Arbeitskreis der Senioren der IG Metall Berlin: Vortrag zum politischen Streikrecht

Auf Einladung des Arbeitskreises der Senioren der IG Metall Berlin beantwortete Benedikt Hopmann am 23. Februar 2022 neun Fragen, die der Arbeitskreis zum politischen Streikrecht gestellt hatte. Auf den Vortrag folgte eine lebendige Diskussion. Der Referent bedankte sich für die Einladung und die Möglichkeit zu einem so wichtigen Thema vor 38 Metallerinnen und Metallern sprechen zu können.  

Hier der Vortrag:

Inhaltsverzeichnis:

  1. Frage: Was heißt politischer Streik überhaupt?
  2. Frage: Ist der politischer Streik erlaubt – ja/nein? Unter welchen Bedingungen? Verankerungen im Grundgesetz? Historie dazu.
  3. Frage: Historie des politischen Streiks allgemein? Dazu Historie der Rechtsprechung? Der politische Demonstrationsstreik. Gefährdet der politische Streik die Demokratie?
  4. Frage:  Nationale und internationale Vergleiche
  5. Frage: Widerspricht das Verbot UN-Regeln?
  6. Frage: Könnte der politische Streik in die Satzung der IG Metall aufgenommen werden?
  7. Frage: Wozu könnte man den politischen Streik nutzen, wenn es ihn gäbe?
  8. Frage: Welche Umsetzungsmöglichkeiten gibt es? (Besetzungen?)
  9. Frage:  Wie streiken Rentner?         

1. Frage: Was heißt politischer Streik überhaupt?

Antwort:

Ein politischer Streik ist ein Streik, der sich gegen den Staat richtet. Ein politischer Streik zielt auf das sogenannte hoheitliche Handeln des Staates. Mit hoheitlichem Handeln ist  das staatliche Handeln „von oben nach unten“ gemeint, also

  • das Handeln der Regierung oder öffentlichen Verwaltungen (Verwaltungsakte bzw. irgendwelche Bescheide) oder
  • Entscheidungen von Gerichten (Urteile) oder
  • Beschlüsse von Parlamenten (Gesetze).

Insbesondere ist also ein Streik gegen ein Gesetzesvorhaben des Bundestages ein politischer Streik. Überdies wird auch ein Streik gegen gesellschaftliche Missstände als politischer Streik gewertet.

2. Frage: Ist ein politischer Streik erlaubt- ja/nein? Unter welchen Bedingungen? Verankerungen im Grundgesetz? Historie dazu?

Antwort:

In einem Interview mit dem Spiegel belehrte Wirtschaftsminister Peter Altmaier die Studentin Luisa Neubauer, eine Organisatorin der „fridays for future” Demonstrationen: „Sie sagen, dass Sie für das Klima streiken, aber in Deutschland kennen wir keinen politischen Generalstreik. Unser Streikrecht richtet sich immer auf Forderungen, die ein Arbeitgeber liefern kann“.

Man muss dem Wirtschaftsminister fast dankbar sein. Denn damit hat er den politischen Streik überhaupt wieder zu einem Thema gemacht. Er ja auch hätte einfach sagen können: „Schüler können nicht streiken“, weil sie keine abhängig Beschäftigten sind. Doch Altmaier belehrt über den „politischen Generalstreik“, den wir in Deutschland „nicht kennen“. Interessant ist, dass der Anstoß, sich mit dem politischen Streik zu beschäftigten, nicht von den abhängig Beschäftigten oder ihren Gewerkschaften kam, sondern von der jungen Klimabewegung, die seit 2019 immer wieder Freitags während der Schulzeit für ihre Zukunft demonstriert und das „Klimastreik“ nennt. Luisa Neubauer ließ sich denn auch von den Belehrungen Altmaiers nicht beeindrucken: „Als das Streikrecht erfunden wurde, kannte man die Klimakrise ja noch nicht.“

Das Widerstandsrecht nach Artikel 20 Absatz 4 Grundgesetz

War die Behauptung von Wirtschaftsminister Altmaier richtig, dass wir in Deutschland „keinen politischen Generalstreik kennen“?

Artikel 20 Abs. 4 Grundgesetz: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“.

Dieses sogenannte Widerstandrecht erlaubt auch den Streik.

Und das kann nur ein politischer Streik sein, denn er richtet sich „gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen“.

Das Grundgesetz kennt also den politischen Generalstreik. Vielleicht  kennt Altmaier das Grundgesetz nicht.

Der Generalstreik gegen den Kapp-Lüttwitz-Ludendorff Putsch im Jahr 1920 wäre damit heute erlaubt. Durch einen politischen Generalstreik wurde am 9. November 1918 die erste deutsche Republik durchgesetzt, durch einen politischen Generalsstreik diese Republik 1 ½ Jahre später, im Jah 1920, verteidigt. Alle Fabriken und Behörden waren geschlossen. Es gab keinen Eisenbahnverkehr, in den Städten keine Straßenbahnen und Busse, keine Post, keine Telefonvermittlung, keine Zeitungen. Und in Berlin: Kein Wasser, kein Gas, kein elektrisches Licht. Der Putsch brach zusammen.

Die enorme Bedeutung dieses Generalstreiks wurde wenige Jahre später deutlich, als die Beschäftigten zum Ende der Weimarer Republik nicht mehr die Kraft hatten erneut einen Generalstreik zu organisieren. Die Folgen – das wissen wir – waren verheerend.

Viele Gewerkschaften haben eine Regelung in ihren Satzungen, die das Widerstandsrecht nach Artikel 20 Absatz 4 GG aufgreift. So heißt es in § 2 der Satzung der IG Metall:

Die IG Metall wahrt und verteidigt die freiheitlich-demokratische Grundordnung sowie die demokratischen Grundrechte. Die Verteidigung dieser Rechte und der Unabhängigkeit sowie Existenz der Gewerkschaften erfolgt notfalls durch Aufforderung des Vorstandes an die Mitglieder, zu diesem Zweck die Arbeit niederzulegen (Widerstandsrecht gemäß Artikel 20 Absatz 4 GG)“.

Aufschlussreich ist, dass der Vorstand nach der bestehenden Formulierung in der Satzung nicht nur zur Verteidigung der Grundordnung, sondern auch zur Verteidigung der demokratischen Grundrechte sowie der Existenz der Gewerkschaften die Mitglieder zur Arbeitsniederlegung aufrufen kann.

Die 5. Frage, ob der politische Streik in die Satzung der IG Metall aufgenommen werden kann, ist damit also beantwortet. Man kann das politische Streikrecht in die Satzung aufnehmen. Die Frage ist nur, ob die Berufung auf das Widerstandrecht reicht.

Sicher, der Generalstreik gegen den Kapp-Putsch wird durch das Widerstandsrecht im Grundgesetz geschützt. Aber selbst in solchen Fällen besteht die Gefahr, dass es dann zu spät ist, weil die demokratische Ordnung schon beseitigt ist und dann diejenigen, gegen die sich der Widerstand richtet, über die Rechtmäßigkeit unsere Widerstands entscheiden. Die Gewerkschaften müssten auf ihre eigene Rechtsmeinung  vertrauen, aber ihr Streik würde wie ein illegaler Streik bekämpft.  

Hinzu kommt Folgendes: Wir können uns nicht auf das Widerstandsrecht nach Artikel 20 Absatz 4 GG berufen, „wenn andere Abhilfe … möglich ist“. Das heißt vor allem: … wenn noch Gerichte angerufen werden können. Der Rechtsweg steht aber jedem offen, der „durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird“ –  so heißt es in Art. 19 Abs. 4 GG.

Der schleichende Verfassungsbruch ist nicht vom Widerstandsrecht nach dem Grundgesetz erfasst, bei dem die staatlichen Organe schrittweise in einem allmählichen Prozess zu verfassungswidrigen Positionen übergehen. Hier würde immer auf den Rechtsweg verwiesen.

Das Widerstandrecht erfasst eine Vielzahl von Arbeitsniederlegungen nicht, die alle politisch waren oder wären. Zum Beispiel:

  • Die Kundgebungen 1985 während der Arbeitszeit gegen den § 116 AFG
  • Die Arbeitsniederlegungen 2000/2007 gegen die Verlängerung des Renteneintrittsalters
  • Ein Streik gegen die Aufheizung des Klimas
  • Ein Streik für die Rechte der Frauen am 8. März
  • Arbeitsniederlegungen als Gedenkminuten gegen die Morde in Hanau

In keinem dieser Fälle kann man sich auf das Widerstandrecht nach Artikel 20 Abs. 4 GG berufen.

Also: Das Widerstandrecht reicht nicht, um das Recht auf den politischen Streik zu gewährleisten.

Wir müssen weiter fahnden. Wo könnte sich sonst noch im Grundgesetz eine Regelung zum politischen Streikrecht finden?

Das Streikrecht nach Artikel 9 Abs. 3 Grundgesetz

In Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz wurde über viele Jahre die Koalitionsfreiheit allein mit den folgenden beiden Sätzen garantiert:

Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig“.

Allerdings hat das Bundesarbeitsgericht 1984 festgestellt, dass Tarifverhandlungen ohne Streikrecht “kollektives Betteln” wären, und auch das Bundesverfassungsgericht hat dem Recht auf Streik Verfassungsrang eingeräumt.

Doch 1968 wurde ein weiterer Satz hinzugefügt. Damals wurden nach sehr scharfen außerparlamentarischen und parlamentarischen Auseinandersetzungen die Einschränkung zahlreicher Freiheitsrechte im Falle eines Notstands beschlossen. Wegen der großen Proteste, die auch von den Gewerkschaften mitgetragen wurden, wurde nicht nur das Widerstandsrecht nach Artikel 20 Absatz 4 GG in das Grundgesetz aufgenommen, sondern es wurde in Artikel 9 Absatz 3 GG auch ein Satz hinzugefügt, der anordnet, dass Notstandmaßnahmen sich nicht gegen “Arbeitskämpfe“ richten dürfen, „die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden“.

Damit war das Wort Arbeitskampf im Grundgesetz. Wenn selbst im Notstand, wo zahlreiche Freiheitsrechte eingeschränkt werden können, der Streik als Freiheitrecht nicht angetastet werden darf, dann muss das Streikrecht erst recht in Zeiten ohne Notstand druch das Grundgesetz geschützt sein.

Vielleicht noch ein Hinweis zum Streikrecht im Gefüge der Grundrechte: Im Streik setzen die Beschäftigten der Fremdbestimmung durch das Kapital, der jeder Beschäftigte unterworfen ist, ihre Selbstbestimmung entgegen. Damit ist der Streik Ausdruck der Menschenwürde, die in  Artikel 1 Grundgesetz garantiert ist: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Dieser Artikel 1 ist ein wichtiges Zeugnis der antifaschistischen Prägung des Grundgesetzes und der Streik herausragend als kollektiver Ausdruck und kollektive Einforderung dieser Menschenwürde.

