Kitastreik, Friedenspflicht und einstweilige Verfügung

Inhalt:

Der Kitastreik wurde vom Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg wegen angeblichen Verstosses gegen die Friedenspflicht über eine einstweiligen Verfügung verboten. Ein Grund sich etwas genauer mit der Friedenspflicht und einstweiligen Verfügungen gegen Streiks zu beschäftigen.

Es geht um einen Tarifvertrag ‚Pädagogische Qualität und Entlastung‘ für die Berliner landeseigenen Betriebe. Auf die Verhandlungen um diesen Tarifvertrag haben sich die Erzieherinnen und Erzieher lange vorbereitet. Doch sie kamen keinen Schritt weiter. Deshalb beschlossen die Gewerkschaftsmitglieder in einer Urabstimmung mit großer Mehrheit einen Erzwingungsstreik in den landeseigenen Kitabetrieben. Sie wissen, dass sie ihrem Ziel nur so näher kommen können. Man muss das so klar sagen: Sie erkannten, dass sie keine andere Wahl haben.

Allgemein gesprochen: Ohne das Recht auf Streik sind die abhängig Beschäftigten nicht in der Lage, ihre elementarsten Interessen durchzusetzen. Das gilt, wenn es um die Verteidigung der Reallöhne geht, um Arbeitszeitverkürzug oder eben um einen Tarifvertrag, der die pädagogische Arbeit mit den Kindern verbessern und die Erzieherinnen und Erzieher entlasten soll. Tarifverhandlungen ohne Streikrecht sind kollektives Betteln, so das Bundesarbeitsgericht einmal in einer früheren Entscheidung. Die Erzieherinnen und Erzieher hatten erkannt, dass sie mit kollektivem Betteln keinen Schritt weiter gekommen wären.

Und dann wurde dem Streik von der Arbeitsgerichtsbarkeit das Licht ausgeblasen, bevor er überhaupt beginnen konnte. Was ist da geschehen? Wie ist das möglich? Soviel dürfte bekannt sein: Es geht um die Friedenspflicht und eine einstweilige Verfügung. Wir wollen das etwas genauer beleuchten.

Friedenspflicht

Zunächst einmal sei kurz in Erinnerung gerufen, was Friedenspflicht ist: Friedenspflicht ist die Verpflichtung der Gewerkschaften, keinen Streik mit dem Ziel zu führen, Inhalte eines Tarifvertrages während seiner Laufzeit zu ändern. Zur Laufzeit: Sie wird in jedem Tarifvertrag festgelegt; das heißt, dass bis zu einem bestimmten, Tarifvertrag festgelegten Zeitpunkt, dem Ende der Laufzeit, ein Tarifvertrag nicht gekündigt werden darf. Diese Friedenspflicht der Gewerkschaften bezeichnet man auch als relative Friedenspflicht, weil sie sich immer nur auf die Inhalte eines bestimmten Tarifvertrages bezieht. Praktisch geht es immer nur um diese relative Friedenspflicht.

Schon aus der Definition der Friedenspflicht ist erkennbar, dass diese Verpflichtung in aller Regel nur eine Tarifvertragspartei trifft, und zwar die Gewerkschaften.

Nach der herrschenden Meinung soll die relative Friedenspflicht zwingend sein, muss also nicht extra vereinbart werden und soll auch nicht ausgeschlossen oder eingeschränkt werden können.

Der einseitige Charakter der relativen Friedenspflicht wird dadurch verwischt, dass die Friedenspflicht als Gegenleistung der Gewerkschaften für die Leistung der Arbeitgeber dargestellt wird, einen Tarifvertrag mit den Gewerkschaften abzuschließen. Aber wir hatten schon gesagt, dass die Friedenspflicht nicht auf einer Leistung der Arbeitgeber beruht, sondern zwingend für jeden Tarifvertrag gilt. Es geht hier also nicht um einen Leistung des Arbeitgebers, sondern um eine Leistung durch Gesetz.

In Frankreich gibt es keine zwingende Friedenspflicht und trotzdem werden Tarifverträge abgeschlossen – ohne Friedenspflicht.

Die Friedenspflicht ist also eine einseitige Einschränkung des Arbeitskampfrechts zu Lasten der Gewerkschaften. Es gibt kein Grundrecht der Unternehmer, das dem Freiheitsrecht der Gewerkschaften auf Streik entgegensteht und diese Einschränkung rechtfertigen könnte.

