Russischer Kriegsdienstverweigerer: “Ich habe niemals gedacht, Russland verlassen zu müssen”

Von Thomas Moser

Bild: Nikolai Goriachev. Bild: Connection e.V., www.connection-ev.org, Rudi Friedrich

Nikolai Goriachev verließ seine Heimat und ging nach Berlin, um nicht Ukrainer töten zu müssen. Doch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge will ihn zurückschicken, Kanonenfutter aus Deutschland für die russische Armee.

Als der Deutsche Bundestag im April 2022 nach Kriegsbeginn erstmals die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine beschloss, erging von ihm zugleich ein Appell an russische Soldaten, die Waffen niederzulegen und in Europa Asyl zu beantragen.

Mehrere Hunderttausend haben das inzwischen getan. Das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) jedoch verweigert in der Mehrzahl die Anerkennung und schickt die geflohenen russischen Kriegsdienstverweigerer wieder zurück. Dort warten entweder russische Gefängnisse auf sie oder die Front in der Ukraine.

Waffen für die Ukraine und Soldaten für Russland, so sieht das neue Made in Germany aus. Und so bleibt uns dieser Krieg noch weiter erhalten.

Damit sind wir direkt bei Nikolai Goriachev, ein junger Mann im Alter von 37 Jahren, der seit knapp zwei Jahren in Berlin lebt, gekommen ist er aus Moskau. Er erzählt seine Geschichte.

Nikolai G. lebte mit seinen Eltern und zwei Brüdern in einer kleinen Stadt am Rand von Moskau. Er betrieb ein Fitness-Studio und beschäftigte mehrere Mitarbeiter. Ihm ging es gut, er verdiente gut und hatte eine eigene Wohnung, kein Grund, das Land zu verlassen. Seine Eltern haben die Kinder weltoffen und liberal erzogen, sie sollten reisen und fremde Länder kennenlernen. Nikolai war in jungen Jahren mehrmals auch in Deutschland.

Er war aber auch politisch aktiv, setzte sich für eine Demokratisierung der Verhältnisse in der russischen Föderation ein, unterstützte Alexei Nawalny zum Beispiel bei dessen Kandidatur zum Bürgermeister von Moskau. Am Militärdienst kam Nikolai vorbei, weil er untauglich geschrieben wurde. Als im Februar 2022 russische Truppen im Nachbarland Ukraine einmarschierten, beteiligte er sich an Protesten dagegen. Die Gefahr, eingezogen zu werden, bestand damals noch nicht. Das änderte sich mit der allgemeinen Mobilisierung. Nun drohte jedem männlichen Bürger im Alter zwischen 18 und 45 die Einberufung. Nikolai nahm zunächst noch an der Kampagne gegen die Mobilisierung teil. Heute sind solche Demonstrationen nicht mehr möglich, sie würden sofort zu Festnahmen führen.

Was kaum bekannt ist: Bei der Unterdrückung von öffentlichen Aktionen helfen der Polizei auch die sogenannten Corona-Gesetze. Obwohl Covid in Russland nicht grassiert, sind die Covid-Einschränkungen auch im Jahr 2024 noch in Kraft und werden angewandt. Man darf nicht als Gruppe zusammenstehen, und Umzüge gegen den Krieg können damit untersagt werden.

Zu Nikolais Problemen mit den Behörden wegen seines politischen Engagements kamen nun noch die wegen seiner Anti-Haltung zum Krieg dazu. Man wirft ihm und den anderen Aktivisten vor, zu einer extremistischen Gruppierung zu gehören, die über den Krieg und die russische Armee Falschinformationen verbreite. Das führte zu seiner strafrechtlichen Verfolgung.

Die Organisation “Bewegung für Kriegsdienstverweigerung” wird in Russland offiziell als “ausländischer Agent” eingestuft. Nebenbei: Fast die gleichen Vorwürfe treffen Kriegsdienstverweigerer in der Ukraine. Kriegsparteien sind sich auf ihre Weise in vielen Punkten einig.

Regelmäßig gibt es Razzien und Inhaftierungen von Militärdienstpflichtigen. Als der Krieg begann, bekamen Aktivisten ein oder zwei Jahre Haft, im zweiten Kriegsjahr wurden die Strafen deutlich länger: Nun wird man zu sieben bis acht Jahren Gefängnis verurteilt.