Die Frage bleibt: Ist das Grundrecht auf Streik auch ein Grundrecht  auf den politischen Streik?

Es ist nur von „Arbeitskampf“ die Rede und Arbeitskampf meint das Grundrecht auf Streik und auch das Recht zu Gegenmaßnahmen der Arbeitgeber. Als Ziel wird im Grundgesetz nur vorgegeben, dass  Arbeitskämpfen auf die „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ gerichtet sein sollen. Aber auch Gesetze können die Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen wahren und fördern, z.B. das Mindestlohngesetz oder das Arbeitsschutzgesetz und alles, was jetzt mit der Transformation zusammenhängt und die Arbeitsbedingungen massiv berührt. Es steht nirgendwo im Grundgesetz, dass Arbeitskämpfe, die sich darauf richten, verboten sind.   

Es gibt zum Streikrecht nur diese beiden Regelungen im Grundgesetz, in Artikel 20 und in Artikel 9. Auch in anderen Gesetzen  findet sich nichts weiter.

Alles andere ist Rechtsprechung. Deswegen sagt man manchmal auch: Streikrecht ist Richterrecht.

Wir müssen uns mit der Rechtsprechung beschäftigen, wenn wir wissen wollen, ob der politische Streik erlaubt ist das deutsche Streikrecht verstehen wollen. Damit geht es um die:

3. Frage: Historie des politischen Streiks? Dazu die Historie der Rechtsprechung. Der Demonstrationsstreik

Antwort:

Ich werde in Zusammenhang mit der Historie des politischen Streiks sprechen über:

  • a. Der politische Streik in der Weimarer Republik
  • b. 1948: Generalstreik
  • c. 1952: Zeitungsstreik
  • d. 1985: Streik gegen die Streichung des KUG für kalt Ausgesperrte (§ 116 AFG)
  • e. Gefährdet der politische Streik die Demokratie? Der politische Demonstrationsstreik

a. Der politische Streik in der Weimarer Republik

In der Weimarer Republik unterlag das Streikrecht erheblichen Einschränkungen und diese Einschränkungen wurden zum Ende der Republik immer stärker. Aber eines gab es nicht: Ein Verbot des politischen Streiks. Es gab auch nicht das Verbot des verbandsfreien Streiks oder – wie manchmal auch gesagt wird – des wilden  Streiks.

Es versteht sich von selbst, dass 1933 nach der Zerschlagung der Arbeiterparteien und der Gewerkschaften, nach der Beseitigung  der Republik und aller ihrer Rechte und Freiheiten auch alle Streiks  faktisch verboten waren.

b. 1948: Generalstreik

Am 12. November 1948, also noch vor Verabschiedung des Grundgesetzes, rief der DGB zu einem  politischen Generalstreik auf – in der Bizone, nicht in der von den Franzosen besetzen Zone, in der noch ein Streikverbot galt. Es war der größte Streik, der nach 1945 jemals stattgefunden hat: Es beteiligten sich zwischen sieben und neun Millionen Menschen – bei viereinhalb Millionen gewerkschaftlich Organisierten und knapp zwölf Millionen Beschäftigten insgesamt. Neben der Verbesserung der wirtschaftlichen Lage wurde die Überführung der Grundstoffindustrie und Kreditinstitute in Gemeineigentum, eine Demokratisierung der Wirtschaft,  Inkraftsetzung der von den Länderparlamenten beschlossenen Gesetze zur paritätischen Mitbestimmung, ein umfassendes Streikrecht und Aussperrungsverbot gefordert. Der Streik richtete sich unmittelbar gegen die von Erhard und dem Wirtschaftsrat beschlossenen Maßnahmen zur Einführung der „freien Marktwirtschaft“

Diese Streik wurde lang als völlig wirkungslos gewürdigt. Doch bei dieser Würdigung als ‚Donnerwetter ohne Wirkung‘ scheint eher der Wunsch der Vater des Gedankens zu sein. Denn wenn politische Streiks nichts bewirken, kann man auch auf sie verzichten.

2017 wurde mit Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung eine Dissertation von Uwe Fuhrmann veröffentlicht[1]Uwe Fuhrmann Die Entstehung swe „Sozialen Marktwirtschaft“ 1948/49 Konstanz und München 2017, die zu einem ganz anderen Ergebnis kommt und zeigt, dass dieser Streik dazu führte, dass von der zunächst geplanten freien Marktwirtschaft umgesteuert wurde auf eine „soziale Marktwirtschaft“, die dann in den folgenden Jahrzehnten als Markenzeichen deutscher Politik gerühmt wurde. In der Dissertation werden die sehr konkreten Folgen benannt, u.a. die Rückkehr zu einer tragfähigen und paritätischen Finanzierung der Sozialversicherungen, die Aufhebung des Lohnstopps; auch die Aushandlung des Tarifvertragsgesetzes wurde beschleunigt, es trat wenige Monate später in Kraft.

Festzuhalten bleibt. Es gab nach 1945 einen politischen Generalstreik, der durch keine gerichtliche Entscheidung angefochten wurde.

c. 1952: Zeitungsstreik

1952 folgte ein weitere politscher Streik, der wegen seiner rechtlichen Folgen sehr bedeutsam werden sollte.

Der Entwurf eines Betriebsverfassungsgesetzes auf Bundesebene nahm alle Fortschritte der Betriebsrätegesetze, die auf Länderebene beschlossen worden waren, wieder zurück. Dagegen richteten sich viele Demonstrationen und schließlich, als erkennbar wurde, dass die Regierungsparteien nicht nachgeben würden, ein Streik: Der sogenannte Zeitungsstreik. Das Ziel:

  1. Keine Rückschritte bei der Mitbestimmung in den Betrieben und
  2. paritätische Mitbestimmung in den Aufsichtsräten.

Am 28. und 29. Mai 1952 erschien so gut wie keine Tageszeitung. Danach wurde eine große öffentliche Kampagne losgetreten, in der der Streik als Angriff auf die Pressefreiheit diffamiert wurde, obwohl der Streik nicht im entferntesten dieses Ziel hatte. Auch  tatsächlich kann durch ein zwei tägiges Bestreiken der Tageszeitungen die Pressefreiheit nicht ernsthaft beeinträchtigt werden.

Der Wind hatte sich ganz offensichtlich gedreht. Zu dieser Wende ein paar Sätze mehr, weil sie die Grundlage für alles Weitere war. Die fortschrittliche Nachkriegsperiode, in der das Ziel gewesen war, ein  Deutschland auf antifaschistischer Grundlage aufzubauen, war längst beendet und der Antifaschismus durch den Antitotalitarismus ersetzt worden. Unter dem Stichwort „Extremisten“ wurden Opfer und Täter in einen Topf geworfen, als Opfer nicht nur, aber vor allem die in den KZ’s verfolgten und gequälten Kommunisten, als Täter Nazis, die das zu verantworten hatten. Am Ende kehrten die alten Nazis wieder in die staatlichen Verwaltungen, in die Polizei und Justiz und an die Gerichte zurück, während Kommunisten, aber auch zum Beispiel die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes gnadenlos verfolgten wurden. Diese Neuorientierung im kalten Krieg vom Antifaschismus zum Antitotalitarismus ging einher mit einer insgesamt immer kapitalfreundlicheren Politik. Die CDU wollte schon lange nichts mehr wissen von ihrem Ahlener Programm, wo sie einmal selbst die Vergesellschaftung des Bergbaus gefordert hatte.  

Das war 1952 das Klima des kalten Krieges, das bis heute nachwirkt.

Das Kapital sah seine Zeit gekommen, das Streikrecht zu kanalisieren. Unmittelbar nach dem Zeitungsstreik verklagten 21 Zeitungsunternehmen und Druckereien, koordiniert durch den BDA, die IG Druck und Papier und den DGB und ihre Vorstandsmitglieder auf Schadenersatz im Umfang von 30.000 DM. Aber es ging selbstverständlich nicht um den Schaden, sondern um eine rechtspolitische Grundsatzentscheidung. Bei neun Arbeitsgerichten hatten die Unternehmen Erfolg, bei vier keinen Erfolg. Dann befassten sich vier Landesarbeitsgerichte in sechs Entscheidungen mit diesem Rechtsstreit. Alle bejahten einen Schadenersatz. Nur ein Landesarbeitsgericht entschied anders: Das Landesarbeitsgericht Berlin[2]Micael Kittner Arbeitskampf München 2005, S. 603 f..

Der Streit drehte sich vor allem um die Frage, ob der Zeitungsstreik eine Nötigung des Parlaments gewesen war. Die Weichenstellung für das zukünftige Streikrecht erfolgte durch den Gutachter Hans Carl Nipperdey, während der Nazizeit Kommentator des Gesetzes „zur Ordnung der nationalen Arbeit“ (AOG – das AOG war das faschistische Arbeitsrecht).

Nipperdey stellte das Streikrecht auf eine neue Grundlage. Danach ist der Streik zunächst einmal ein Eingriff in den Gewerbebetrieb und damit eine unerlaubte Handlung. Das gilt nur dann nicht, wenn der Streik um Arbeitsbedingungen gegen Arbeitgeber geführt wird. Diese Bedingung erfüllt der politische Streik nicht. Damit ist der Streik eine unerlaubte Handlung. Der Arbeitgeber kann Schadenersatz fordern.

Die Folgen spüren wir bis heute. Bis heute gilt nach herrschender Meinung der politische Streik als verboten.

Nipperdey hatte sich als erster Präsident des Bundesarbeitsgerichts empfohlen und wurde es auch – trotz seiner Kommentierung des faschistischen Arbeitsrechts (Anmerkung: Zu Nipperdey gab es vor kurzem eine sehr gute Dokumentation im Deutschlandradio).  

Ein weitere politischer Streik war

d. 1985: Der Streik gegen die Streichung des Kurzarbeitergeldes für kalt Ausgesperrte (§ 116 AFG)

Die IG Metall rief zu Kundgebungen während der Arbeitszeit auf, um gegen die Verschlechterungen des § 116 AFG zu protestieren. Es ging um die beabsichtigte Streichung des Kurzarbeitergeld bei kalt Ausgesperrten. Dagegen rief die IG Metall während der Arbeitszeit zu Kundgebungen und zu diesem Zweck zu Arbeitsniederlegungen auf. Das war ein politscher Streik, denn er richtete sich gegen einen geplante Gesetzesänderung. Dieser Streik zeigt, dass die IG Metall – auch gegen die herrschende Meinung – an dem Recht auf den politischen Streik festhielt. Gegen diesen Aufruf zum politischen Streik wurden von Unternehmensseite insgesamt 17 einstweilige Verfügungen beantragt. In acht Fällen wurde die beantragte Verbotsverfügung erlassen, aber in 9 Fällen blieb der Antrag erfolglos[3]Däubler Arbeitskaampfrecht 3. Auflg. S. 259.