An zwei Beispielen soll die Problematik der Friedenspflicht deutlich gemacht werden:

  1. Konkret entstehen die meisten Konflikt um die Reichweite der Friedenspflicht. Das lässt sich an dem Streit um den Kitastreik veranschaulichen. Das Landesarbeitsgericht meinte, aus dem Tarifvertrag der Länder (TV-L) lasse sich eine Friedenspflicht herleiten, die den Gewerkschaften nicht erlaube, für einen gesonderten Tarifvertrag ‚Pädagogische Qualität und Entlastung‘ zu streiken. Dabei zog das Landesarbeitsgericht „Regenerationstage“ heran, deren Aufnahme in den TV-L von ver.di erwartet worden sein soll, die aber nicht in den TV-L aufgenommen wurden. Diese Regenerationstage habe ver.di angeblich jetzt wieder für den geplanten Tarifvertrag ‚Pädagogische Qualität und Entlastung‘ gefordert. Die Regenerationstage seien also ein Streikziel.[1]Aus der Pressemitteilung des Landesarbeitsgerichts: „Ausgangspunkt dieser Vereinbarung sei die von ver.di geäußerte Erwartung gewesen, die Regelungen zur Entlastung von Erzieherinnen und … Continue reading Tatsächlich sind aber für den von der Gewerkschaft geplanten Tarifvertrag ‚Pädagogische Qualität und Entlastung‘ Regenerationstage nicht vorgesehen und irgendeine Regelung zu Regenerationstagen ist im TV-L nicht zu finden. Regenerationstage sind also weder ein Streikziel noch wurden sie im Tarifvertrag der Länder (TV-L) vereinbart. Daraus eine Friedenspflicht herzuleiten, ist geradezu absurd und ganz unvereinbar mit der bisherigen Rechtsprechung.
  2. Ein weiteres Problem der Friedenspflicht ergibt sich daraus, dass bei einem plötzlichen und unvorhersehbaren Inflationsschub die Beschäftigten weniger in der Tasche haben, ohne dass sie das, solange die Laufzeit des Lohntarifvertrages noch nicht abgelaufen ist, durch höhere Lohnforderungen ausgleichen können. Das hat dann schon zu verbandsfreien Streiks geführt, obwohl auch solche verbandsfreien Streiks, also Streiks ohne Aufruf der Gewerkschaften, nach der herrschenden Meinung verboten sind.

Daraus ergeben sich folgende Forderungen zur Bekämpfung der negativen Wirkungen der Friedenspflicht:

  • die relative Friedenspflicht als Grundrechtseinschränkung muss von den Gerichten eng ausgelegt werden,
  • eine zwingende Friedenspflicht ist nicht mit dem Grundrecht auf Streik vereinbar; die Gewerkschaft kann nur Pflichten treffen, die im Tarifvertrag vereinbart wurden;
  • vielleicht gelingt es den Gewerkschaften dadurch Fakten zu schaffen, dass sie dort, wo es sich anbietet, die Friedenspflicht in Tarifverträgen ausschließen oder zuminest einschränken[2]Däubler Das Arbeitsrecht 1, 1998, 15. überarbeitete Neuauflage, Hamburg, S. 170, Rn. 263.

Einstweilige Verfügung

Den Betriebseigentümern – also den privaten Unternehmern oder dem Staat wie im vorliegenden Fall dem Land Berlin – kommt in ihrem Bemühen, einen Streik zu unterbinden, die Möglichkeit entgegen, beim Arbeitsgericht einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zu stellen. Wegen der Kürze der Zeit – es handelt sich ja schließlich um ein Eilverfahren – kann das Gericht den Fall nicht gründlich prüfen. Außerdem gehen diese Eilverfahren nur bis zur 2. Instanz, also bis zum Landesarbeitsgericht. Eine Überprüfung der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts durch das Bundesarbeitsgericht ist im Eilverfahren nicht möglich.

Deswegen werden durch den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zwei Verfahren angestoßen: In einem ersten „Durchlauf“, prüfen und entscheiden die Gerichte im Eilverfahren und vorläufig. In einem folgenden zweiten Verfahren, dem sogenannten Hauptsacheverfahren, wird die erste Entscheidung überprüft und neu entschieden. Es handelt sich um ein ganz normales Gerichtsverfahren. Dieser zweite „Durchlauf“ kann durch drei Instanzen gehen, eine Überprüfung durch das Bundesarbeitsgericht ist also möglich.

Nach dem, was wir über die Eilentscheidung des Landesarbeitsgerichts zum Kitastreik gesagt haben, ist es wahrscheinlich, dass diese Eilentscheidung in dem Hauptsacheverfahren spätestens vom Bundesarbeitsgericht aufgehoben wird und ver.di gewinnt.

Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite haben die Erzieherinnen und Erzieher in den letzten Tagen erlebt: Die vorläufige Entscheidung im Eilverfahren geht sehr schnell – die endgültige Entscheidung im Hauptsacheverfahren kann dagegen sehr lange dauern. Und das heißt konkret: Der Streik wird beendet, bevor er überhaupt beginnen konnte – ein Ende auf eine sehr lange Zeit. Das können zwei Jahre sein. Denn solange die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts nicht endgültig aufgehoben wurde, können die Gewerkschaft nicht erneut zum Streik aufrufen. Das gerichtliche Streikverbot ist mit einem Ordnungsgeld verbunden, das bei jedem Verstoß gegen das Verbot erneut verhängt wird. Die Höhe des Ordnungsgeldes beträgt nicht 250.000 €, sondern in der Regel „bis zu 250.000 €“; es beginnt also in einem niedrigen Bereich und erhöht sich bei jedem weiteren Verstoß.

Am Ende kann sich das Verbot des Kitastreiks durch das Landesarbeitsgericht als Fehlurteil herausstellen und es ist sogar wahrscheinlich, dass das Verbot als Fehlurteil vom Bundesarbeitsgericht kassiert wird. Trotzdem wurde der Kitastreik auf Jahre hinaus unmöglich gemacht. Damit wird deutlich, um was es geht: Ohne den Streik können wir nicht die Verhandlungsmacht aufbauen, die es erst erlaubt, auf Augenhöhe Tarifverträge mit der Gegenseite auszuhandeln. Es besteht jedoch die Möglichkeit, dass dieses Recht auf Streik dadurch ausgehebelt wird, dass die Unternehmer bzw. das Land Berlin im Eilverfahren ein Streikverbot auf lange Zeit durchsetzen können. Zwei Jahre Streikverbot beenden in der Regel jeden Tarifkampf endgültig. Wenn nach zwei Jahren im Hauptsacheverfahren entschieden wird, dass das Streikverbot rechtwidrig war, sind „alle Messen gesungen.“ Das gilt übrigens auch, wenn am Ende in der Hauptsache die Rechtswidirgkeit eines verbotenen Streiks bestätigt wird. Es kommt nach so lange Zeit nicht mehr darauf an.

Mit der Zulassung von einstweiligen Verfügungen gegen einen Streik ist also das Streikrecht massiv gefährdet. Es wird uns die einzige wirksame Möglichkeit aus der Hand genommen, Verhandlungsmacht aufzubauen, um unsere elementaren Interessen durchzusetzen. Das Streikrecht ist ein Freiheitsrecht und Grundrecht. Es kann sogar als die Mutter aller demokrtischen Rechte bezeichnet werden, wenn man bedenkt, dass vor über 100 Jahren am 9. November die erste deutschlandweite Republik durch einen Streik aus der Taufe gehoben und 1 1/2 Jahre später gegen den Kapp-Lüttwitz Putsch durch einen Streik verteidigt wurde. Es kommt also darauf an, dass wir uns dieses Recht nicht nehmen lassen und es stärken.

In den USA führten die angeführten Gründe gegen die einstweilig Verfügung dazu, dass die Abschaffung von einstweiligen Verfügungen gegen Streiks zu einer der wichtigsten Forderungen der Gewerkschaftsbewegungen wurde[3]Däubler Das Arbeitsrecht 1, 1998, 15. überarbeitete Neuauflage, Hamburg, S. 383, Rn. 642 mit Verweis auf M. Reimann „Der Rechtsschutz gegen den politischen Streik in den USA, RdA 1985, S. 34 … Continue reading. Es wurde ein weitgehendes Verbot einstweiliger Verfügungen bei „labour disputes“[4]das sind arbeitsgerichtlichen Streitigkeiten , die sich – im deutschen Sprachgebrauch ausgedrückt – auf die „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ … Continue reading durchgesetzt.

Lässt man weiter einstweilige Verfügungen gegen Streiks zu, so muss die Möglichkeit, einstweilige Verfügungen gegen Streiks zu erlassen, jedenfalls eingeschränkt werden:

  • einstweilige Verfügungen dürfen nur bei Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz eines Arbeitgebers zugelassen werden; bloße finanzielle Nachteile genügen nicht[5]Däubler a.a.O. S. 385, Rn. 645,
  • eine einstweilige Verfügung sollte nur bei offensichtlicher Rechtswidrigkeit verhängt werden dürfen[6]Däubler a.a.O. S. 384 Rn. 643,
  • auch bei einer einstweiligen Verfügung muss das Bundesarbeitsgericht im Eilverfahren die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts überprüfen können.