Nikolai G. tauchte unter, verließ seine Wohnung und versteckte sich bei seinen Eltern sowie in der Wohnung seiner Freundin. Die Kette um ihn zog sich immer weiter zu.

Schließlich verließ er Russland und seine Angehörigen. Das war im September 2022. Auch seine zwei Brüder gingen weg. Der eine nach Lettland, der andere nach Thailand.

Zunächst ging Nikolai ins benachbarte Georgien, wo er den Krieg abwarten wollte. Er dachte, das würde nicht so lange dauern, die Ukraine werde die russischen Truppen zurückdrängen. In Georgien halten sich viele Russen auf. Es ist für sie aber seit dem georgisch-russischen Krieg kein sicheres Land mehr, Russen sind nicht sehr willkommen. Deshalb verließ er im Januar 2023 Georgien wieder zunächst Richtung Türkei, zog von dort weiter nach Spanien und kam dann im selben Monat in Berlin an, wo er einen Antrag auf Asyl stellte.

Berlin ist für russische Emigranten ein beliebtes Ziel. Es existiert eine große Community von älteren Zugewanderten und neuen jüngeren, die mit Beginn des Krieges kamen. Sie gingen davon aus, willkommen zu sein, wenn die deutsche Regierung sie aufruft, die Waffen niederzulegen und zu türmen.

Kontakte zu Ukrainern gibt es nicht, was Nikolai sehr bedauert. Es ist für ihn zwar verständlich, schließlich stehe für Ukrainer ein Russe eben immer noch auf der Seite des Aggressors. Es ist aber vor allem eine Folge des teuflischen Nationalismus, den Krieg hervorbringt, indem er jeden Einzelnen seiner Logik unterwirft. Als Angreifer wie als Angegriffener. Diese Fessel gibt umgekehrt betrachtet aber auch eine Ahnung davon, welche politische Kraft sich entwickeln könnte, wenn die Kriegsdienstverweigerer auf beiden Seiten zusammenstehen würden. Der Vorwurf, Agent der anderen Seite zu sein, liefe dann schon mal ins Leere.

Das BAMF verwirft Kriegsdienstverweigerung als Asylgrund

Es dauerte ein geschlagenes Jahr, bis das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sich mit Nikolai Goriachev befasste. Seine Anhörung im Februar 2024 nahm zwei Tage in Anspruch. Normalerweise geht ein solches Interview in ein bis zwei Stunden über die Bühne. Bereits vier Tage später teilte das Bundesamt seine Entscheidung mit: Der Asylantrag wird abgelehnt, Nikolai G. solle ausreisen. Begründung: Aktuell gebe es für ihn in Russland keine Verfolgungsgefahr, mit 37 sei er gar nicht im wehrfähigen Alter. Im Ablehnungsbescheid des BAMF gibt es noch eine besonders bemerkenswerte Stelle: Auch totalitäre Staaten hätten das Recht, Bürger zur Armee und zum Krieg einzuziehen, heißt es. Die deutsche Behörde verwirft also Kriegsdienstverweigerung als Asylgrund.

Dahinter kann man ein staatspolitisches bzw. regierungspolitisches Interesse erkennen: Denn, wenn russischen Bürgern grundsätzlich ein Recht auf Kriegsverweigerung zuerkannt würde, dann müsste das auch für ukrainische Bürger  oder für israelische Bürger und natürlich auch für Deutsche gelten. Doch ohne Kriegspflicht lässt sich im Zweifel dann kein Krieg mehr führen. Deutschlands “Kriegstüchtigkeit” hinge davon ab, ob genug junge Leute freiwillig zur Waffe griffen. Das muss unterbunden werden. Und so zahlen also die russischen Kriegsgegner mit den Preis dafür, dass Deutschland “kriegstüchtig” werden kann.

Für Nikolai war die Ablehnung ein schwerer Schlag. Dass ihm in einem Land wie Deutschland entgegen gehalten werde, es gebe keine Repression in Russland, “geh nach Hause!”, damit hatte er nicht gerechnet. “Sogar totalitäre Länder können dich rauben und in einem Okkupationskrieg auf den Feldern der Ukraine sterben lassen”, sagt er. Und: “Ich bin halt kein Hauptoppositioneller, sondern nur ein unbekannter Aktivist.”