Wenn man sich die Rechtsprechung zum politischen Streikrecht bis heute anschaut, so ist ein überraschendes Ergebnis: Es gibt keine einzige Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zum politischen Streik.

Die herrschende Meinung argumentiert so: Da es zahlreiche Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts gibt, wonach Streiks nur geführt werden dürfen, wenn sie tariflich regelbare Ziele haben, ist der politische Streik verboten. Denn der politische Streik ist nicht auf einen Tarifvertrag gerichtet, sondern richtet sich unmittelbar gegen Regierungshandeln oder gegen ein Gesetz.  

Nun müssen wir über den wichtigsten Einwand gegen den politischen Streik sprechen, der schon in den Rechtsstreitigkeiten um den Zeitungsstreik eine wichtige Rolle spielte.

Der Einwand lautet: Ein politischer Streik richtet sich gegen das Parlament, das demokratisch gewählt wurde, oder gegen die Regierung, die vom Parlament gewählt wurde. Damit schwächt der politischer Streik die Demokratie, die in dem demokratisch gewählten Parlament und in der von diesem Parlament gewählten Regierung seinen wichtigsten Ausdruck findet.

e. Frage: Gefährdet der politische Streik die Demokratie?

Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst eine Unterscheidung wichtig: Die Unterscheidung zwischen dem Demonstrations- bzw. Proteststreik auf der einen Seite und dem Erzwingungsstreik auf der anderen Seite. Bei einem Erzwingungsstreik wird solange gestreikt, bis zumindest ein Teilergebnis durch den Streik erzwungen wird, bei einem Demonstrationsstreik kommt es – wie der Name schon sagt – auf den Demonstrationscharakter an. Daher ist ein Demonstrationsstreik von vornherein zeitlich begrenzt; ich würde sagen maximal auf eine Tag. Diese zeitliche Begrenzung ist das Merkmals, das den Demonstrations- vom Erzwingungsstreik unterscheidet. Das schließt nicht aus, ihn nach einer bestimmten Zeit zu wiederholen. Häufig oder vielleicht sogar in der Regel sind Streiks in Tarifkämpfen, wenn es nicht Warnstreiks sind, Erzwingungsstreiks. Auch ein politischer Streik kann ein Erzwingungsstreik sein. Der Streik gegen den Kapp-Lüttwitz Putsch 1920 war ein politischer Erzwingungsstreik. Er endete erfolgreich und erzwang die Aufgabe der Putschisten.

Schaut man sich nun die politischen Streiks nach 1945 an, dann gab es nur einmal einen Streik, der länger als einen Tag dauerte. Das war der Zeitungsstreik. Alle anderen politischen Streiks waren politischen Demonstrationsstreiks. Ich denke, es ist daher sinnvoll, sich zunächst darauf zu konzentrieren, dass diese politischen Demonstrationsstreiks legalisiert werden. Dabei ist es sehr interessant, dass viele Kolleginnen und Kollegen glauben, dass diese Streiks, die nur in einer Kundgebung bestehen, auf der man seine Meinung während der Arbeitszeit demonstriert, schon jetzt erlaubt sind. Ich bin ja auch der Meinung, dass das schon jetzt erlaubt ist. Aber wir müssen das bei den Gerichten durchsetzen.

Aufgrund dieses Demonstrationscharakters des  politischen Streiks ist das auch einfacher als bei einem politischen Erzwingungsstreik. Der Einwand, diese Streiks richteten sich gegen das Parlament, ist dann wenig überzeugend. Ein Demonstrationsstreik richtet sich nicht gegen das Parlament, sondern will die Willensbildung im Parlament beeinflussen wie das auch andere Demonstrationen und Kundgebungen wie etwa der Klimastreik auch wollen. Das ist nicht gegen die Demokratie gerichtet, sondern Ausdruck von Demokratie. Warum soll am Arbeitsplatz ausgeschlossen sein, was in der Freizeit erlaubt ist? Darf die Demonstrationsfreiheit niemals, nicht einmal für wenige Stunden, Vorrang vor der Arbeitspflicht haben? Passt das hohe Lied, das das Bundesverfassungsgericht auf die Meinungs-  und Demonstrationsfreiheit als Fundament unserer Demokratie singt, dazu, den Betrieb in dieser radikalen Weise zur demokratiefreien Zone zu erklären?

Wenn man zum Beispiel den aktuellen Kampf um die Einhaltung der Klimaerwärmung auf nicht mehr als 1,5 Grad betrachtet, weiß jeder, dass dazu enorme Umstellungen in den Betrieben der Energiewirtschaft, Stahlindustrie, Autoindustrie usw. notwendig sind. Doch über diese Transformation entscheiden in den Betrieben allein die Unternehmen. Das ist deswegen so, weil immer noch das Kapital die Entscheidungen trifft, was wie und wo und in welchem Umfang produziert wird. Es kann daher gar kein Zweifel daran bestehen, dass diese Entscheidungsmacht des Kapitals in den Betrieben in die Politik hineinwirkt, hineinwirken muss, weil die Unternehmen diejenigen sind, die angesprochen werden müssen, um die Transformation umzusetzen. Ganz ohne besondere Lobbyarbeit ergibt schon die  Entscheidungsmacht der Unternehmer in den Betrieben eine Vormachtstellung des Kapitals in der Politik. Die intensive Lobbyarbeit von Kapitalvertretern kommt hinzu. Ein Demonstrationsstreik, der diese Transformation nicht bremsen, sondern eher beschleunigen will, aber verlangt, dass die Kosten nicht einfach nach unten weiter gereicht werden, wäre mehr als angebracht als Ausgleich zu dem Einfluss, den die Unternehmer ganz selbstverständlich tagtäglich gegenüber der Politik geltend machen. Zum Ausgleich der strukturellen Überlegenheit des Kapitals ist der Demonstrationsstreik unverzichtbar.

4. Frage: Nationale und internationale Vergleiche?

Antwort:

a. Nationale Vergleiche

„Von den 27 Staaten der Europäischen Union ist der politische Streik nur in England, Österreich und Deutschland illegalisiert. Ein Verbot ist dagegen nirgendwo festgeschrieben“ (Wiesbadener Appell) .

b. Internationale Vergleiche: Das Völkerrecht

Eine wichtige Unterstützung für unsere Forderungen nach einem besseren Streikrecht finden wir im Völkerrecht. Vor allem sind das die Bestimmungen der ILO und der Europäischen Sozialcharta.

Das wohl wichtigste Übereinkommen der ILO ist das Übereinkommen Nr. 87, wo nicht ausdrücklich das Streikrecht erwähnt, es aber trotzdem zu einem „Herzstück dieses Übereinkommens“ geworden ist. Die Unternehmerverbände haben vor nicht allzu lange Zeit eine massive Kampagne vom Zaun gebrochen, die sich dagegen richtete, dass die ILO Aussagen zum Streikrecht trifft. Dieser Konflikt ist zunächst nur zugedeckt worden, aber noch längst nicht ausgestanden.   

Der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit (CFA) der ILO hat in allgemeiner Form verlangt, dass Proteststreik zugelassen werden.

Ein anderer Sachverständigenausschuss der ILO ist der Auffassung, dass die Streikziele nicht auf tariflich regelbare Ziele beschränkt werden dürfen. Er hat von Deutschland gefordert, Proteststreiks zuzulassen.

Außerdem gilt in Deutschland die Europäische Sozialcharta (ESC). Die ESC ist ein Vertrag des Europarats. Der Europarat darf nicht mit der EU verglichen werden. Zu den Mitgliedsstaaten gehören auch Russland und die Türkei.

Teil II Artikel 6 Nr. 4 Europäische Sozialcharta lautet:

„Um die wirksame Ausübung des Rechtes auf Kollektivverhandlungen zu gewährleisten, … und anerkennen (die Vertragspartner) das Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts im Falle von Interessenkonflikten, vorbehaltlich etwaiger Verpflichtungen aus geltenden Gesamtarbeitsverträgen“ 

Durchsetzungsbemühungen und Bruch des Völkerrechts

Das Ministerkomitee des Europarats, in dem sich die Außenminister der Mitgliedsstaaten versammeln, überwacht unter anderem die Einhaltung der Europäischen Sozialcharts (ESC) in den einzelnen Mitgliedsstaaten und wird dabei von einem Sachverständigenausschuss unterstützt. Seit Jahren erklärt dieser Sachverständigenausschuss, dass in Deutschland das „Verbot aller Streiks, die nicht auf Tarifverträge ausgerichtet sind und nicht von den Gewerkschaften ausgerufen oder übernommen werden“ ein Verstoß gegen die Sozialcharta ist. 1998 sprach das Ministerkomitee selbst eine sogenannte „Empfehlung“ gegenüber Deutschland aus. Damit wurde die Kritik an dem Streikrecht in Deutschland auf die höchste Stufe gehoben, die dem Ministerkomitee zur Verfügung steht. Eine schwerere „Sanktion“ kann das Ministerkomitee nicht aussprechen[4] zu allem: AuR 1998, S. 156.

Das Bundesarbeitsgericht stellte wenige Jahre nach der Rüge des Ministerkomitees fest: „Dabei mag die generalisierende Aussage, Arbeitskämpfe seien stets nur zur Durchsetzung tarifvertraglich durchsetzbarer Ziele zulässig, im Hinblick auf Teil II Art. 6 Nr. 4 ESC einer erneuten Überprüfung bedürfen. Denn immerhin ist nach Meinung des Sachverständigenausschusses das Verbot aller Streiks in Deutschland, die nicht auf den Abschluss eines Tarifvertrages gerichtet sind und nicht von einer Gewerkschaft ausgerufen oder übernommen worden sind, mit den Garantien von Art. 6 Nr. 4 ESC unvereinbar … Auch erteilte das Ministerkomitee des Europarats am 3. Februar 1998 die „Empfehlung“, in angemessener Weise die negative Schlussfolgerung des Ausschusses unabhängiger Experten zu berücksichtigen“[5]BAG v. 10.12.2002 – AZR 96/02 juris Rn. 43.

Die Bundesregierung hoffte wohl, dass mit diesem gerichtlichen Hinweis der fortgesetzten Völkerrechtsverstoß aus der Welt geschaffen wäre. Doch reichte den Überwachungseinrichtungen der ESC diese bloße gerichtliche Ankündigung nicht. Die Rechtsprechung muss sich ändern. Der Sachverständigenausschuss hielt seine Kritik an dem deutschen Streikrecht aufrecht.

