„Was ist, wenn Russland gewinnt?“

“Die Ukraine wird gewinnen”, propagiert Biden. Auf dem Nato-Gipfel herrscht weiter die militärische Alternativlosigkeit vor. Der schwedische Ex-Regierungschef Bildt über die Folgen eines russischen Siegs.

Von Florian Rötzer

Was auffällt bei der Nato ist, dass sie ebenso wie die ukrainische Regierung nur das eine Szenario zu kennen scheint: Die Ukraine muss den Krieg gewinnen, die Ukraine darf nicht verlieren. Auf dem Nato-Gipfel machte der angeschlagene US-Präsident Biden diese ausschließlich auf Konfrontation setzende Haltung deutlich: “Der Krieg wird damit enden, dass die Ukraine ein freies und unabhängiges Land bleibt. Russland wird nicht gewinnen, die Ukraine wird gewinnen”, verkündete  er. Die Nato – ein „Bollwerk der globalen Sicherheit“ – sei stärker als je zuvor. Russland wolle die Ukraine von der Landkarte auslöschen: „Und wir wissen, dass Putin auch in der Ukraine nicht Halt machen wird. Aber täuschen Sie sich nicht, die Ukraine kann und wird Putin stoppen – vor allem mit unserer vollen, kollektiven Unterstützung. Und sie haben unsere volle Unterstützung.“ Dabei machte er klar, dass die Nato schon vor dem Krieg die „Ostflanke“ der Nato mit „mehr Truppen, mehr Flugzeugen, mehr Kapazitäten“ aufgerüstet und die USA mittlerweile 100.000 Soldaten in Europa stationiert habe.

Natürlich wird im Hintergrund überlegt, was man machen soll, wenn Russland nicht einknickt, sondern in einem eingefrorenen Krieg mindestens die Teile der Ukraine behält, die es jetzt besetzt, oder weitere Teile des Landes unter seine Kontrolle bekommt. Nach außen hin werden jedoch nur Alternativlosigkeit zum Krieg und die Schrecken eines imperialistischen Russlands beschworen, dessen Kriegshorden nach dem Fall von Kiew in europäische Länder einfallen, weswegen nicht nur die Ukraine weiter massiv militärisch unterstützt werden muss, sondern die europäischen Nato-Länder ebenso massiv aufgerüstet und kriegstüchtig gemacht werden müssen, um im erwarteten Russland-Nato-Countdown bestehen zu können.

Die Situation ist allerdings die, dass die Sanktionen Russland nicht klein gekriegt haben, sondern die Wirtschaft stärker wächst als die europäische. Daher werden immer weitere Sanktionen beschlossen, anstatt einmal zu erwägen, Russland mit dem Angebot, Sanktionen nach und nach zu beenden, an den Verhandlungstisch und zu Kompromissen zu bringen. Das wäre auch Voraussetzung für ein neues gemeinsames europäisch-russisches Sicherheitskonzept, was aber vermutlich voraussetzen würde, sich von den USA zu lösen, die daran geopolitisch, militärisch und wirtschaftlich kein Interesse haben.

Militärisch ist der Krieg inzwischen schon eingefroren, aber weiterhin blutig und ein Übungsfeld für neue Taktiken und Waffen. Beide Seiten haben sich eingegraben, vermutlich wird Russland in nächster Zeit höchstens kleine Geländegewinne machen können, während derzeit Selenskijs „Friedensformel“ oder Kriegsziel der Rückeroberung der ganzen Ukraine in den Grenzen von 1991völlig unmöglich scheint und im besten Fall die bestehende Frontlinie in etwa verteidigt werden kann. Was jedoch zunehmend geschehen wird, sind Angriffe beider Seiten auf jeweils andere Hinterland mit weit reichenden Waffen, die immer zivile Opfer fordern und Zerstörungen anrichten werden. Im Zuge dessen wird die vom Westen noch hoch gehaltene moralische Überlegenheit der Ukraine als das angegriffene Land schwinden. Das wird den Westen weiter isolieren.

Immerhin hat sich Carl Bildt, schwedischer Ex-Regierungschef und Co-Vorsitzender des militaristischen European Council on Foreign Relations, in der Ausgabe zum Nato-Gipfel der Zeitschrift Foreign Policy in einem Beitrag einmal die Frage gestellt: „Was ist, wenn Russland gewinnt?“

Auch die amerikanische KI gibt sich Nato-konform

Interessehalber habe ich diese Frage auch dem Copiloten, also der ChatGPT-Version von Bing, gestellt und ein aus Nato-Sicht politisch korrekte Antwort mit vielen negativen Folgen erhalten, was auch kein Wunder ist, wenn man die ziemlich wahllos herangezogenen sechs Internet-Quellen betrachtet: merkur.de, msn.com, br.de, heidelberg24.de, swp-berlin.org, bpb.de. Angeführt wird, dass Russland die Kontrolle über die Ukraine übernehmen, Menschenrechte einschränken („Umerziehungsmaßnahmen“ und eine Flüchtlingskrise auslösen würde, die Sicherheitslage in Europa würde beeinträchtigt, die internationale Ordnung destabilisiert und ähnliche Kriege (China gegen Taiwan) begonnen werden. Immerhin wird nicht beschworen, dass Russland in andere Länder einmarschieren könnte: „Diese Szenarien zeigen, dass die Auswirkungen eines russischen Sieges im Ukraine-Krieg weit über die Grenzen der Ukraine hinausreichen würden. Es ist wichtig, diese möglichen Konsequenzen zu verstehen, um die Bedeutung der internationalen Unterstützung für die Ukraine zu erkennen.“