Für die Abschaffung oder Einschränkung von einstweiligen Verfügungen im Falle von Streiks spricht auch, dass das Bundesarbeitgericht entschieden hat, dass eine grundsätzliche Vermutung generell für die Rechtmäßigkeit von gewerkschaftlich organisierten Streiks spricht[7]BAG AP Nr. 47 zu Art. 9 GG (Arbeitskampf). und dass nach dem Bundesverfassungsgericht eine Bewertung durch die Fachgerichte als rechtswidrig grundsätzlich nur in Betracht kommt, wenn eine Arbeitskampfmaßnahme offensichtlich ungeeignet und unverhältnismäßig ist. Hintergrund ist, das Art 9 Abs. 3 GG die Wahl der Mittel, die eine Koalition zur Erreichung von Streiks für geeignet hält, grundsätzlich ihr selbst überlassen bleibt.[8]BVerfG v. 10.9.2004 – 1 BvR 1193/03 zu B II b Gründe

Es stellt sich natürlich sofort die Frage, wie diese Forderungen durchgesetzt werden können. Ich glaube, hier gilt das, was für das gesamte Streikrecht gilt. Das Streikrecht muss zunächst vielmehr in den Gewerkschaften diskutiert werden. Solche Entscheidungen, wie die des Landesarbeitsgerichts zum Kitastreik, müssen darüber hinaus in der Öffentlichkeit kritisiert, ja auch skandalisiert werden. Sie dürfen nicht einfach hingenommen werden und, daraus abgeleitet, muss eine Änderung des Rechts, eine Änderung der Rechtsprechung verlangt werden.

References

References
1 Aus der Pressemitteilung des Landesarbeitsgerichts: „Ausgangspunkt dieser Vereinbarung sei die von ver.di geäußerte Erwartung gewesen, die Regelungen zur Entlastung von Erzieherinnen und Erziehern in der TV-L aufzunehmen, die ver.di tariflich mit der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände im Jahr 2022 geregelt hatte (TVöD-VKA). Dazu gehörten u.a. eine monatliche Zulage für Erzieherinnen und Erzieher und jährlich zwei Rehabilitationstage. Im Zuge der Tarifverhandlungen mit der TdL sei über die diesbezüglichen Regelungen aus dem TVöD-VKA verhandelt worden. Ergebnis der Verhandlung sei die Aufnahme der Zulagenregelung in den TV-L gewesen, während sich die Gewerkschaft mit den weiteren Punkten nicht habe durchsetzen können. Da alle Regelungen des TVöD-Pakets Gegenstand der Verhandlungen gewesen seien, sei dieses Paket abschließend geregelt worden. Die aktuellen Streikforderungen seien teilweise in diesem Regelungspaket enthalten, nämlich hinsichtlich der Regenerationstage und hinsichtlich der Vorbereitungszeit. Dadurch werde die Friedenspflicht verletzt“ (https://www.berlin.de/gerichte/arbeitsgericht/presse/pressemitteilungen/2024/pressemitteilung.1493394.php).
2 Däubler Das Arbeitsrecht 1, 1998, 15. überarbeitete Neuauflage, Hamburg, S. 170, Rn. 263
3 Däubler Das Arbeitsrecht 1, 1998, 15. überarbeitete Neuauflage, Hamburg, S. 383, Rn. 642 mit Verweis auf M. Reimann „Der Rechtsschutz gegen den politischen Streik in den USA, RdA 1985, S. 34 ff
4 das sind arbeitsgerichtlichen Streitigkeiten , die sich – im deutschen Sprachgebrauch ausgedrückt – auf die „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ beziehen
5 Däubler a.a.O. S. 385, Rn. 645
6 Däubler a.a.O. S. 384 Rn. 643
7 BAG AP Nr. 47 zu Art. 9 GG (Arbeitskampf).
8 BVerfG v. 10.9.2004 – 1 BvR 1193/03 zu B II b Gründe

Arbeitsgericht verbietet Kitastreik – Ver.di will sich wehren.

27/09/2024

Von Benedikt Hopmann

Bild: Ingo Müller

Der Antrag des Senats auf Erlass einer einstweiligen Verfügung hatte in der ersten Instanz Erfolg: Das Arbeitsgericht unterband den Streik, weil die Gewerkschaft noch in der Friedenspflicht stehe. Das Arbeitsgericht führt “bestehende Entlastungsregelungen für Auszubildende” an, die tariflich geregelt seien und die Gewerkschaften nun zur Friedenspflicht zwinge. Doch ein besserer Betreuungssschlüssel, den ver.di jetzt fordert, ist etwas ganz anderes als “Entlastungsregelungen für Auszubildende”[1]. Zur Regelung eines Betreuungsschlüssels gibt es keinen Tarifvertrag, so dass auch keine Friedenspflicht der Gewerkschaft besteht.