Nach zwanzig Jahren „sorgfältiger Prüfung“ stimmte Deutschland in diesem Jahr auch der revidierten Sozialcharta zu. Doch wurde dieser Zustimmung eine „Auslegungserklärung“ hinzugefügt, die sich unter anderem auf das Streikrecht nach Art. 6 Nr. 4 ESC bezieht[6]„1. Die Bundesrepublik legt Artikel 6 Absatz 4 der Europäischen Sozialcharta (revidiert) vom 3. Mai 1996 in der Weise aus, dass die rechtmäßige Ausübung des Streikrechts der Arbeitnehmer von … Continue reading. Ein internationaler Vertrag wird genau dann vollständig entwertet, wenn ihn jeder Staat auf seine Weise auslegt. Genau diesem Ziel dient diese „Auslegungserklärung“. Damit soll die Rechtsprechung gegen die streikrechtlichen Bestimmungen in der Europäischen Sozialcharta immunisiert werden. Im Kern handelt es sich um eine „Missachtung des Überwachungssystems der Europäischen Sozialcharta“, dem sich Deutschland mit der Ratifizierung dieses Vertrages unterworfen hat.

Die Bundesregierung setzt damit eine nun mehr fast 60 Jahr anhaltende Tradition fort: Dem Streikrecht nach der Europäischen Sozial-Charta zustimmen, es dann aber nicht einhalten, jede Rüge internationaler Gremien an sich abperlen lassen und den andauernden Völkerrechtsbruch mit einer eigenen Auslegung des Völkerrechts rechtfertigen. Man kann nur hoffen, dass die Gerichte diese völkerrechtsverachtende ‚Doppelstrategie‘ durchschauen und erkennen, dass solche „Auslegungserklärungen“ rechtlich unbeachtlich sind. 

Das Bundesverfassungsgericht zur Bedeutung völkerrechtlicher Verträge  

Deutschland hat der Europäischen Sozialcharta von 1961 mit einigen Ausnahme durch Gesetz zugestimmt und sie 1965 mit diesen Einschränkungen ratifiziert. Zu den Bestimmungen, denen Deutschland ohne Einschränkungen zustimmte, gehört die eben zitierte Bestimmung zum Streikrecht. Sie gilt also uneingeschränkt für Deutschland.

Das Bundesverfassungsgericht beschreibt die Bedeutung von solchen völkerrechtlichen Übereinkommen so: „Damit hat der Gesetzgeber sie in das deutsche Recht transformiert und einen entsprechenden Rechtsanwendungsbefehl erteilt“[7]Das Bundesverfassungsgericht bezieht sich auf die Europäische Menschenrechtskonvention, BVerfG v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04 unter V.I.1.a.. Diese Rangzuweisung führt dazu, dass deutsche Gericht solche Völkerrechtsverträge „wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden haben“[8]BVerfG a.a.O.. Das Bundesverfassungsgericht hat auch gesagt, was unter „methodisch vertretbarer Auslegung“ zu verstehen ist: Solche Völkerrechtsverträge dürfen ausnahmsweise nicht beachtet werden, wenn „nur auf diese Weise ein Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung abzuwenden ist“[9]BVerfG a.a.O. . Da das Bundesverfassungsgericht einen entsprechenden Fall nie zu entscheiden hatte, ist auch nicht bekannt, ob es tragende „Grundsätze der Verfassung“ sieht, die eine Anwendung von Art. 6 Nr. 4 ESC ausschließen. Ich wüsste nicht, welche das sein sollen.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte

Bisher hat der Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg noch nicht zum politischen Streikrecht entschieden. Es kann aber sein, dass der entscheidende Anstoß für Verbesserung des Streikrechts vom Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg kommt. Dieses Gericht hat dadurch eine hohe Durchschlagkraft in Deutschland bekommen, dass vor einigen Jahren die Zivilprozessordnung geändert wurde. Seitdem kann ein Verfahren, das vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gebracht und dort gewonnen wurde, in Deutschland wieder aufgerollt werden. Die innerdeutschen Gerichte müssen auf der Grundlage der gewonnen Beschwerde in Straßburg erneut entscheiden. 

Der Gerichtshof trifft seine Entscheidungen auf der Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die an die Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen angelehnt ist.

Obwohl der Artikel 11 der EMRK dem Wortlaut nach nicht das Streikrecht erwähnt – ähnlich wie lange im Grundgesetz -, entscheidet der Gerichtshof seit einigen Jahren auch zum Streikrecht.

Bedeutsam ist, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sehr stark das internationale Recht berücksichtigt. Für das Streikrecht bedeutet das also, dass der EGMR die Bestimmung in der Europäischen Sozialcharta und ILO mit in seine Entscheidungen einfließen lassen würde. 

5. Frage: Widerspricht das Verbot UN-Regeln?

Antwort:

Man kann den zuständigen Ausschuss der Vereinten Nationen anrufen, der die Einhaltung des Vertrages, auf den man sich beruft, überwacht. Wenn der Menschenrechtsausschuss eine Verletzung feststellt, teilt er das der Bundesrepublik mit und fordert auf, das zu ändern. 

Auf UN-Ebene gibt es eine ähnliche Vertragsstruktur wie auf europäischer Ebene: Es gibt den UN-Sozialpakt  und den UN-Zivilpakt. Der UN-Sozialpakt entspricht in etwa der Europäischen Sozialcharta (ESC). Der UN-Zivilpakt entspricht in etwa der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Ahnlich wie auf der Europäischen in der Sozialcharta wird auch auf UN-Ebene nur im UN-Sozialpakt  das Streikrecht ausdrücklich geschützt.

Der Überwachungsausschuss des UN-Sozialpakts orientiert sich häufig an den Auslegungen und Aussagen der ILO[10]Däubler/Lörcher Arbeitskampfrecht, 3. Auflage § 10 Rn. 64, der ältesten Sonderorganisation der Vereinten Nationen. Alles, was die ILO am Streikrecht in Deutschland kritisiert, kann daher grundsätzlich auch vor den Überwachungsausschuss des UN-Sozialpakts gebracht werden.

Was den UN-Zivilpakt angeht scheint eine Tendenz dahin zugehen, auch zum Streikrecht Entscheidung zu treffen[11]Däubler/Lörcher Arbeitskampfrecht, 3. Auflage § 10 Rn. 62.

6. Frage: Könnte der politische Streik in die Satzung der IG Metall aufgenommen werden?

Antwort:

Ich hatte schon darauf hingewiesen, dass jetzt schon in § 2 der Satzung der IG Metall unter Verweis auf das Widerstandsrecht geregelt ist, dass der Vorstand zur Arbeitsniederlegung aufrufen kann um die demokratischen Grundrechte und Unabhängigkeit sowie Existenz der Gewerkschaften zu verteidigen.

Wir hatten auch schon darüber gesprochen, dass das nicht ausreicht, um den politischen Streik zu schützen.

Im Jahr 2011 gab es auf dem Gewerkschaftstag von ver.di mehrere Anträge, die den politischen Streik in der Satzung verankern wollten. Interessant ist, dass in mehreren Anträge auf das Streikrecht im Sinne der Europäischen Sozialcharta und der ILO Bezug genommen wird. Diese Anträge wurde abgelehnt. Ver.di hatte auf ihrem Bundeskongress 2007 bekräftigt, dass sie für das Recht auf den politischen Streik eintritt und 2011 gefordert, dass das politische Streikrecht in das Grundgesetz aufgenommen wird.

7. Frage: Wozu könnte man den politischen Streik nutzen, wenn es ihn gäbe?

Da kann man nach Frankreich schauen. Oder man kann auch die Liste durchgehen, wo schon einmal bei uns in homöopathischen Dosen politisch gestreikt wurde (siehe die beigefügt Übersicht Däubler „Arbeitskampfrecht“). Das wäre dann in erheblich größerem Umfang möglich. Sie könnten legal gegen die immer weiter steigen Rüstung streiken und nicht nur 5 Mahnminuten. Parents for future könnten die Arbeit beim Klimastreik niederlegen. Auch gegen Erhöhungen des Renteneintrittsalters wäre ganz legal mehr möglich usw. usw.

8. Frage: Welche Umsetzungsmöglichkeiten gibt es? (Besetzungen?)

Das ist die Frage, wie wir den politischen Streik durchsetzen können:

  • Reden und Machen
  • Das ‚Machen‘ vorbereiten: Beispiel Hanau
  • Solidarität, wenn es Konflikt um das Streikrecht gibt: Beispiel Gorillas
  • Streikrecht im Grundgesetz absichern

Reden und Machen

in einem Bericht von ver.di publik wird die Diskussion auf dem 3. ver.di-Bundeskongress so beschrieben: „Nicht reden, sondern machen. Dieser Grundtenor durchzog die Debatte der Delegierten … über das Thema Recht auf politischen Streik“. Ich glaube, diese Beschreibung fasst die Meinung viele Gewerkschaftsmitglieder ganz gut zusammen. Der 3. Ver.di-Bundeskongress war im Jahr 2011. Und ich habe den Eindruck, es wurde weder geredet noch gemacht. Das gilt für die beiden großen Gewerkschaften.

Es ist sehr wichtig, dass mehr über die Notwendigkeit des politischen Streiks geredet wird. Deswegen habe ich mich auch über diese Einladung gefreut. „Über Reden zum Machen“ könnte man sagen.

Tatsächlich wird weder geredet, noch gemacht. Was ist da los? Warum gibt es nirgendwo eine entschiedene Bewegung, eine beherzte Belegschaft, die sagt: „Wir wollen aus den und den Gründen, die uns auf den Nägeln brennen, an einem Tag einen politischen Demonstrationsstreik organisieren“, zum Beispiel eine Belegschaft, die Windräder baut, an einem Tag, an dem fff zum Klimastreik aufruft oder in einem Betrieb, in dem überwiegend Frauen arbeiten am 8. März? Warum wird das nicht irgendwo einmal angegangen? Halten da überall in der Gewerkschaft die Juristen den Daumen drauf? Oder hat das damit zu tun, dass über einen Streik immer auf oberster Ebene entschieden wird und die sich nach der Rechtsabteilung richtet?

Darüber würde ich gerne Eure Meinung hören: Was ist der Grund, dass auf Gewerkschaftstagen die vorherrschende Meinung ist: „Nicht reden, sondern machen“, aber dann weder  gerdet noch gemacht wird?

Ich möchte trotz der herrschenden Meinung auch dafür plädieren, zu machen, das heißt: politisch zu streiken. Das Streikrecht ist fast nur auf diesem Wege verbessert worden. Wenn Streikrecht Richterrecht ist, dann müssen die Gerichte  die Gelegenheit haben, über Streiks zu entscheiden, die bisher nach herrschender Meinung illegal sind. Die Gerichte können nicht legalisieren, was bisher als illegal gilt, wenn sie nur Fälle zu entscheiden haben, die sich im geltenden legalen Rahmen bewegen?

Der wichtigste Einwand, der immer wieder angeführt wird, ist das Haftungsrisiko. Aber diesen Einwand möchte ich nicht gelten lassen. Denn die Gewerkschaften haben es selber in der Hand, wie viele Beschäftigte sie zu einem politischen Streik aufrufen. Sie können damit auch das Haftungsrisiko genau bestimmen und so in den Grenzen halten, die für sie tragbar sind.