Unparteiisch kann man also ChatGPT in der Microsoft-Version nicht nennen. Gleichwohl mixen die von FP befragten Experten wie Constanze Lerchenmüller ein beängstigendes Szenario zusammen, dem sich das noch nicht kriegstüchtige Europa gegenübersehen soll: „Was Europa heute erlebt, ist nichts weniger als ein geostrategischer Feuersturm. Russland ist nicht nur in der Ukraine in der Offensive, sondern führt auch einen hybriden Krieg gegen Europa durch Korruption mit Waffengewalt, Attentate, Cyberangriffe, Spionage, Desinformation, Wahlbeeinflussung, Störung der Kommunikation und Sabotage kritischer Infrastrukturen.“ Was da so wollüstig als Gefahren propagiert wird, hat alle Eigenschaften von Nato-Verschwörungstheorien, die ja auch auf Fakten aufbauen können.

Ein Sieg Russlands würde zu seinem Zusammenbruch führen, sagt Bildt

Aber zurück zu Carl Bildt, bei dem und bei FP man schon erwarten kann, dass die Frage im Sinne der Bedrohung und daher der Aufrüstung beantwortet wird, während es keine Überlegungen zu Verhandlungen oder zu einem nicht kriegerisch orientierten Sicherheitskonzept gibt. Russland würde die Ukraine einnehmen, eine Marionettenregierung installieren und das Land allmählich schlucken. Das würde Russland aber nicht gut bekommen, es wäre für Bildt ein Pyrrhussieg: „Das repressive Imperium hätte damit zu kämpfen, seine besetzten Gebiete zu verdauen, eine widerspenstige Bevölkerung zu unterwerfen und die Last der sehr hohen Militärausgaben in einer neuen Ära der Konfrontation zu tragen. Moskau würde sein mittelalterliches mongolisches Joch gegen ein chinesisches Joch des 21. Jahrhunderts eintauschen – und ernsthaft ins Hintertreffen geraten, während der Rest der Welt in ein neues grünes und digitales Zeitalter eintritt. Früher oder später stünde Russland vor seinem dritten Staatszerfall in etwas mehr als einem Jahrhundert.“

Aber dann wäre doch Russland, beschäftigt mit sich und der Ukraine, nicht mehr sonderlich gefährlich für den Westen, der andererseits nach Afghanistan eine weitere Schlappe erlitten hätte. Der müsste dann mit einer Erhöhung der Militärausgaben und weiteren 10-15 Millionen ukrainischen Flüchtlingen rechnen. Ein Verhältnis mit Russland einzugehen, geht natürlich nicht, es sei „völlig unrealistisch“. Putin will ja, so Bildt, trotz der zuvor beschriebenen Probleme bei der Einverleibung der Ukraine das „Reich des Kreml wiederherstellen“. Finnland, Polen und die baltischen Staaten seien bedroht. Hauptargument Bildts ist, dass ein Regime, dass ums Überleben kämpfe, unberechenbar sei: „Die Wiederherstellung des Imperiums jenseits der Ukraine mag eine unrealistische Aussicht für ein überlastetes, sich abmühendes Regime sein, aber wer wagt es, dies in Helsinki, Riga oder Warschau als selbstverständlich anzusehen? Ein neues Zeitalter der europäischen Konfrontation ist gewiss.“ Fragt sich nur, von wem die Konfrontation ausgeht.

Bildt schließt seinen Text damit, dass Russland mit einem Sieg untergehen wird: „Die Folgen eines Sieges Russlands in der Ukraine wären katastrophal für die Ukrainer, äußerst gravierend für die Sicherheit Europas und zutiefst destabilisierend für den Rest der Welt. Letzten Endes würde dies wahrscheinlich zu einem Zusammenbruch Russlands selbst führen, worauf sich Europa auf eine ganze Reihe weiterer Konsequenzen einstellen müsste.“ Das ist paradox und würde geradezu bedeuten, Russland durch eine Niederlage dabei zu helfen, nicht zu implodieren, um Europa und die USA zu schützen.

Das ist alles ein wenig wirr und demonstriert die Unfähigkeit vieler Transatlantiker, während die Nato in den Indopazifik gegen China ausgedehnt wird, was gerade die Übung Pacific Skies 24 unter der Leitung der Bundeswehr demonstriert, Konzepte für friedliche Lösungen ohne Drohungen zu forcieren, was einmal in den 1990er Jahren geschehen ist, aber den USA unter George W. Bush und den Neocons nicht gefallen hat. „Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen“, soll die Devise der Nato sein, die im Grunde nur die „regelbasierte Ordnung“, also die geopolitische, wirtschaftliche und militärische Macht der USA und der Alliierten auf dem Globus erhalten und Konkurrenten klein halten will.

Erstveröffentlicht im Overton Magazin v. 10.7.2024
https://overton-magazin.de/top-story/was-ist-wenn-russland-gewinnt/

Wir danken für das Publikationsrecht.

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