatzfähigkeit für den NATO-Auftrag der nuklearen Abschreckung bleiben bei dieser Anstrengung von zentraler Bedeutung.“ (Ziffer 29) Ferner wird auf der einen Seite beklagt, die „Russische Föderation modernisiert ihre nuklearen Kräfte“ (Ziffer 8). Geflissentlich unter den Tisch fällt aber, dass auch die USA derzeit die in Europa lagernden Atomwaffen auf den Typ B61-12 „modernisieren“ und sie damit treffsicherer und durchschlagsfähiger – kurz: gefährlicher – machen.

… und China…

Diese NATO-Schieflage hat durchaus Methode: „Die Volksrepublik China erweitert ihre Kernwaffenbestände rapide und entwickelt immer fortschrittlichere Trägersysteme, ohne dabei die Transparenz zu erhöhen oder sich in gutem Glauben auf Rüstungskontrolle und Risikominderung einzulassen.“ (Ziffer 18) Auch hier wird natürlich mit keinem Wort erwähnt, dass die USA ihr strategisches Nuklearwaffenarsenal derzeit mit denselben Zielen wie die taktischen in Europa lagernden Waffen „modernisieren“ – und zwar für eine Summe von über 630 Mrd. Dollar in den kommen Jahren. Es spricht einiges für die Annahme, dass der Ausbau des chinesischen Atomwaffenarsenals eine Reaktion auf diese US-Maßnahmen darstellt, da ansonsten Pekings Zweitschlagfähigkeit zunehmend in Frage stehen würde (siehe IMI-Standpunkt 2022/002).

Weiter werde die NATO dafür Sorge tragen, den von China ausgehenden „systemischen Herausforderungen“ zu begegnen. Was darunter genau zu verstehen ist, bleibt allerdings reichlich vage. Lediglich an einer Stelle wird das Konzept etwas konkreter: „Wir werden für unsere gemeinsamen Werte und die regelbasierte internationale Ordnung einschließlich der Freiheit der Schifffahrt eintreten.“ (Ziffer 14) Hier geht es um überaus brisante Gebietsstreitigkeiten insbesondere im Südchinesischen Meer, wo China auf eine Reihe von Inseln und damit faktisch auch auf die Durchfahrtsrechte in der Region Anspruch erhebt. Der Westen lehnt diese Ansprüche unter Verweis auf das Seerechtsübereinkommen ab und verleiht seiner Rechtsauffassung durch immer häufigere Manöver zur Freiheit der Schifffahrt (Freedom of Navigation Operations, FONOPs) Nachdruck.

Diese FONOPS sind hochriskant, die Gefahr von Zusammenstößen und daraus resultierenden Eskalationsspiralen ist erheblich. Schon vor einiger Zeit warnte die Stiftung Wissenschaft und Politik: „Solche Fahrten bergen allerdings immer die Gefahr einer Gegenreaktion und können Anlass für Zwischenfälle auf See und in der Luft sein. […] Die durch amerikanische Schiffe seit Jahrzehnten regelmäßig durchgeführten ‚Freedom of Navigation‘-Einsätze haben vor allem in den letzten Jahren im Zeichen sich anbahnender Großmachtrivalitäten im Indo-Pazifik den Beigeschmack amerikanischer Machtprojektion gegenüber China bekommen.“

Aus chinesischer Sicht überdehnen die westlichen Staaten das, was unter der Freiheit der Schiffahrt verstanden werden kann, mit ihren Militärmanövern erheblich. Deshalb handelt es sich bei derlei Übungen um ein Spiel mit dem Feuer, da China mit Maßnahmen reagiert, die das Risiko weiter erhöhen, warnt etwa der US-Politikprofessor Michael Klare: „Auf derart provozierende Manöver der US-Marine antwortet das chinesische Militär, die Volksbefreiungsarmee (PLA), in der Regel herausfordernd mit eigenen Schiffen und Flugzeugen. […] Häufig entsendet die chinesische Seite ein oder mehrere eigene Schiffe, die das amerikanische Schiff – um die Sache so höflich wie möglich zu gestalten – aus dem Gebiet herauseskortieren. Diese Begegnungen haben sich manchmal als äußerst gefährlich erwiesen, insbesondere wenn die Schiffe nahe genug aneinander gerieten, als dass es zu einem Kollisionsrisiko kam.“

Es ist unklar, ob FONOPs künftig nicht nur von diversen Einzelstaaten, sondern auch unter dem offiziellen Dach der NATO durchgeführt werden sollen – beunruhigend ist jedenfalls, dass etwa die folgende Passage im Strategischen Konzept dies durchaus nahelegen könnte: „Die maritime Sicherheit ist für unseren Frieden und unseren Wohlstand von
entscheidender Bedeutung. Wir werden unser Dispositiv und unser Lagebild ausbauen, um gegen alle Bedrohungen in der Dimension See Abschreckungs- und Verteidigungsmaßnahmen zu ergreifen, die Freiheit der Schifffahrt zu wahren, Seehandelswege zu sichern und unsere Hauptverbindungsrouten zu schützen.“ (Ziffer 23)

