Bild: Von Avi Ohayon / Government Press Office, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=109317713
Die Frage, wie es zur Entfesselung des Krieges Russlands gegen die Ukraine kam, hat ein großes politisches Gewicht. Schließlich geht es um die Veranwortung der beteiligten Mächte für den bisher größten Krieg der europäischen Nachkriegsgeschichte. Lange bekam die Öffentlichkeit durch die Medien den Eindruck, hier sei es wie bei Rotkäppchen und dem bösen Wolf zugegangen. Russland habe heimtückisch die nichtsahnende Ukraine überfallen, um sich Bissen für Bissen sein untergegangenes Reich wieder einzuverleiben. Der Westen habe dabei eine rein passive und friedensfördernde Rolle gespielt. Doch nach einem Jahr Krieg wachsen die Zweifel an der Realitätstüchtigkeit solcher Bilder aus der kindlichen Märchenwelt. Auslöser für die letzte Verstörung der hiesigen Medien, die bis auf wenige Ausnahmen der Kriegslogik des transatlantischen Militärpakts folgen, war ein Interview mit dem ehemaligen Generalinspekteur der Bundeswehr Harald Kujat, der selbst jahrelang Verhandlungen mit Russland geführt hatte und seine Verhandlungspartner gut einzuschätzen weiß. Kujat berichtete von verlässlichen Quellen, die besagen, dass der damalige britische Premier Johnson eine bereits weitgehend ausgehandelte Verhandlungslösung zur friedlichen Beilegung des Konflikts zwischen Unterhändlern Russlands und der Ukraine zum Scheitern gebracht habe. Kujat gab dem schweizerischen Webportal „Zeitgeschehen im Fokus“ ein Interview, da seine Versuche in Deutschland dafür ein Medium zu finden, keinen Erfolg hatte. Obwohl die Sache im höchsten Maße brisant ist, machten die meisten Medien um dieses Thema lieber einen Bogen. Aber die Sache war in der politischen Welt und zumindest in den Redaktionen der Blätter, die über die redaktionellen Ressourcen verfügen, sich damit anders auseinanderzusetzen als durch Ignorieren widmeten sich einzene Artikel gründlicher diesem Geschehen.
Dies geschah im Berliner Tagesspiegel unter der Überschrift „Die Geschichte hinter der kruden Johnson-Theorie“. Das Blatt konzedierte, dass es durchaus denkbar sei, dass Johnson ein politisches Schwergewicht war, das über den Ausgang der Kriegshandlungen mitentscheiden konnte. Auch habe die „Ukrajinska Prawda“ damals berichtet, dass Johnson am 9. April zwei Nachrichten überbracht habe: „Die Erste: Putin sei ein Kriegsverbrecher, mit dem man nicht verhandeln dürfe. Die Zweite: Selbst wenn die Ukraine bereit wäre, Frieden mit Russland zu schließen – der Westen sei es nicht. Eine Quelle nannte die Zeitung nicht. Wenige Tage nach dem Besuch Johnsons in Kiew sagte dann auch Putin öffentlich, dass die Gespräche mit der Ukraine aus seiner Sicht beendet seien. Russlands Außenminister Sergej Lawrow stellte in einem Interview im Juli 2022 nochmals klar, dass Kompromisse nicht länger eine Option darstellten“. (TS, 27.1.23) Gerade die Aussage Putins legt nahe, dass Johnsons Intervention Erfolg hatte. Denn sie hatte zur praktischen Konsequenz, dass die Ergebnisse der Verhandlungen Makulatur waren, da nun vom Westen eine militärische Lösung des Konflikts gesucht wurde, was auch auf russischer Seite zu einer Neubestimmung der Kriegsziele führte. Da die beiden Autor:innen des Tagesspiegel diese Meldungen aus dem eigenen politischen Lager nicht so einfach als frei erfunden taxieren konnten, äußerten sie nun unter Berufung auf eine ehemalige hochrangige Mitarbeitern des nationalen Sicherheitsrates der USA Zweifel an der politischen Plausibilität des Verhandlungsergebnisses. Putin habe doch kein Interesse die Ukraine als souveränen und eigenständigen Staat zu akzeptieren. Er wolle die Regierung in Kiew ersetzen und die Ukraine zurück in den russischen Einflussbereich zwingen. „Warum sollten sie sich mit viel weniger zufriedengeben?“ So sehr dies den Vorstellungen Moskaus gefallen würde – so wenig gibt es meines Wissens belegbare Beweise in den offiziellen Dokumenten dafür, dass die russische Regierung das für realistisch gehalten hätte. Schon gar nicht für die hier zitierte Position des Selensky-Beraters Podoljak, es sei Putins Wunsch die Ukraine als solche zu vernichten, obwohl solche Projektionen in der rechten Szene Russlands durchaus verbreitet sind.