Das Arbeitsgericht meinte außerdem, der Senat müsse nicht über einen besseren Betreuungsschlüssel verhandeln, weil er “das Risiko eines Ausschlusses aus der Tarifgemeinschaft der Länder bei einem eigenständigen Tarifabschluss nicht eingehen” müsse[2]. Das Bundesarbeitsgericht hat jedoch mehrfach hervorgehoben, dass für Ziele, die in einem Tarifvertrag regelbar sind, gestreikt werden darf. Ein Tarifvertrag zur Entlastung ist unbestreitbar ein Streikziel, das sich durch Tarifvertrag regeln lässt, und ist damit als Streikziel zulässig. Dagegen hat das Arbeitsgericht einen völlig neuen Maßstab entwickelt, an dem es die Zulässigkeit von Streikzielen beurteilt. Es illegalisiert ein Streikziel, weil es das Risiko enthalten soll, dass der bestreikte Arbeitgeber, das Land Berlin, aus dem Arbeitgeberverband – hier die Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) – ausgeschlossen werden könnte. Der Ausschluss von Mitgliedern aus dem Arbeitgeberverband TdL wird ausschließlich vom Arbeitgeberverband selbst geregelt. Würde davon das Streikrecht der Gewerkschaft abhängen, so könnte der Arbeitgeberverband über diese internen Regelungen, auf die ver.di keinerlei Einfluss hat, bestimmen, ob ver.di streiken darf oder nicht. Einen solchen neuen Maßstab in einem vorläufigen Verfahren, in dem nur summarisch geprüft werden kann, aus dem Hut zu zaubern[3], kann nur als skandalös bezeichnet werden.

Ver.di kündigte an, in die nächste Instanz zu gehen. Der Rechtsstreit ist also noch nicht zu Ende, sondern wird in der nächsten Woche vor dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg fortgesetzt werden.

Ein Problem könnte allerdings im weiteren Verlauf dieses Rechtsstreits eine hohe Bedeutung gewinnen: Diese vorläufigen Verfahren, die zur Vehinderung von Streiks vom Arbeitgeber in Gang gesetzt werden – so wie jetzt durch den Senat geschehen – enden immer nach der zweiten Instanz; im vorliegenden Fall also vor dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg in der nächsten Woche. Das sonst mögliche Rechtmittel – die 3. Instanz – ist in diesen vorläufigen Verfahren versperrt. Es ist also in einem solchen Rechtsstreit unmöglich, Fehlentscheidungen der Landesarbeitsgerichte durch das Bundesarbeitsgericht korrigieren zu lassen. Das kann in solchen Vefahren zu schweren rechtwidrigen Einschränkung des Streikrechts durch die Landesarbeitsgerichte führen.

Die Konsequenz dieses verkürzten Verfahrens kann nur sei sein, dass die Untersagung eines Streiks auf diesem Wege nur sehr eingeschränkt möglich sein darf, nur ein offensichtlich rechtwidriger Streik darf vom Gericht untersagt werden[4]. Sonst werden die Gerichte der hohen verfassungsrechtlichen Bedeutung des Streikrechts nicht gerecht; das Streikrecht ist das wichtigste Instrument der abhängig Beschäftigten zur Verteidigung ihrer Rechte.

Dieser Rechtsstreit entwickelt sich zu einem Kampf um die Verteidigung des bestehenden Streikrechts. Der Kitastreik ist nicht rechtswidrig und schon gar nicht offensichtlich rechtswidrig.

Entscheidung des Arbeitsgerichts: Urteil vom 27.09.2024, 56 Ga 11777/24.

Hier die Pressemitteilung des Arbeitsgerichts Berlin Nr. 18/24 vom 27.09.2024 lesen.