Das ‚Machen‘ vorbereiten: Beispiel Hanau

Als 2020 auf einer Kundgebung in Schöneberg an den 100. Jahrestag des Generalstreiks gegen die Kapp-Lüttwitz Putsch erinnert wurde, hatte wenige Wochen vorher in Hanau ein Nazi neun Menschen ermordet. Ich wusste, dass der DGB schon einmal zu Mahnminuten während der Arbeitszeit aufgerufen hatte, ich erinnerte mich an die 5 Mahnminuten für den Frieden, als es um die Stationierung der Mittelstreckenraketen ging. Ich überlegte mit einem Freund, ob daran nicht angeknüpft werden könnte. Der sagte: Mach doch eine Petition an die Gewerkschaften. Auf die Idee wäre ich nie gekommen. Aber gesagt, getan. Ich habe die Freunde und Freundinnen gefragt, die mit mir die Kundgebung an 14. März zum 100. Jahrestag vorbereiteten und sie haben das auch unterstützt. Die Petition forderte, an dem Tag der offiziellen Feier zum Gedenken an die Ermordeten in Hanau 10 Minuten vor zwölf die Arbeit niederzulegen zum Gedenken und zur Mahnung. Die Petition wurde nur von knapp 200 Menschen unterstützt und hatte doch einen überraschende Erfolg. Nach und nach riefen in großen Autounternehmen und immer mehr Tarifbezirke der Gewerkschaften zu Arbeitsniederlegungen 10 Minuten vor zwölf an diesem Tag auf. Es müssen, vorsichtige geschätzt, mehrere zehntausend Menschen gewesen sein, die zur Mahnung die Arbeit niederlegten[12]siehe https://widerstaendig.de/hanau/4-maerz-2020-arbeitsniederlegung-gegen-rechts/ .

Das Problem war, das die Gewerkschaften nicht darauf vorbereitet waren und in vielen Betrieben der Aufruf zu spät ankam. Es müssten gewerkschaftliche Beschlüsse gefasst werden, dass in Zukunft in solchen Fällen dazu aufgerufen werden soll und entsprechende Vorbereitungen getroffen werden, damit schnell gehandelt werden kann. Auch muss überlegt werden, wie die Aufrufe konkret formuliert werden. Nur Birgit Dietze rief zu Arbeitsniederlegungen auf, unabhängig von der Zustimmung durch den Arbeitgeber. Alle anderen machten die Arbeitsniederlegung von der Zustimmung des Arbeitgebers abhängig. Es ist ja gut, wenn der Arbeitgeber zustimmt. Aber was ist, wenn der Arbeitgeber nicht zustimmt, zum Beispiel weil der Arbeitgeber in der AfD ist? Soll dann auff die Mahnminuten verzichtet werden?

Solidarität: Beispiel Gorillas

Beim Lieferdienst Gorillas wurde einigen Beschäftigte, die  „wild“ gestreikt haben, deswegen gekündigt und sie klagen deswegen. Sie gehören einer Gruppe an, die sich Gorillas Workers Collektiv (GWC) nennt. Ich fände gut, wenn sie auch von DGB Gewerkschaftern unterstützt würden.

Die Koalitionsfreiheit und das Streikrecht könnten umfassend in der Verfassung abgesichert werden.

Das Streikrecht nach der Europäische Sozialcharta könnte in das Grundgesetz aufgenommen werden. Teil II Artikel 6 Nr. 4 ESC lautet:

„Um die wirksame Ausübung des Rechtes auf Kollektivverhandlungen zu gewährleisten, … und anerkennen (die Vertragspartner) das Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts im Falle von Interessenkonflikten, vorbehaltlich etwaiger Verpflichtungen aus geltenden Gesamtarbeitsverträgen“ 

Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz müsste lauten:

“Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig. Um die wirksame Ausübung des Rechts auf Kollektivverhandlungen zu gewährleisten, wird das Recht der Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts anerkannt, vorbehaltlich etwaiger Verpflichtungen aus Tarifverträgen. Maßnahmen nach den Artikeln 12a, 35 Abs. 2 und 3, Artikel 87a Abs. 4 und Artikel 91 dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden “.

9. Frage: Wie streiken Rentner?

Schüler können nicht streiken und für Rentner ist das noch schwieriger. Wir hatten schon darüber gesprochen: Im arbeitsrechtlichen Sinne kann nur die Arbeit niederlegen, wer Arbeit als abhängig Beschäftigter hat.

Es ist schon im übertragen Sinne ein Streik, wenn die Schüler und Schülerinnen streiken. Wie das Spiegel-Interview zeigt, hat allerdings schon das zu einer Belebung der Diskussion über den politischen Streik geführt. 

Rentner können sich vielleicht an solchen Aktionen im übertragenen Sinnen beteiligen. Manchmal gibt es Sitzstreiks, an denen sich vielleicht auch rüstige Rentner beteiligen können. In Pankow gab es auch einmal einen Begegnungsstätte für Senioren, die aufgegeben werden sollte. Dagegen wehrte sich die Senioren, indem sie diese Begegnungsstätte besetzten. 

Jugendliche aus der Umweltbewegung erzählten mir über eine Diskussion mit der Gewerkschaftsjugend. Die Jugendlichen der Umweltbewegung sprachen den politischen Streik an. Die Gewerkschaftsjugend lehnte ab: Das sei verboten und das Haftungsrisiko zu groß. Aber zu Aktionen des zivilen  Ungehorsams seien sie bereit. Das zeigt wie wichtig, die  Diskussion in der Gewerkschaft über dieses Thema ist. Da können vielleicht auch die Senioren zur Aufklärung beitragen. 

References

References
1 Uwe Fuhrmann Die Entstehung swe „Sozialen Marktwirtschaft“ 1948/49 Konstanz und München 2017
2 Micael Kittner Arbeitskampf München 2005, S. 603 f.
3 Däubler Arbeitskaampfrecht 3. Auflg. S. 259
4 zu allem: AuR 1998, S. 156
5 BAG v. 10.12.2002 – AZR 96/02 juris Rn. 43
6 „1. Die Bundesrepublik legt Artikel 6 Absatz 4 der Europäischen Sozialcharta (revidiert) vom 3. Mai 1996 in der Weise aus, dass die rechtmäßige Ausübung des Streikrechts der Arbeitnehmer von dem Vorliegen von Zulässigkeitsvoraussetzungen abhängig gemacht werden kann. 2. Die Bundesrepublik Deutschland erklärt, dass die von den Gerichten in der Bundesrepublik Deutschland in ihrer Rechtsprechung entwickelten Zulässigkeitsvoraussetzungen, nach denen ein Streik der Durchsetzung eines tariflichen regelbaren Zieles dienen muss und nur von einer tariffähigen Arbeitnehmervereinigung geführt werden kann, an die für die Tariffähigkeit die von der Rechtsprechung entwickelten Anforderungen gestellt werden“; siehe BT-Drs. 19/20976 v. 10.07.2020, S. 55
7 Das Bundesverfassungsgericht bezieht sich auf die Europäische Menschenrechtskonvention, BVerfG v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04 unter V.I.1.a.
8, 9 BVerfG a.a.O.
10 Däubler/Lörcher Arbeitskampfrecht, 3. Auflage § 10 Rn. 64
11 Däubler/Lörcher Arbeitskampfrecht, 3. Auflage § 10 Rn. 62
12 siehe https://widerstaendig.de/hanau/4-maerz-2020-arbeitsniederlegung-gegen-rechts/

Reaktion Russlands auf die Antwort der US-Seite

17 Februar 2022 17:00

PRESSEMITTEILUNG

Am 17. Februar wurde dem ins Außenministerium Russlands einbestellten Botschafter der USA, John Sullivan, folgende Reaktion auf die zuvor erhaltene Antwort der USA auf den russischen Vertragsentwurf über Sicherheitsgarantien zwischen der Russischen Föderation und den Vereinigten Staaten von Amerika überreicht:

– Allgemeine Charakteristik.

Wir stellen fest, dass die US-Seite keine konstruktive Antwort auf die Basiselemente des von der russischen Seite vorbereiteten Entwurfs eines Vertrags über Sicherheitsgarantien mit den USA gegeben hat. Es handelt sich um den Verzicht auf die weitere Nato-Ausdehnung, um den Abruf der „Bukarest-Formel“, der zufolge „die Ukraine und Georgien Nato-Mitglieder werden“, und um den Verzicht auf Einrichtung von Militärstützpunkten auf dem Territorium der Staaten, die früher Teile der UdSSR gewesen waren und keine Mitglieder der Allianz sind, insbesondere auf die Nutzung ihrer Infrastruktur zwecks jedweder militärischer Aktivitäten, wie auch um die Rückkehr militärischer Potenziale (insbesondere offensiver Potenziale) und der Infrastruktur der Nato zum Zustand des Jahres 1997, als die Russland-Nato-Grundakte unterzeichnet wurde. Diese Bestimmungen haben für die Russische Föderation eine prinzipielle Bedeutung.

Es wurde der Paketcharakter der russischen Vorschläge ignoriert, aus denen absichtlich „bequeme“ Themen ausgewählt wurden, die ihrerseits „umgedreht“ wurden, um Vorteile für die USA und deren Verbündete zu schaffen. Eine solche Vorgehensweise, wie auch die entsprechende Rhetorik US-Offizieller, untermauert die durchaus begründeten Zweifel daran, dass man in Washington der Idee zur Verbesserung der Situation im Bereich der europäischen Sicherheit tatsächlich treu ist.

Beunruhigend sind die immer zulegenden militärischen Aktivitäten der USA bzw. der Nato unmittelbar an den russischen Grenzen, während unsere „roten Linien“ und Grundinteressen im Sicherheitsbereich, wie auch Russlands souveränes Recht auf ihre Verteidigung, nach wie vor ignoriert werden. Die ultimativen Forderungen, unsere Truppen aus bestimmten Gebieten auf dem russischen Territorium abzuziehen, die von Drohungen mit einer Verschärfung der Sanktionen begleitet werden, sind unannehmbar und zerstören die Perspektiven, reale Vereinbarungen zu erreichen.

Ohne die Bereitschaft der US-Seite, über feste, juristisch verpflichtende Garantien unserer Sicherheit seitens der USA und ihrer Verbündeten zu verhandeln, wird Russland reagieren müssen, insbesondere indem es militärtechnische Maßnahmen ergreifen könnte.

– Zur Ukraine.

Es gibt keine „russische Invasion“ in die Ukraine, von der die USA und ihre Verbündeten seit dem Herbst des vorigen Jahres auf offizieller Ebene reden, und diese wird auch nicht geplant. Deshalb lassen sich die Behauptungen von der „Verantwortung Russlands für die Eskalation“ nicht anders einschätzen als ein Versuch zum Druck und zur Entwertung der Vorschläge Russlands zu den Sicherheitsgarantien.