Und dann wird noch argumentiert, das Zugeständnis der Ukraine, nicht der NATO beizutreten, habe für Moskau gar keinen politischen Wert gehabt, weil die NATO aufgrund ihrer Statuten die Ukraine während des Kriegs gar nicht habe aufnehmen können. Dies sei nur unter der Bedingung möglich ist, dass das um Aufnahme bittende Land sich nicht im Kriegszustand befindet. Doch in dem Augenblick, in dem der Konflikt mit Russland ein militärisches Ende gefunden hätte, wäre dies möglich gewesen und genau das wollte Russland ja unbedingt verhindern, da die NATO so die Möglichkeit erhielte, Moskau in nur wenigen Minuten mit Massenvernichtungswaffen zu erreichen.
Erneut Auftrieb bekam das Thema jetzt durch einen Artikel in der Berliner Zeitung. Fabian Scheidler berichtet hier darüber, dass der ehemalige israelische Ministerpräsident Naftali Bennett, der damals von Selensky mit der Leitung der Verhandlungen betraut wurde, „die Geschichte mit der kruden Johnson-Theorie“ im Kern bestätigt hat. Es gibt dazu ein Interview mit Bennett. Doch die hochexplosive Fundsache wurde in den meisten Medien schlicht entkernt. Ob das zdf, die Funke Mediengruppe, der Merkur oder das Redaktionsnetzwerk Deutschland. Berichtet wird aus Bennetts Interview nur, dass Putin bei den Verhandlungen angeblich versprochen habe Selensky nicht zu ermorden. Das wars.
Wir danken der Berliner Zeitung für den Mut zur Veröffentlichung der ganzen Geschichte.
Hier ist der Artikel von Fabian Scheidler in ganzer Länge. Der Autor hat ihn zur unkommerziellen journalistischen Verwendung freigegeben.
Naftali Bennett wollte den Frieden zwischen Ukraine und Russland: Wer hat blockiert?
Israelischer Ex-Premier sprach erstmals über seine Verhandlungen mit Putin und Selenskyj. Der Waffenstillstand war angeblich zum Greifen nahe.
Fabian Scheidler
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj habe ihn, Bennett, nach Ausbruch des Krieges gebeten, Wladimir Putin zu kontaktieren. So stehe es auch in den Protokollen. In der damaligen Phase des Krieges, als die russische Armee vor Kiew stand, habe Selenskyj um sein Überleben gefürchtet. Bennett habe anschließend mit US-Präsident Joe Biden gesprochen und gesagt, er könne eine „Pipeline“ für den Kontakt zum Kreml sein. Es folgte eine Reihe von Telefongesprächen sowohl mit dem russischen Präsidenten als auch mit Selenskyj. Bennett sei Vertrauen von beiden Seiten entgegengebracht worden. Entwürfe für zentrale Punkte eines Waffenstillstands wurden ausgetauscht. Zugleich verhandelten im belarussischen Gomel ukrainische und russische Delegationen.
Am 5. März 2022 flog Bennett dann auf Einladung Putins in einem privaten, vom israelischen Geheimdienst bereitgestellten Jet nach Moskau. In dem Gespräch im Kreml habe Putin, so Bennett, einige substanzielle Zugeständnisse gemacht, insbesondere habe er auf sein ursprüngliches Kriegsziel einer Demilitarisierung der Ukraine verzichtet.