References

↑1https://www.berlin.de/gerichte/arbeitsgericht/presse/pressemitteilungen/2024/pressemitteilung.1489507.php
↑2https://www.berlin.de/gerichte/arbeitsgericht/presse/pressemitteilungen/2024/pressemitteilung.1489507.php; die Tarifgemeinschaft der Länder ist der Verband, mit dem die Gewerkschaften ver.di und GEW bundesweit Tarifverträge abschließen, die sogenannten Flächentarifverträge
↑3“Daneben seien auch verbandspolitische Erwägungen des Landes Berlin von der Koalitionsfreiheit in Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz geschützt, weil das Land als Arbeitgeber berechtigt sei, sich in der Tarifgemeinschaft der Länder zu organisieren. Das Risiko eines Ausschlusses aus der TdL bei einem eigenständigen Tarifabschluss müsse das Land Berlin nicht eingehen”, Pressemitteilung des Arbeitsgericht Nr. 18/24 vom 27.09.2024, siehe https://www.berlin.de/gerichte/arbeitsgericht/presse/pressemitteilungen/2024/pressemitteilung.1489507.php
↑4LAG Köln v. 19.03.2007 Az.: 12 Ta 4107, LAGE Art. 9 GG Arbeitskampf Nr. 7; SächsLAG v. 2.11.2007 Az.: 7 SaGa 19/07, NZA 2008, 59; HessLAG v. 2.5.2003 Az.: 9 SaGa 637/03 Rn. 31. Bundesverfassungsgericht und Bundesarbeitsgericht stehen auf dem Standpunkt, dass eine Bewertung von Arbeitskampfmaßnahmen durch die Fachgerichte grundsätzlich nur in Betracht kommt, wenn eine Arbeitskampfmaßnahmen offensichtlich ungeeignet oder unverhältnismäßig ist (Däubler Arbeitskampfrecht 4. Aufl. § 24 Rn. 43).
Erstveröffentlicht auf widerständig.de
https://widerstaendig.de/ver-di-geht-in-die-zweite-instanz-vorlaeufige-verfahren-eine-grosse-gefahr-fuer-das-streikrecht/

19.07.2024: Der Internationale Gerichtshof zu den rechtlichen Konsequenzen aus der Politik und den Praktiken Israels im besetzten palästinensischen Gebiet, einschließlich Ostjerusalems.

Einleitung:

Im Folgenden veröffentlichen wir eine Gutachten, das der Internationale Gerichtshof am 19. Juli 2924 in englischer Sprache verfasste. RA Benedikt Hopmann hat die Zusammenfassung des Gutachtens in die deutsche Sprache übersetzt (20 Seiten). Das Gutachten verfasste der Internationale Gerichtshof auf Anforderung der Generalversammlung der Vereinten Nationen.

Die beiden Fragen der Generalversammlung, die der Gerichtshof zu beantworten hatte, werden gleich zum Anfang unter CHRONOLOGIE DES VERFAHRENS wiedergegeben.

Das Gutachten ist ein bedeutendes Dokument, weil es die Politik und Praktiken Israels mit aller Klarheit benennt und dazu aufruft, ihnen ein Ende zu setzen.

Die Politik und Praktiken Israels werden unter V. beschrieben. Diese Beschreibung zu lesen, empfehlen wir ausdrücklich. Sie gliedert sich in A. Die Frage der verlängerten Besatzung, B. Die Siedlungspolitik, C. Die Frage der Annexion der besetzten palästinensischen Gebiete, D. Die Frage der diskriminierenden Gesetzgebung und Maßnahmen und E. Die Frage des Selbstbestimmungsrechts

Das Kapitel B. Die Siedlungspolitik ist untergliedert in die Abschnitte: 1. Transfer der Zivilbevölkerung, 2. Beschlagnahmung oder Requirierung von Land, 3. Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, 4. Ausweitung des israelischen Rechts , 5. Zwangsweise Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung und 6. Gewalt gegen Palästinenser.

Aus der Aufzählung dieser Überschriften ergibt sich schon, dass es sich um sehr bedeutsame Themen handelt.

Am Ende folgt der Beschluss des Internationalen Gerichtshofes, der in neun Punkten die rechtlichen Folgen zusammenfasst, die sich aus der Politik und den Praktiken Israels in den besetzten Gebieten ergeben.

Zusammen mit der Klagschrift, die Südafrika Anfang 2024 beim IGH einreichte, und der Entscheidung des IGH dazu im Januar 2024, sowie der Entscheidung des IGH im Mai 2024 aufgrund eines erneuten Antrages von Südafrika, erhält man ein sehr genaues Bild über diesen Konflikt und seine Geschichte.

Das Unrecht, das in den besetzten Gebieten geschieht, ist himmelschreiend. Dass Deutschland einer der größten Unterstützer dieser Politik und Praktiken Israels ist, ist verheerend. Der Internationale Gerichtshof hebt hervor, dass dieser Konflikt ein “Bedrohung für den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit”ist[1].