Schon im Vorwort des Strategischen Konzeptes verdeutlicht die NATO, sie verstehe sich als „Bollwerk der regelbasierten internationalen Ordnung“, die sie mit Klauen und Zähnen zu verteidigen gedenke. Es hat aber einen überaus faden Beigeschmack, wenn sich westliche Staaten – und nun womöglich auch die NATO als Ganzes – auf die Fahnen schreiben, mit ihren Manövern dem Seerechtsübereinkommen und damit der regelbasierten Ordnung Geltung zu verschaffen. Schließlich hat der Hauptakteur USA besagtes Abkommen bis heute nicht einmal ratifiziert, weil es der Durchsetzung von US-Interessen in anderen Weltgegenden im Wege steht. Und der diesbezüglich zweitumtriebigste westliche Staat, Großbritannien, verletzt – u.a. mit Unterstützung der USA und Deutschlands – zum Beispiel auf eklatante Weise die viel beschworene regelbasierte Ordnung, indem er sich weigert einen Schiedsspruch des Internationalen Gerichtshofs (IGH) umzusetzen, der das Land auffordert, die Chagos-Inseln, wo sich auch die für die Machtprojektion in den indo-Pazifik zentrale Militärbasis Diego Garcia befindet, an Mauritius zurückzugeben.

…. als Bollwerk gegen Machtverschiebungen!

Bereits unter US-Präsident Barack Obama gab es Überlegungen, die NATO zu einer Art „Allianz der Demokratien“ auszubauen. Auch im aktuellen Konzept finden sich Sätze, die in eine solche Richtung deuten: „Wir werden unsere Beziehungen zu Partnern intensivieren, die die Werte des Bündnisses teilen und wie das Bündnis ein Interesse daran haben, die regelbasierte internationale Ordnung zu wahren.“ (Ziffer 44) Als mögliche Kandidaten werden hier immer wieder Länder wie Japan, Australien oder auch Süd-Korea gehandelt. Doch es zeigt sich immer deutlicher, dass sich mehr und mehr Länder dem „Bollwerk der regelbasierten internationalen Ordnung“ nicht anschließen möchten. Zuletzt wurde dies beim kurz vor dem NATO-Gipfel erfolgten G7-Treffen in Elmau offensichtlich, als Argentinien, Indien, Indonesien, Senegal und Südafrika dem Westen mehr oder minder offen die Gefolgschaft verweigerten.

Triebfeder der neuen Großmachtkonkurrenz sind die dramatischen Machtverschiebungen im internationalen System: Während der kaufkraftbereinigte Anteil Chinas
am globalen Bruttoinlandsprodukt (BIP) laut Statista von 2,27% (1980) auf 18,56% (2020) in die Höhe schnellte, schrumpfte der US-Anteil am BIP-Kuchen von 21,41% (1980) auf 15,98%
(2020). Noch ausgeprägter fiel der Rückgang bei der Europäischen Union aus, die von 26,02% (1980) auf 14,90% (2020) abstürzte.

Vor diesem Hintergrund fordern die Aufsteiger – und hier eben mit am lautesten China – mehr Mitspracherechte, die ihnen aber vom Westen versagt bleiben. Er pocht weiterhin auf eine „regelbasierte Ordnung“, in der der Westen bestimmt, wie diese Regeln auszusehen haben und vor allem, wer sie ungestraft brechen darf und wer eben nicht. Dies entspricht aber schlicht nicht mehr den machtpolitischen Realitäten – und wenn die NATO nun in ihrem Strategischen Konzept die „immer enger werdende strategische Partnerschaft zwischen der Volksrepublik China und der Russischen Föderation“ beklagt und deren sich „gegenseitig verstärkende[n] Versuche, die regelbasierte internationale Ordnung zu unterhöhlen“, so hat sie sich diese Entwicklung zu einem guten Stück auch selbst zuzuschreiben. (Ziffer 13)

Es gibt in diesem Ringen um Macht und Einfluss keine guten Akteure, nicht der Westen, nicht die NATO und auch nicht Deutschland – aber sicher auch nicht Russland und China. Es gibt aber völlig berechtigte Forderungen an die Bundesregierung, dass alles dafür getan wird, dass die Großmachtkonflikte nicht immer weiter außer Kontrolle geraten. Bisher hat sie dabei wie auch die NATO als Ganzes vollständig versagt und das neue Strategische Konzept gibt wenig Anlass zur Hoffnung, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern wird. So ist im Strategischen Konzept viel darüber zu lesen, wie sich die NATO für die globale Großmachtkonkurrenz zu rüsten gedenkt – wie sie aus ihr herauskommen möchte, bleibt aber leider völlig im Dunkeln.

Erschienen als „IMI-Analyse 2022/34“
Wir danken Jürgen Wagner und der IMI für die Zustimmung zur Veröffentlichung.

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