Dass in diesem Kontext Russlands Verpflichtungen im Sinne des Budapester Memorandums aus dem Jahr 1994 erwähnt werden, hat nichts mit dem innenpolitischen Konflikt in der Ukraine zu tun und gilt nicht für die Umstände, die aus den dortigen inneren Faktoren resultieren. Der Verlust der territorialen Einheit durch den ukrainischen Staat ist das Ergebnis der inneren Prozesse dort.

Die in der amerikanischen Antwort enthaltenen Vorwürfe gegen Russland, es hätte „die Krim okkupiert“, halten ebenfalls keiner Kritik stand. 2014 kam es in Kiew zu einem Staatsstreich, dessen Initiatoren mit Unterstützung der USA und ihrer Verbündeten den Kurs nach der Bildung eines nationalistischen Staates eingeschlagen haben, der die Rechte der russischen bzw. russischsprachigen Bevölkerung, wie auch anderer Ethnien, verletzen würde, die in Minderheit sind. Es ist also kein Wunder, dass die Krim-Einwohner in dieser Situation für Wiedervereinigung mit Russland gestimmt haben. Die Entscheidung der Einwohner der Krim und Sewastopols zur Rückkehr in die Russische Föderation wurde bei einer freien Willensäußerung im Sinne des in der UN-Charta verankerten Selbstbestimmungsrechtes getroffen. Dabei wurden weder Gewalt noch Gewaltdrohung angewandt. Die Frage von der Zugehörigkeit der Krim ist weg vom Tisch.

Sollte die Ukraine in die Nato aufgenommen werden, würde eine reale Gefahr entstehen, dass das Kiewer Regime versuchen könnte, die Krim gewaltsam „zurück zu holen“, wobei die USA und ihre Verbündeten laut dem Artikel 5 des Washingtoner Vertrags in einen direkten bewaffneten Konflikt mit Russland involviert werden könnten – mit allen möglichen Folgen.

Die sich in der Antwort der USA wiederholende These, Russland hätte angeblich „den Konflikt in der Donbass-Region entfacht“, ist unzulänglich. Seine Gründe sind ausschließlich innenpolitisch. Eine Regelung wäre nur durch Umsetzung der Minsker Vereinbarungen und des „Maßnahmenkomplexes“ möglich, wo die Reihenfolge und die Verantwortung für deren Umsetzung klar und deutlich festgeschrieben sind, und sie wurden in der Resolution 2202 des UN-Sicherheitsrats einstimmig bestätigt. Auch die USA, Frankreich und Großbritannien stimmten damals dafür. Laut dem Punkt 2 dieser Resolution sind Kiew, Donezk und Lugansk die Seiten. Und in keinem dieser Dokumente gibt es ein einziges Wort über Russlands Verantwortung für den Konflikt im Donezbecken. Russland spielt neben der OSZE die Vermittlerrolle im wichtigsten Verhandlungsformat – in der Kontaktgruppe – sowie neben Berlin und Paris im „Normandie-Format“, das Empfehlungen an die Konfliktseiten formuliert und auf ihre Umsetzung achtet.

Für die Deeskalation der Situation um die Ukraine ist die Umsetzung folgender Schritte prinzipiell wichtig: Das sind Kiews Nötigung zur Umsetzung des „Maßnahmenkomplexes“, die Einstellung von Waffenlieferungen an die Ukraine, der Abzug  aller westlichen Berater und Instrukteure aus diesem Land, den Verzicht der Nato-Länder auf jedwede gemeinsame Übungen mit den ukrainischen Streitkräften und der Abzug der Kiew zuvor bereitgestellten ausländischen Waffen vom ukrainischen Territorium.

In diesem Zusammenhang verweisen wir darauf, dass der Präsident Russlands, Wladimir Putin, auf  der Pressekonferenz nach den Verhandlungen mit dem Präsidenten Frankreichs, Emmanuel Macron, am 7. Februar 2022 in Moskau betont hat, dass wir für den Dialog offen sind und aufrufen, „an stabile Sicherheitsbedingungen für alle, an gleiche Bedingungen für alle Teilnehmer des internationalen Lebens zu denken“.

– Konstellation der Kräfte.

Wir sehen, dass die USA in ihrer Antwort auf Russlands Vorschläge darauf bestehen, dass Fortschritte bei der Verbesserung der Situation im Bereich der europäischen Sicherheit „nur unter den Bedingungen der Deeskalation bezüglich der bedrohlichen Handlungen Russlands möglich wären, die gegen die Ukraine gerichtet sind“, was, soweit wir verstehen, die Forderung vorsieht, dass die russischen Truppen von den Grenzen der Ukraine abgezogen werden. Dabei sind die USA bereit, nur über „gegenseitige Verpflichtungen … zum Verzicht auf permanente Aufstellung von Truppen zu reden, die Kampfaufträge auf dem Territorium der Ukraine hätten“, und „Möglichkeiten für Besprechung des Problems konventioneller Streitkräfte zu erwägen“. Ansonsten verschweigt die amerikanische Seite unsere Vorschläge, die im Artikel 4, Absatz 2 und im Artikel 5, Absatz 1 des bilateralen Vertragsentwurfs enthalten sind. Zudem erklärt sie, dass „die aktuelle Konstellation der US- bzw. Nato-Kräfte beschränkt und proportional ist und den Verpflichtungen im Sinne der Russland-Nato-Grundakte vollständig entspricht“.

Wir gehen davon aus, dass Stationierung der Streitkräfte der Russischen Föderation auf ihrem Territorium die fundamentalen Interessen der USA nicht betrifft und auch nicht betreffen kann. Wir dürfen daran erinnern, dass es unsere Kräfte auf dem Territorium der Ukraine gar nicht gibt.

Dabei verlegten die USA und ihre Verbündeten ihre militärische Infrastruktur nach Osten, stationierten ihre Kontingente auf dem Territorium der neuen Mitglieder. Sie umgingen die Beschränkungen im Sinne des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa und deuteten die Bestimmungen der Russland-Nato-Grundakte über den Verzicht auf „zusätzliche permanente Stationierung von wesentlichen Kampftruppen“ sehr  freizügig. Die deswegen entstandene Situation ist unannehmbar. Wir bestehen auf dem Abzug aller Truppen und Rüstungen der USA aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa sowie aus dem Baltikum. Wir sind überzeugt, dass die nationalen Potenziale in diesen Gebieten durchaus ausreichend sind. Wir sind bereit, dieses Thema auf Basis der Artikel 4 und 5 des russischen Vertragsentwurfs zu besprechen.

– Das Prinzip der Unteilbarkeit der Sicherheit.

Wir haben in der Antwort der USA keine Bestätigungen gesehen, dass die US-Seite der Idee voll und ganz treu ist, das bedingungslose Prinzip der Unteilbarkeit der Sicherheit einzuhalten. Allgemeine Erklärungen darüber, dass die amerikanische Seite dieses Postulat berücksichtigt, widersprechen direkt der ausbleibenden Bereitschaft Washingtons zur Aufgabe des kontraproduktiven  und destabilisierenden Kurses nach der Schaffung von Vorteilen für sie und ihre Verbündeten auf Kosten der Sicherheitsinteressen Russlands. Und gerade das passiert wegen der zügellosen Ausübung der Politik der unbeschränkten geostrategischen und militärischen „Erschließung“ des postsowjetischen Raums, insbesondere des Territoriums der Ukraine, durch die Nordatlantische Allianz (wobei die USA die Führungsrolle spielen), was für uns ein besonders sensibles Thema ist. Das alles passiert unmittelbar an den russischen Grenzen. Damit werden unsere „roten Linien“ und Grundinteressen im Bereich der Sicherheit ignoriert, während Russlands nichtwegzudenkendes Recht auf ihre Gewährleistung abgewiesen wird. Für uns ist das natürlich unannehmbar.

Zusätzlich erinnern wir daran, dass dieses Prinzip in der Präambel zum Vertrag zwischen der Russischen Föderation und den Vereinigten Staaten von Amerika über Maßnahmen zur Reduzierung von strategischen Offensivrüstungen von 2011 verankert ist, dessen Verlängerung um weitere fünf Jahre ohne jegliche Ausnahmen beide Seiten im Februar des vorigen Jahres vereinbart haben, wie auch in etlichen auf höchster Ebene verabschiedeten OSZE- und Russland-Nato-Basisdokumenten: in der Präambel zur Schlussakte von Helsinki (1975), in der Pariser Charta für neues Europa (1990), in der Russland-Nato-Grundakte (1997), in der Istanbuler OSZE-Charta über europäische Sicherheit  (1999), in der Römer Russland-Nato-Erklärung (2002) und in der Astanaer Erklärung des OSZE-Gipfels  (2010).

In der erhaltenen Antwort wird die Anhänglichkeit Washingtons an das Konzept der Unteilbarkeit der Sicherheit erwähnt. Doch es besteht im Text im Recht der Staaten, „die Methoden der Gewährleistung der eigenen Sicherheit, darunter Unionsverträge, frei zu wählen bzw. ändern“. Diese Freiheit ist nicht absolut und ist nur die Hälfte der bekannten Formel, die in der Europäischen Sicherheitscharta fixiert ist. Ihr zweiter Teil fordert bei der Umsetzung dieses Rechts, „… die eigene Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit der Anderen zu festigen“. Wir können den von der Nato erhaltenen Brief vom 10. Februar dieses Jahres nicht als Antwort auf die vom Außenminister Russlands, Sergej Lawrow am 28. Januar 2022 an den US-Außenminister der USA, Antony Blinken, geschickte Botschaft zu dieser Frage betrachten. Wir haben gebeten, eine Antwort auf nationaler Ebene zu geben.

– Politik der „offenen Tür“ der Nato.

Die bestätigten eine „feste Unterstützung“ für die Politik der „offenen Tür der Nato“. Doch sie widerspricht den grundlegenden Verpflichtungen, die im Rahmen der KSZE/OSZE angenommen wurden, vor allem Verpflichtung, „die eigene Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit der Anderen zu festigen“. Diese Politik stimmt nicht mit den Einstellungen der Allianz selbst überein, die nach der Sitzung der Außenminister der Nato am 6. und 7. Juni 1991 in Kopenhagen sich verpflichtete, „keine einseitigen Vorteile aus der sich geänderten Situation in Europa zu ziehen“, „die legitimen Interessen“ anderer Staaten „nicht zu bedrohen“, ihre „Isolation“ bzw. „Zeichnung neuer Trennungslinien auf dem Kontinent“ nicht anzustreben.

Wir rufen die USA und Nato zur Rückkehr zur Erfüllung internationaler Verpflichtungen im Bereich Aufrechterhaltung des Friedens und Sicherheit auf. Wir erwarten von den Allianzmitgliedern konkrete Vorschläge über den Inhalt und Formen der juridischen Festlegung des Verzichtes auf die weitere Erweiterung der Nato gen Osten.    

– Paketcharakter der Vorschläge. 

