Wenn der Verweis auf den Holocaust nicht Staatsverbrechen ächtet, sondern rechtfertigt

Von Wolf Wetzel

Bild: Slaunger, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Der Holocaust wird fast einhellig als einmalig, als einzigartig hervorgehoben. Aber warum wird der Holocaust immer wieder erwähnt, um die Vertreibung von PalästinenserInnen und israelische Besatzung zu legitimieren? Geht es bei diesem Salto rückwärts darum, alles darunter zu etwas ziemlich Gewöhnlichem zu machen?

Die Scho‘ah-Überlebende Ruth Haran aus dem Kibbutz Be’eri sprach im November 2023 von einem „erneuten Holocaust“.

„Der 7. Oktober sollte der israelischen Öffentlichkeit ganz explizit und unmittelbar vermitteln, dass sich ein neuer Holocaust jederzeit wiederholen kann.“ (Deborah Hartmann/Tobias Ebbrecht-Hartmann, taz vom 4.11.2023)

Der Bürgermeister von Metula, David Azoulai, erklärte, dass „der gesamte Gazastreifen leer sein muss. Abgeflacht. So wie in Auschwitz. Möge es ein Museum für die ganze Welt sein, in dem sie besichtigen kann, was Israel tun kann. Niemand soll im Gazastreifen wohnen, damit die ganze Welt das sehen kann, denn der 7. Oktober war in gewisser Weise ein zweiter Holocaust.

Das bestätigte auch der deutsche Generalleutnant der Luftwaffe der Bundeswehr Ingo Gerhartz: „Ich habe in den beiden Tagen, an denen ich hier bin, immer wieder gehört, dass man bei dem, was am 7. Oktober geschehen ist, Parallelen zum Holocaust zieht. Ich kann dies sehr gut nachvollziehen, wenn man die menschenverachtende Brutalität, die Art und Weise, wie Kinder, Frauen und Männer abgeschlachtet worden sind, betrachtet.“ (Jüdische Allgemeine vom 7.11.2023)

Wenn man sich einig wäre, dass der Holocaust tatsächlich einzigartig ist, dann wäre jeder Versuch, ein Ereignis in diese Nähe zu rücken bzw. zu parallelisieren, ein unredlicher Akt. Für gewöhnlich handelt man sich den Vorwurf des Geschichtsrelativismus ein, wenn zum Beispiel Palästinenser ihr Nicht-Leben in Gaza mit dem Holocaust vergleichen.

Wenn dies aber auf „israelischer“ Seite geschieht, dann macht man einmal eine Ausnahme. Warum?

Ein furchtbares Ereignis hat ein Momentum und eine Geschichte

Die erwähnten Deborah Hartmann und Tobias Ebbrecht-Hartmann verweisen in ihrem Essay zu recht auf eine notwendige Kontextualisierung des 7. Oktober, also eine Einordnung, die weit über den einen Tag hinausreichen muss.

Sie schreiben: „Kontextualisierung der Gräueltaten vom 7. Oktober, die nicht in Relativierung mündet, sollte sich zunächst die ideologischen Grundlagen der Hamas und ihrer staatlichen und nichtstaatlichen Unterstützer bewusst machen und diese als solche benennen.“

Diese Aufforderung ist immens wichtig, wenn man sich Ereignisse nicht wie eine Wurst zurechtschneidet. Doch ihre Aufforderung hat eine sehr bewusste Schlagseite: Warum erwähnen sie nicht, dass eine Kontextualisierung des 7. Oktober ebenso verlangt, dass man sich die ideologischen Grundlagen einer Netanjahu-Regierung und ihrer staatlichen und nichtstaatlichen Unterstützer (von Ultra-Orthodoxen, Faschisten und bewaffneten Siedlern) bewusstmacht und diese als solche benennt?

Der sehr verständliche Wunsch, Unerträgliches einzuordnen

Ich frage mich sehr oft, wie ich die Bilder aushalte, die ich seit Wochen aus Gaza sehe, sehen muss? Und immer wieder bemühe ich meinen Verstand, mit der Bitte, das einzuordnen, damit diese Bilder und Eindrücke nicht haltlos durch meine Seele torkeln.