Zunächst der Beschluss des Internationalen Gerichthofs vom 19. Juli 2024:

DER GERICHTSHOF,

(1) stellt fest, dass er für die Abgabe des beantragten Gutachtens zuständig ist;

(2) beschließt, dem Ersuchen um Abgabe eines Gutachtens stattzugeben;

(3) ist der Ansicht, dass die weitere Präsenz des Staates Israel in den besetzten palästinensischen Gebieten rechtswidrig ist;

(4) ist der Auffassung, dass der Staat Israel verpflichtet ist, seine rechtswidrige Tätigkeit Präsenz in den besetzten palästinensischen Gebieten so schnell wie möglich zu zu beenden;

(5) ist der Auffassung, dass der Staat Israel verpflichtet ist, unverzüglich alle neuen Siedlungsaktivitäten einzustellen und alle Siedler aus den besetzten palästinensischen Gebieten zu evakuieren;

(6) ist der Auffassung, dass der Staat Israel verpflichtet ist, den Schaden für alle betroffenen natürlichen oder juristischen Personen in den besetzten palästinensischen Gebieten wiedergutzumachen;

(7) ist der Auffassung, dass alle Staaten verpflichtet sind, die Situation, die sich aus der unrechtmäßigen Anwesenheit des Staates Israel in den besetzten palästinensischen Gebieten ergibt, nicht als rechtmäßig anzuerkennen und keine Hilfe oder Unterstützung bei der Aufrechterhaltung der Situation zu leisten, die der Staat Israel durch seine fortgesetzte Anwesenheit in den besetzten palästinensischen Gebieten geschaffenen hat.

(8) ist der Auffassung, dass die internationalen Organisationen, einschließlich der Vereinten Nationen, verpflichtet sind, die Situation, die durch die unrechtmäßige Anwesenheit des Staates Israel in den besetzten palästinensischen Gebieten entstanden ist, nicht als rechtmäßig anzuerkennen.

(9) ist der Auffassung, dass die Vereinten Nationen und insbesondere die Generalversammlung, die um diese Stellungnahme ersucht, und der Sicherheitsrat die genauen Modalitäten und die weiteren Maßnahmen prüfen sollte, die erforderlich sind, um die unrechtmäßige Präsenz des Staates Israel in den besetzten palästinensischen Gebieten so schnell wie möglich zu beenden.


Inhaltsverzeichnis


Zusammenfassung des Gutachten vom 19. Juli 2024 (deutsch)

Wortlaut der Zusammenfassung des Gutachtens in deutscher Sprache wird noch veröffentlicht (20 Seiten; die von DeepL maschinell erstellte Übersetzung wurde von RA B. Hopmann überarbeitet, so dass sie gut lesbar ist)

Zusammenfassung des Gutachten (englisch, pdf-Fassung) vom 19. Juli 2024.


Vollständiges Gutachten vom 19. Juli 2024 (PDF-Fassung, engl.)

Wortlaut des vollständigen Gutachten in dt. Sprache: (83 Seiten; dies eine von DeepL maschinell erstellte Übersetzung ist, die nicht weiter überarbeitet wurde)


Sowohl das vollständige Gutachten als auch die Zusammenfassung sind gleich aufgebaut. Daher ist das Inhaltsverzeichnis für das vollständige Gutachten und die Zusammenfassung dasselbe:

Inhaltsverzeichnis: Gutachten

CHRONOLOGIE DES VERFAHRENS 1-21

I. ZUSTÄNDIGKEIT UND ERMESSENSSPIELRAUM 22-50
A. Zuständigkeit 23-29
B. Ermessensspielraum 30-49

II. ALLGEMEINER KONTEXT 51-71
III. UMFANG UND BEDEUTUNG DER VON DER GENERALVERSAMMLUNG GESTELLTEN FRAGEN 72-83
IV. ANWENDBARES RECHT 84-102

V. ISRAELS POLITIK UND PRAKTIKEN IN DEN BESETZTEN PALÄSTINENSISCHEN GEBIETEN 103-243

  1. Überblick 111-114
  2. Transfer der Zivilbevölkerung 115-119
  3. Beschlagnahmung oder Requirierung von Land 120-123
  4. Ausbeutung der natürlichen Ressourcen 124-133
  5. Ausweitung des israelischen Rechts 134-141
  6. Zwangsweise Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung 142-147
  7. Gewalt gegen Palästinenser 148-154
  8. Schlussfolgerung zur israelischen Siedlungspolitik 155-156
  1. Der Begriff der Annexion 158-161
  2. Israelische Handlungen, die einer Annexion gleichkommen 162-173
  3. Das Verbot der gewaltsamen Aneignung von Gebieten 174-179
  1. Der Anwendungsbereich der Frage a) 180-184
  2. Der Begriff der Diskriminierung 185-191
  3. Die Politik der Aufenthaltsgenehmigung 192-197
  4. Beschränkungen der Freizügigkeit 198-206
  5. Abriss von Eigentum 207-222
    (a) Strafrechtliche Abrisse 208-213
    (b) Abrisse wegen fehlender Baugenehmigung 214-222
  6. Schlussfolgerung zu Israels diskriminierenden Rechtsvorschriften und Maßnahmen 223-229