Nikolais deutsche Anwältin nennt die Entscheidung des BAMF “rechtswidrig”. Es habe dessen politische Aktivitäten in Russland nicht gewürdigt, ja, nicht einmal verstanden, was er in Russland politisch getan habe. Sie hat für ihren Mandanten beim Verwaltungsgericht Berlin Klage dagegen eingereicht. Es kann Jahre dauern, bis darüber mündlich verhandelt wird. Bis dahin hat der Ablehnungsbescheid  aufschiebende Wirkung, Nikolai ist der Aufenthalt in Deutschland, bis es soweit ist, “gestattet”.

Was wäre, wenn ihn Deutschland zurückschickte? – Er ist sich sicher, er käme zunächst wahrscheinlich ins Gefängnis und dann möglicherweise sogar noch an die Front. Ein anderer russischer Kriegsdienstverweigerer in Berlin, Nikita R., dem das drohte, hatte sich deshalb ins Kirchenasyl geflüchtet. Das BAMF gab nach, auch sein Verfahren ist nun beim Verwaltungsgericht anhängig.

“Das Land muss aufwachen”

Und was meint Nikolai G., wie dieser Krieg beendet werden kann? – Er denkt lange nach und sagt dann, das sei eine harte Frage für ihn. “Ich habe niemals gedacht, Russland verlassen zu müssen.” Er hofft, dass es eines Tages möglich ist, zurückzukehren, er liebe sein Land immer noch. Aber er habe so viele Fragen an seine Leute in Russland, weil so viele den Krieg unterstützten, auch gute und intelligente Leute. Vor allem auch seine Eltern. In Sowjetzeiten waren sie in der Opposition und beteiligten sich an der Verbreitung von Samisdat-Literatur, heute unterstützen sie Putin und den Krieg. Sie glauben die staatliche Propaganda, obwohl sie doch zur Intelligenzija gehören. Sein Vater ist ein ziemlich berühmter Doktor und Mediziner, sogar in der Ukraine ist er sehr bekannt.

Nikolai versteht nicht so richtig, was mit seinen Eltern passiert ist. Zumal doch alle ihre drei Söhne das Land wegen dieses Krieges verlassen haben. Mit seinen Brüdern hat er regelmäßig Kontakt, mit seiner Mutter manchmal, aber mit dem Vater gar nicht mehr.

“Das Land muss aufwachen.” Er weiß aber, dass Krieg seine eigenen Zwänge und Folgen hervorbringt. Die Sanktionen des Westens helfen dabei nicht. Im Gegenteil: Sie treffen nur die Bevölkerung und verstärken deren Vorbehalte gegen den Westen. So generiert sich dieser besondere Kriegs-Nationalismus. Nikolai sagt: “Vor dem Krieg war Russland ein autoritäres Land. Seit dem Krieg wird es mehr und mehr zu einem totalitären Land.”

Immerhin: Die Zahl von Kriegsdienstverweigerern im “Aggressorland” Russland ist sechsstellig. Und daneben gibt es noch mehr Daten, die an der allgemeinen Kriegswilligkeit zweifeln lassen: So erhalten Personen, die mit der Armee einen Vertrag zur Teilnahme am Krieg in der Ukraine abschließen, dafür – umgerechnet – eine fünfstellige Euro-Summe, etwa 20.000 Euro, sowie zusätzlich ein monatliches Gehalt von 2000 Euro. Offensichtlich müssen sich Putin und der Kreml Kriegsbereitschaft regelrecht erkaufen.

Und dann gibt es auch in Russland, wie in der Ukraine, die Möglichkeit, sich vom Kriegsdienst freizukaufen, Kosten ebenfalls etwa 5000 Euro. Reiche Russen, Söhne von Oligarchen etwa, können so der Front entgehen. Auch im Krieg sind eben nicht alle gleich.

Erstveröffentlicht im Overton Magazin
https://overton-magazin.de/top-story/russischer-kriegsdienstverweigerer-ich-habe-niemals-gedacht-russland-verlassen-zu-muessen/

Wir danken dem Autot für das Publikationsrecht.

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