Dann frage ich mich, wie israelische Soldaten einen solchen Krieg führen können, ohne selbst dabei zu sterben, kaputtzugehen. Damit meine ich nicht eine feindliche Kugel oder eine Rakete. Man weiß aus den vorangegangenen Kriegen, dass israelische Soldaten selten sterben und so gut wie immer siegen.

Ich meine das innere Sterben, das erleiden, was man nicht dem Feind antut, sondern den Kindern, den Frauen, den Großeltern, also den meisten, die in diesem Krieg in Gaza sterben.

Das kann kein 7.Oktober, kein einer Tag erklären.

Aber vielleicht ist es der Holocaust, also das, was an Erzählungen, Erinnerungen und Gefühlen übrigbleibt, bei den Israelis, die heute leben und in Gaza das „Selbstverteidigungssrecht“ ausüben, seit über drei Monaten und dabei wesentlich mit sich selbst kämpfen.

Vielleicht ist es genau diese Erinnerung, die ständig wachgehalten wird, um das zu rechtfertigen, was seit drei Monaten geschieht. Man ruft das aller Schlimmste wach, um das Schlimme zu tun. Man ruft das Einmalige wach, um das zu tun, was dann ja etwas Anderes ist.

Dann kann man fast alles tun

Vor ein paar Tagen drang die Nachricht rinnsalartig zu uns durch, nachdem sie auf ausländischen Sendern verbreitet wurde, dass am 29. Februar 2024 ein UN-Hilfskonvoi in Gaza von Palästinenser geplündert worden sei und dass die Fahrer aus Angst die Menschen überfahren hätten.

Dazu zeigte man eine Drohnen-Sequenz der israelischen Propagandaabteilung, die sofort verfügbar war. Man sieht aus großer Höhe Hunderte von Punkten, die sich bewegen. Dazwischen sieht man in Umrissen LKW’s. Dann ist diese Sequenz zuende. Das sollte beweisen, dass die israelische Armee an den über 100 Toten nicht schuld sei.

Die öffentlich-rechtlich-privaten Anstalten stellten diese Militärversion nicht in Frage. Man war dankbar für diese Erklärung.

Man wollte damit ohne moralische Skrupel sagen, dass die Palästinenser an allem, also auch daran selbst schuld sind.

Erst lassen sie sich einschließen. Dann flüchten sie in ihrem eigenen Gefängnis. Dann hungern sie und jetzt plündern sie auch noch und werden Opfer ihrer eigenen Gier.

Mehr moralische Verwahrlosung auf Seiten der Kriegstreiber und Kriegsertüchtiger geht kaum.

Wie bei fast allen Kriegslügen war dies recht leicht zu widerlegen. Das merkt man daran ganz schnell, wenn Gewissheiten alle paar Tage neu angepasst werden. Als unbestreitbar war, dass israelische Militärfahrzeuge in unmittelbarer Nähe waren, erklärte man, dass man – zum Schutz des UN-Hilfskonvois – Warnschüsse in die Luft abgegeben habe. Das stimmt nur dann, wenn Palästinenser für israelische Militärs Luft sind.

Die Ärzte, die noch in Gaza sind, berichten von zahlreichen Schussverletzungen. Und es gibt auch Filmszenen, wo man klar und deutlich Schüsse hört, in unmittelbarer Nähe zu den UN-Lastwagen.

Die Washington Post gehört zu wenigen Zeitungen, die nicht nur israelische Militärnachrichten weiterreichen, sondern – soweit dies geht –selbst recherchieren. Am 1. März 2024 veröffentlichten sie ihren Bericht:

„Verzweiflung und Tod umgeben eine Hilfslieferung im nördlichen Gazastreifen. Es war der Hunger, der Ibrahim al-Rifi am Donnerstag um zwei Uhr morgens aus seinem Haus in Gaza-Stadt vertrieb. Es war Monate her, seit er im vom Krieg zerstörten nördlichen Gazastreifen Brot für seine Frau und seine Töchter finden konnte. Mehl wurde für fast $ 1.000 pro Beutel verkauft, und selbst das Tierfutter, an das sich viele gewandt hatten, ging zur Neige. Einige Leute essen Gras, haben die Vereinten Nationen gesagt. (…) ‚Ich ging, um ihnen Essen zu bringen, und kehrte mit Tod und Blut beladen zurück‘, sagte Rifi.