VI. AUSWIRKUNGEN DER ISRAELISCHEN POLITIK UND PRAXIS AUF DEN RECHTLICHEN STATUS DER
BESATZUNG 244-264

A. Der Anwendungsbereich des ersten Teils der Frage (b) und das anwendbare Recht 244-251
B. Die Art und Weise, in der die israelische Politik und Praxis den Rechtsstatus der Besatzung
beeinflussen 252-258
C. Die Rechtmäßigkeit der fortgesetzten Präsenz Israels in den besetzten palästinensischen Gebieten
259-264

VII. RECHTLICHE FOLGEN, DIE SICH AUS DER POLITIK UND PRAXIS ISRAELS UND AUS DER
RECHTSWIDRIGKEIT DER FORTDAUERNDEN PRÄSENZ ISRAELS IN DEN BESETZTEN
PALÄSTINENSISCHEN GEBIETEN ERGEBEN 265-283

A. Rechtliche Konsequenzen für Israel 267-272
B. Rechtliche Konsequenzen für andere Staaten 273-279
C. Rechtliche Konsequenzen für die Vereinten Nationen 280-283


Wortlaut in dt. Sprache: (35 Seiten; dies eine von DeepL maschinell erstellte Übersetzung ist, die nicht weiter überarbeitet wurde)


Am 19. Juli 2024 gab das Gericht  sein Gutachten zu den rechtlichen Folgen ab, die sich aus der Politik und Praxis Israels im besetzten palästinensischen Gebiet, einschließlich Ostjerusalem, ergeben. 


Pressemitteilung vom 20. Januar 2023

Die Generalversammlung der Vereinten Nationen ersucht den Internationalen Gerichtshof in ihrer Resolution A/RES/77/247 über „Israelische Praktiken, die die Menschenrechte des palästinensischen Volkes im besetzten palästinensischen Gebiet, einschließlich Ostjerusalem, beeinträchtigen“, um ein Gutachten.


Beschluss vom 3. Februar 2023

Fristsetzung des IGH für die Vorlage der schriftlichen Stellungnahmen und schriftliche Kommentare von anderen Staaten und Organisationen


Pressemitteilung vom 10. März 2023

Der Gerichtshof ermächtigt die Arabische Liga, am Verfahren teilzunehmen und setztm der Liga eine Frist für ihre Stellungnahme.


Wichtige Dokumente

der Vereinten Nationen zum Thema


Folgende schriftlich Erklärungen

wurden abgegeben: (sie wurden alle in der Zeit von 20.07.2023 – 02.11.2023)


Wortptotokoll der öffentliche Sitzung am Montag, den 19. Februar 2024, um 10 Uhr im Friedenspalast in Den Haag

unter dem Vorsitz von Präsident Salam zu den rechtlichen Konsequenzen, die sich aus der Politik und Praxis Israels im besetzten palästinensischen Gebiet, einschließlich Ostjerusalem, ergeben (Antrag auf Gutachten vorgelegt durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen) und weitere bis 26.02.2024


Pressemitteilung vom 19. Juli 2024 zum veröffentlichten Gutachten des IGH (engl.)

Wortlaut der Pressemitteilung vom 19. Juli 2024 zum Inhalt des veröffentlichten Gutachtens in dt. Sprache:

(6 Seiten; übersetzt in deutsche Sprache; lesbar)

Rechtliche Konsequenzen aus der Politik und Praxis Israels im besetzten palästinensischen Gebiet, einschließlich Ostjerusalem – Das Gericht gibt sein Gutachten ab und antwortet auf die Fragen der Generalversammlung

DEN HAAG, 19. Juli 2024. Der Internationale Gerichtshof hat heute sein Gutachten zu den rechtlichen Folgen der Politik und der Praktiken Israels in den besetzten palästinensischen Gebieten, einschließlich Ost-Jerusalem, abgegeben. Wie erinnerlich, hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 30. Dezember 2022 die Resolution A/RES/77/247 verabschiedet, in der sie den Internationalen Gerichtshof unter Bezugnahme auf Artikel 65 der Satzung des Gerichtshofs um ein Gutachten zu folgenden Fragen ersucht:…


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