Wir verzeichnen die Bereitschaft der USA, an einzelnen Maßnahmen zur Rüstungskontrolle und Senkung der Risiken substanziell zu arbeiten. Dabei haben wir fixiert, dass Washington die Berechtigung mehrerer russischer Vorschläge und Initiativen in diesen Richtungen, die in den letzten Jahren aufgebracht wurden, endlich anerkannte.

Zugleich machen wir die US-Seite erneut darauf aufmerksam, dass Russland in den von uns vorgelegten Dokumenten über Sicherheitsgarantien es vorschlug, den Weg einer komplexen langfristigen Regelung der unannehmbaren Situation, die sich weiterhin im Euroatlantischen Raum bildet, zu gehen. Es handelt sich vor allem um die Schaffung eines Fundaments der Sicherheitsarchitektur in Form einer Vereinbarung über den Verzicht der Nato auf weitere Handlungen, die der Sicherheit Russlands Schaden zufügen. Das wird für uns ein unveränderter Imperativ bleiben. Beim Fehlen solcher festen Grundlage werden die gegenseitig verbundenen Maßnahmen der Rüstungskontrolle und Senkung der militärischen Risiken, die die Zurückhaltung und Voraussagbarkeit der Militärtätigkeit in einzelnen Richtungen gewährleisten, auch wenn man bei ihnen eine Vereinbarung erreicht wird, in der Perspektive nicht nachhaltig sein.

Damit haben russische Vorschläge einen Paketcharakter und sollen in einem Komplex ohne Aussonderung einzelner Bestandteile betrachtet werden.

Angesichts dessen möchte man auf die fehlende konstruktive Reaktion Washingtons und Brüssels auf die von uns eindeutig kennzeichneten wichtigen Elemente der russischen Initiative aufmerksam machen. Was die Fragen der Rüstungskontrolle betrifft, betrachten wir sie ausschließlich in einem gemeinsamen Kontext eines komplexen Paket-Herangehens zur Regelung des Problems der Sicherheitsgarantien.

– Post-START-Vertrag und „Sicherheitsformel“.

Die USA schlagen vor, sich „unverzüglich“ im Rahmen eines Dialogs für strategische Stabilität mit der Entwicklung der „Maßnahmen als Entwicklung von START-Vertrag“ zu befassen. Doch dabei versucht die US-Seite ein mit uns nicht abgestimmtes Herangehen zu fixieren, das die Fokussierung ausschließlich auf Atomwaffe vorsieht, unabhängig von der Fähigkeit der jeweiligen Mittel, eine direkte Bedrohung für ein nationales Territorium anderer Seite darzustellen. Solche einseitige Position zu den Dingen widerspricht den Verständnissen, die auf dem russisch-amerikanischen Gipfel vom 16. Juni 2021 in Genf über einen komplexen Charakter des strategischen Dialogs, der die Grundlage der künftigen Rüstungskontrolle und Maßnahmen zur Senkung der Risiken bilden soll, erreicht wurden.

Russland tritt weiterhin für ein integriertes Herangehen zur strategischen Problematik ein. Wir schlagen vor, sich mit einer gemeinsamen Ausarbeitung einer neuen „Sicherheitsformel“ zu befassen.

Die Palette der Elemente des von uns vorgeschlagenen Konzeptes, das in vollem Maße aktuell bleibt, wurde der US-Seite mitgeteilt, darunter während der Treffen im Rahmen des strategischen Dialogs und in dem von uns am 17. Dezember 2021 überreichten Arbeitsdokument zu seiner Füllung.

– Stationierung von Atomwaffen außerhalb des nationalen Territoriums.

In ihrem Dokument haben die USA nicht auf solches Element des „Pakets“ der von uns vorgeschlagenen Maßnahmen, wie die Verlegung der Atomwaffen auf ein nationalen Territorium, die außerhalb solchen stationiert sind, und der Verzicht auf ihre weitere Stationierung außerhalb des nationalen Territoriums, und beschränkten sich mit der Erwähnung der Notwendigkeit, sich auf der Plattform des strategischen Dialogs mit der Lösung des Problems der nichtstrategischen Atomwaffen ohne Berücksichtigung der Besonderheiten ihrer Stationierung und anderer Faktoren, die die Sicherheit der Seiten beeinflussen, zu befassen.

Man möchte klären, dass es sich in unseren Vorschlägen um die Lösung des Problems des Vorhandenseins in einigen Nicht-Atomstaaten der Nato – als Verstoß gegen Atomwaffensperrvertrag – der Atomwaffen der USA, die Ziele auf dem Territorium Russlands treffen können. Das würde auch die Beseitigung der Infrastruktur für eine schnelle Stationierung solcher Waffen in Europa sowie Einstellung der Nato-Übungen mit dem Umgang dieser Waffen, in die Nicht-Atomstaaten der Nato einbezogen werden, umfassen. Ohne Beseitigung dieses Reizfaktors ist die Besprechung des Themas nichtstrategische Atomwaffen unmöglich.

– Bodengestützte Kurz- und Mittelstreckenraketen.

Wir betrachten diese Problematik als eine der vorrangigen Richtungen des russisch-amerikanischen Dialogs über strategische Stabilität. Wir denken, dass die angegebene Kategorie der Waffen ein notwendiger Bestandteil des neuen „Sicherheitsformel“, die Russland und die USA zusammen ausarbeiten sollen, ist.

Wir gehen weiterhin von der Aktualität der russischen Initiativen im Post-INF-Bereich aus, deren Grundlage die Ideen der gegenseitig prüfbaren Moratorien für die Stationierung der bodengestützten Kurz- und Mittelstreckenraketen bildet. Wir sind prinzipiell offen zu einer substantiellen Erörterung der Wege ihrer praktischen Umsetzung. Dabei verzeichnen wir die bleibende Uneindeutigkeit bei den Herangehensweisen Washingtons zu den Hauptparametern der potentiellen Kontrollmaßnahmen für angegebene Waffen, vor allem ihre Reichweite, die sich auf alle Mittel mit entsprechender Reichweite in nuklearer und nichtnuklearer Version ausdehnen soll.

Wir haben fixiert, dass die USA das russische Herangehen als Grundlage nehmen, das die gegenseitige Regelung der gegenseitigen Besorgnisse im Kontext des zuvor funktionierten INF-Vertrags vorsieht. Die von der US-Seite vorgeschlagene Variante der Entwicklung unserer Idee über gegenseitige Verifikationsmaßnahmen gegenüber Komplexen Aegis Ashore in Rumänien und Polen sowie einigen Objekten im europäischen Teil Russlands kann im Weiteren durchgearbeitet werden.

Wie in der Erklärung des Präsidenten Russlands, Wladimir Putin vom 26. Oktober 2020 hervorgehoben und anschließend der US-Seite mehrmals mitgeteilt wurde, könnten potentielle Transparenz-Maßnahmen gegenüber den russischen Objekten, die abgestimmt werden sollen, die Kontrolle des Fehlens dort der russischen Rakete 9M729 beinhalten. Man möchte daran erinnern, dass dieser Schritt die Geste des guten Willens angesichts der Tatsache ist, dass die Eigenschaften der Rakete 9M729 den Anforderungen des ehemaligen INF-Vertrags nicht widersprechen, und die USA bislang keine Beweise vorlegten, die die Vorwürfe gegenüber Russland bestätigen würden. Dabei ignorierte die US-Seite die von uns während der Gültigkeit dieses Vertrags am 23. Januar 2019 organisierte freiwillige Veranstaltung zur Vorführung der Anlage und technischen Eigenschaften der Rakete 9M729 und ihrer Startanlage.

– Schwere Bomber und Überwasser-Kampfschiffe.

Es wird die Aufmerksamkeit der US-Seite zur russischen Idee über Zusatzmaßnahmen zur Senkung der Risiken gegenüber Flügen schwerer Bomber nahe nationaler Grenzen der Seiten hervorgehoben. Wir sehen den Gegenstand für Besprechung und das Potential für gegenseitig annehmbare Vereinbarungen.  Wir erinnern an ein nicht weniger wichtiges Element unseres Paket-Vorschlags, das ähnliche Fahrten der Kampfschiffe, mit denen ebenfalls ernsthafte Risiken verbunden sind, betrifft.

– Militärübungen und Manöver.

Die USA gaben keine Antwort auf die Vorschläge, die im Absatz 2 des Artikels 4 des russischen Entwurfs des Vertrags enthalten sind. Die US-Seite geht anscheinend davon aus, dass die Senkung der Spannung im Militärbereich via Erhöhung der Transparenz und Zusatzmaßnahmen zur Reduzierung der Gefahr im Sinne der Vorschläge des Westens zur Modernisierung des Wiener Dokuments erreicht werden kann.

Wir halten solches Herangehen für unrealistisch und einseitig, das auf die “Durchleuchtung“ der Tätigkeit der Streitkräfte der Russischen Föderation gerichtet ist. Die Maßnahmen zur Festigung des Vertrauens und Sicherheit im Rahmen des Wiener Dokuments 2011 sind bezüglich der aktuellen Lage adäquat. Für Beginn der Besprechung der Möglichkeit ihrer Erneuerung sollen die notwendigen Bedingungen geschafft werden. Dazu sollen die USA und ihre Verbündeten auf die Politik der „Abschreckung“ Russlands verzichten und konkrete praktische Schritte zur Deeskalation der militärpolitischen Lage, darunter im Sinne von Absatz 2 des Artikels 4 unseres Vertragsentwurfs unternehmen.

Was die Verhinderung der Vorfälle auf hoher See und im Luftraum darüber betrifft, begrüßen wir die Bereitschaft der USA zu entsprechenden Konsultationen. Doch diese Arbeit kann die Regelung der wichtigsten Probleme, die von Russland gestellt wurden, nicht ersetzen. 