Bennett fragte Putin, ob er vorhabe, Selenskyj zu töten. Putin sicherte ihm ausdrücklich zu, das nicht zu tun. Auf seiner Rückreise rief Bennett Selenskyj an und teilte ihm das Ergebnis mit. Der ukrainische Präsident erklärte sich im Gegenzug bereit, auf einen Nato-Beitritt zu verzichten – eine Position, die er kurze Zeit später auch öffentlich wiederholte. Damit war eines der entscheidenden Hindernisse für einen Waffenstillstand aus dem Weg geräumt.
Scholz und Macron waren eher pragmatisch eingestellt
Auch andere Themen wie die Zukunft des Donbass und der Krim sowie Sicherheitsgarantien für die Ukraine seien in diesen Tagen Gegenstand von intensiven Gesprächen gewesen. Bennett wörtlich: „Ich hatte damals den Eindruck, dass beide Seiten großes Interesse an einem Waffenstillstand hatten.“
Bennett flog daraufhin zunächst nach Deutschland, um mit Bundeskanzler Scholz zu sprechen, anschließend unterrichtete er den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, den britischen Premier Boris Johnson sowie die amerikanische Regierung. Boris Johnson habe damals die „aggressive“ Position vertreten, dass „man Putin weiter bekämpfen müsse“, wogegen Scholz und Macron eher pragmatisch eingestellt waren. In der US-Regierung seien beide Positionen vertreten gewesen.
Welche Position hat die deutsche Regierung eingenommen?
In den folgenden Tagen habe es weitere intensive Diplomatie mit den Kriegsparteien gegeben. Bennett habe seine Bemühungen dabei „bis ins kleinste Detail mit den USA, Deutschland und Frankreich abgestimmt“. Auf die Frage, ob die westlichen Verbündeten die Initiative letztlich blockiert hätten, antwortete Bennett: „Im Grunde genommen, ja. Sie haben es blockiert, und ich dachte, sie hätten unrecht.“ Sein Fazit: „Ich behaupte, dass es eine gute Chance auf einen Waffenstillstand gab, wenn sie ihn nicht verhindert hätten.“ Ob die Entscheidung des Westens, den Verhandlungsprozess zu beenden, langfristig richtig sei, könne er nicht beurteilen.
Die Aussagen von Bennett werfen, sollten sie zutreffend sein, einige grundsätzliche Fragen auf. Warum haben die Nato-Staaten damals einen Waffenstillstand blockiert? Welche Position hat die deutsche Regierung eingenommen? Und kommt dem Westen womöglich eine Mitschuld an der folgenden Eskalation des Krieges zu? Damals, im März 2022, waren einige Tausend Menschen im Krieg gestorben. Seither sind mehr als 200.000 Tote zu beklagen. Vielleicht hätte das verhindert werden können.
Berliner Zeitung 6.2. 2023
Auch wenn viel dafür spricht, dass insbesondere die USA wenig Interese an einer politischen Kompromisslösung zwischen der Ukraine und Russland hatten und haben – warum kann man in den Publikationen amerikanischer Sicherheitsberater, insbesondere bei Zbigniew Brzeziński, nachlesen – bleiben doch Fragen offen: Wie erklärt sich die radiklale Wandlung Selenskys vom Propagandisten einer Friedenslösung mit Russland – dafür hatte er Wahlkampf gemacht und wurde wohl auch deshalb gewählt – zum Russenhasser und bedingungslosem Befürworter militärischer Eskalation? Waren die Versprechen des Wahlkampfes nur vorgetäuscht? Hatten die auf Selensky setzenden ukrainischen Oligarchen Angst von der russischen Konkurrenz verdrängt zu werden? Entwickelten sich gar aus Enttäschung und Wut darüber, von einem „Brudervolk“ angriffen zu werden, Hass- und Rachegefühle, die dann in einer entfesselnden und die Vernunft preisgebenden Weise Eigendynamik entwickeln? In welchem Umfang trifft das, was man über die Ukraine hört, eigentlich nur für die Westukriane zu? Wie sieht es in den Gebieten aus, die mit einem Anti-Maidan und mit Sezessionsbestrebungen gegen den Maidan-Putsch in Kiew reagiert haben? Haben sie überhaupt Einfluss auf die Regierung in Kiew und welchen auf die in Moskau? Stehen sie noch zum Konzept der politischen und kulturellen Autonomie ihrer Region?