17. Februar 2022”

Antwortschreiben der NATO

  1. Die NATO ist ein Verteidigungsbündnis und stellt keine Bedrohung für Russland dar. Wir haben uns immer für Frieden, Stabilität und Sicherheit im euro-atlantischen Raum eingesetzt und für ein Europa als Ganzes, frei und in Frieden. Dies sind nach wie vor unsere Ziele und unsere bleibende Vision.
  2. Wir sind der festen Überzeugung, dass Spannungen und Meinungsverschiedenheiten durch Dialog und Diplomatie und nicht durch die Androhung oder Anwendung von Gewalt gelöst werden müssen. In Anbetracht der erheblichen, unprovozierten, ungerechtfertigten und anhaltenden andauernden russischen militärischen Aufrüstung in und um die Ukraine und in Belarus fordern wir Russland auf, die Situation unverzüglich in einer überprüfbaren, zeitnahen und dauerhaften Weise zu deeskalieren. Wir bekräftigen unsere Unterstützung für die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine, einschließlich der Krim, innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen. Die Lösung des Konflikts in der und um die Ukraine herum, im Einklang mit den in durch vereinbarte Formate verankerten Minsker Vereinbarungen, würde die Sicherheitslage und die Aussichten auf Stabilität in Europa erheblich verbessern.
  3. Die NATO bleibt den Grundprinzipien und Vereinbarungen zur Untermauerung der europäischen Sicherheit fest verpflichtet. Wir bedauern Russlands Verstoß gegen die Werte, Grundsätze und Verpflichtungen, die es mitentwickelt hat und die den Beziehungen zwischen der NATO und Russland zugrunde liegen. Die NATO-Bündnispartner sind der Auffassung, dass die euro-atlantische Sicherheit zum Nutzen aller am besten verbessert werden kann, wenn alle Staaten bekräftigen, dass sie sich zu den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen, der auf Regeln beruhenden internationalen Ordnung und diesen Instrumenten in ihrer Gesamtheit freiwillig verpflichtet haben: der Schlussakte von Helsinki von 1975, der Charta von Paris von 1990 und der Istanbuler Charta für europäische Sicherheit. Russland trägt die gleiche Verantwortung für die Umsetzung dieser Grundsätze und Instrumente.
  4. Eine stabile und berechenbare Beziehung zwischen der NATO und Russland liegt in unserem gemeinsamen Interesse. Während des NATO-Russland-Rates (NRC) am 12. Januar 2022 hatten wir eine erste Diskussion, in der alle Anwesenden ihre Sicherheitsbedenken zur Sprache brachten. Die NATO-Verbündeten schlugen vor, den Dialog im NRC über Möglichkeiten zur Stärkung der Sicherheit aller fortzusetzen. Die Verbündeten sind bereit, Sicherheitsfragen mit Russland zu erörtern. Unser Dialog müsste auf der Grundlage der Gegenseitigkeit geführt werden, auf den Grundprinzipien der europäischen Sicherheit beruhen und die Sicherheit aller stärken.
  5. In Anbetracht der von Russland vorgelegten Vorschläge zur Sicherheit und unter Berücksichtigung unserer eigenen Bedenken haben die NATO-Bündnispartner Bereiche ermittelt, in denen in wir einen tiefgehenden Dialog konstruktiv eintreten können. Unser Ziel sind konkrete und für beide Seiten vorteilhafte Ergebnisse. Wir unterstützen den Vorschlag des NATO-Russland-Rates, eine Reihe von thematischen Treffen Sitzungen abzuhalten, um den Stand der Beziehungen zwischen der NATO und Russland zu erörtern; die Sicherheitslage in Europa, einschließlich in und um die Ukraine herum, sowie Fragen der Risikominderung, Transparenz und Rüstungskontrolle.
  6. Die euro-atlantische Sicherheit kann durch die Umsetzung folgender Vorschläge verbessert werden:

7. Stand der Beziehungen zwischen NATO und Russland

7.1 Umfassende Nutzung der bestehenden militärischen Kommunikationskanäle, um Vorhersehbarkeit und Transparenz zu fördern, sowie Risiken zu reduzieren.

7.2 Wiederherstellung der gegenseitigen Präsenz von NATO und Russland in Moskau und in Brüssel.

7.3 Bearbeitung des russischen Vorschlags zur Einrichtung einer zivilen Hotline zur Aufrechterhaltung von Notfallkontakten.

8. Europäische Sicherheit, einschließlich der Lage in der und um die Ukraine

8.1 Alle Staaten respektieren und befolgen die Grundsätze der Souveränität, Unverletzlichkeit der Grenzen und territoriale Integrität der Staaten und Unterlassung der Androhung und Anwendung von Gewalt.

8.2 Alle Staaten respektieren das Recht anderer Staaten, Sicherheitsvereinbarungen zu wählen oder zu ändern, und ihre eigene Zukunft und Außenpolitik frei von Einmischung von außen zu entscheiden. Vor diesem Hintergrund bekräftigen wir unsere Verpflichtung für die NATO-Politik der Offenen Tür gemäß Artikel 10 des Washingtoner Vertrages.

8.3 Russland zieht seine Streitkräfte aus der Ukraine, Georgien und der Republik Moldau ab, wo sie ohne Zustimmung des Gastlandes stationiert sind.

8.4 Alle Parteien engagieren sich konstruktiv in verschiedenen Konfliktlösungsformaten, denen sie angehören, u.a. dem Normandie-Format, der Trilaterale Kontaktgruppe, der Internationalen Genfer Diskussion und die 5+2-Gespräche.

8.5 Russland verzichtet auf die Anwendung von Zwangsmaßnahmen, auf aggressive nukleare Rhetorik und bösartige Aktivitäten gegen Verbündete und andere Länder.

9. Risikoverminderung, Transparenz und Rüstungskontrolle. Die Bündnispartner können auf eine lange Erfolgsbilanz in den Bereichen Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung verweisen. Wir sind weiterhin offen für sinnvolle Rüstungskontrollgespräche und einen Dialog mit Russland über gegenseitige Transparenz und vertrauensbildende Maßnahmen, unter anderem durch die folgenden Vorschläge:

9.1 Fortsetzung der Praxis des Austauschs von Informationen über russische und NATO-Übungen im NATO-Russland-Rat mit dem Ziel, die Vorhersehbarkeit und Transparenz zu fördern und Risiken zu verringern.

9.2 Konstruktiver Einsatz für die Modernisierung des Wiener Dokuments in der OSZE;

9.3 Erhöhung der Transparenz von Übungen und Kurzzeitübungen durch Senkung der Schwellenwerte für Benachrichtigung und Beobachtung;

9.4 Verhütung gefährlicher Zwischenfälle militärischer Natur durch verstärkte Transparenz und Bemühungen um Risikominderung.

9.5 Abhaltung gegenseitiger Briefings über die Nuklearpolitik Russlands und der NATO und Ausarbeitung weiterer möglicher gegenseitiger strategischer Maßnahmen zur Risikominderung.

9.6 Beratung über Möglichkeiten zur Verringerung von Bedrohungen für Weltraumsysteme, unter anderem durch Bemühungen zur Förderung eines verantwortungsvollen Verhaltens im Weltraum; und Russland verzichtet auf die Durchführung von Anti-Satellitentests, die große Mengen von Trümmern verursachen.

9.7 Förderung eines freien, offenen, friedlichen und sicheren Cyberspace durch Konsultationen über Möglichkeiten zur Verringerung von Bedrohungen im Cyber-Bereich, indem Bemühungen zur Verbesserung der Stabilität durch Einhaltung der internationalen rechtlichen Verpflichtungen und freiwilligen Normen für verantwortungsvolles staatliches Verhalten fortgesetzt werden; und alle Staaten nehmen von böswilligen Cyber-Aktivitäten Abstand.

9.8 Beratung über konkrete Möglichkeiten zur Verhinderung von Zwischenfällen in der Luft und auf See, um das Vertrauen wiederherzustellen und die Vorhersehbarkeit in der euro-atlantischen Region zu steigern.

9.9 Alle Staaten verpflichten sich erneut zur vollständigen Umsetzung und Einhaltung aller ihrer internationalen Verpflichtungen und Zusagen im Bereich der Verpflichtungen auf dem Gebiet der Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nicht-Weiterverbreitung, einschließlich der vollständigen Umsetzung des Chemiewaffenübereinkommens und des Übereinkommens über biologische Waffen.

9.10 Russland nimmt die Umsetzung des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) wieder auf, kehrt zur Teilnahme an der Gemeinsamen Beratungsgruppe zurück und erstellt die im KSE-Vertrag geforderten detaillierten jährlichen Daten und Informationen.

9.11 In Anbetracht der Besorgnis der Bündnispartner über Russlands staatliches  Rüstungsprogramm, einschließlich seiner Bestände an nichtstrategischen Kernwaffen sowie der wachsenden Anzahl und Typen seiner Mittelstrecken- und Kurzstreckenraketen und Trägerraketen, ist Russland zu ermutigen:

  1. Mit den Vereinigten Staaten über künftige Rüstungskontroll- und Abrüstungsabkommen und -vereinbarungen zu verhandeln, die alle amerikanischen und russischen Kernwaffen betreffen, einschließlich nicht-strategischer Nuklearwaffen, nicht-einsatzbereite nukleare Sprengköpfe sowie alle nuklear bewaffneten Trägerraketen mit interkontinentaler Reichweite.
  2. Mit den Vereinigten Staaten ernsthaft über bodengestützte Mittelstrecken- und Kurzstreckenraketen und deren Trägerraketen als Teil einer breiteren Diskussion zu beraten, auch über nächste Schritte mit allen Bündnispartnern und im NATO-Russland-Rat.

10. Seit mehr als 30 Jahren bemüht sich die NATO um den Aufbau einer Partnerschaft mit Russland. Auf dem Londoner Gipfel von 1990, als sich der Kalte Krieg dem Ende zuneigte, reichte das Bündnis die Hand der Freundschaft und bot Dialog und Partnerschaft anstelle von Konfrontation und Misstrauen an. In den darauf folgenden Jahren schuf die NATO die Partnerschaft für den Frieden, und die NATO und Russland unterzeichneten die NATO-Russland-Grundakte Gründungsakte und gründeten den NATO-Russland-Rat, der nach wie vor einen einzigartigen Rahmen und ein Symbol für die Offenheit des Bündnisses für eine Zusammenarbeit mit Russland ist. Keinem anderen Partner wurde eine vergleichbare Beziehung oder ein ähnlicher institutioneller Rahmen angeboten. Dennoch hat Russland das Vertrauen gebrochen, das den Kern unserer Zusammenarbeit ausmacht, und hat die Grundprinzipien der globalen und euro-atlantischen Sicherheitsarchitektur in Frage gestellt.

11. Wir streben weiterhin eine konstruktive Beziehung zu Russland an, wenn seine Handlungen dies möglich machen. Wir ermutigen Russland, sich an einem sinnvollen Dialog über Fragen zu beteiligen, die für alle Mitglieder des NATO-Russland-Rates von Belang sind, um greifbare Ergebnisse zu erzielen. Die Umkehrung der militärischen Aufrüstung Russlands in der und um die Ukraine herum wird für substantielle Fortschritte von wesentlicher Bedeutung sein.

12. Die NATO sucht keine Konfrontation. Aber wir können und werden keine Kompromisse bei Prinzipien eingehen, auf denen unser Bündnis und unsere Sicherheit in Europa und Nordamerika beruhen. Die Bündnispartner bleiben dem Washingtoner Gründungsvertrag der NATO fest verpflichtet. Washingtoner Vertrag verpflichtet, einschließlich der Tatsache, dass ein Angriff gegen einen Bündnispartner als Angriff gegen alle gilt, wie in Artikel 5 verankert.

Wir werden alle erforderlichen Maßnahmen zur Verteidigung und zum Schutz unserer Verbündeten ergreifen, und wir werden bei unserer Fähigkeit, dies zu tun, keine Kompromisse eingehen.

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