Dieser Bericht über die Tragödie basiert auf 12 Interviews mit Augenzeugen, Ärzten, Helfern sowie israelischen Militär- und UN-Beamten. Darüber hinaus Analyse von Dutzenden von Videos, einschließlich eines bearbeiteten Videos, das von den israelischen Streitkräften veröffentlicht wurde, zeigt, dass Menschenmengen rannten und sich duckten, während leblose Körper in der Nähe von zwei israelischen Panzerfahrzeugen auf der Straße lagen.“

Es geht nicht um das Überleben der Menschen in Gaza

Wer „Washington Post“ hört, verbindet damit angenehme Erinnerungen. Sie war es, die die „Watergate-Affäre“ in den 1970er Jahren in Gang setzte, um die fortgesetzte Kriegsführung unter US-Präsident Nixon gegen Vietnam und alle nationalen, parlamentarischen und internationalen Gesetze anzuprangern.

Doch die Washington Post ist nicht mehr die Alte. Sie hat nur überlebt, weil sie für schlappe 250 Millionen US-Dollar aufgekauft wurde. Der Mann mit einem laut Forbes geschätzten Vermögen von rund 200 Milliarden US-Dollar hat sie eingesteckt: Der Amazon-Gründer Jeff Bezos, ein Jo Biden Fan.

Wenn also diese neoliberale Zeitung eines Milliardärs diese Recherche macht, dann geht es nicht um Gaza, sondern um US-Innenpolitik, um das Überleben der Jo Biden Regierung. Sie ist materiell von Milliardären und Millionären abhängig und parlamentarisch von Millionen Stimmen von „schwarzen“ und „braunen“ Stimmen. Von alle den Menschen, die eine Kolonialgeschichte haben und dies nicht vergessen.

Und um diese Stimmen geht es, wenn im November 2024 in den USA gewählt wird. Wenn Jo Biden gegen Trump gewinnen will, muss er diese Stimmen gewinnen.

Nur deshalb liefert die jetzige US-Regierung Waffen an Israel, um den Krieg gegen Gaza fortzusetzen und Hilfslieferungen per Fallschirm, um Stimmen im eigenen Land einzufangen.

Diese Doppelzüngigkeit ist nicht neu. Sie passiert jetzt nur gleichzeitig: Die israelische Armee töten mit dem Geld der US-Regierung Hungernde und obdachlose Menschen in Gaza und die US-Regierung wirft Zelte und Nahrungsmittel ab, um sich selbst zu retten.

Über Tier- und Untermenschen

Aber was treibt israelische Soldaten dazu, Kinder, Frauen, Männer zu ermorden, die dem Verhungern für ein paar Tage entkommen wollen?

Was treibt eine Militärführung an, dieses Vorgehen zu decken und das Bild von den „Tiermenschen“, das sie selbst in die Welt gesetzt haben, zu füttern? Ein Bild, das nah am „Untermenschen“ steht.

Was machen die israelischen Soldaten, nachdem sie Hungernde erschossen hatten? Umarmen sie ihre Kinder? Essen sie gut und ausgiebig zusammen zu Abend. Bekommen die Kinder noch einen Gutenachtkuss?

Dass es in einem Krieg auch, also auch dazu kommen kann, dass versehentlich Zivilisten getötet werden, ist Bestandteil eines Krieges, wenn man alles daransetzt, dass die „Lösung“ ein Krieg ist.

Aber diese Situation am 29.2.2024 hat nichts mit einem außer Kontrolle geratenen Kriegsgeschehen zu tun. Sie ist die Umsetzung dessen, was einige in der israelischen Regierung laut und unmissverständlich angekündigt hat: Die Auslöschung von Gaza.

  • „Es ist ein ganzes Volk, das verantwortlich ist … Wir werden kämpfen, bis wir ihr Rückgrat brechen.“ (Präsident Jitzchak Herzog am 14. Oktober 2023)
  • Es wird keinen Strom geben, keine Lebensmittel, keinen Treibstoff, alles ist geschlossen. Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und wir handeln entsprechend.“ (Verteidigungsminister Yoav Gallant am 9. Oktober 2023)
  • „Ich möchte der Welt sagen, was man über mich in Israel längst weiß: Gaza ist mir egal. Gaza ist mir im wahrsten Sinne egal. Sie können im Meer schwimmen gehen.“ (May Golan, Ministerin für die Förderung des Status von Frauen von Israel, am 13. Oktober 2023 im Interview mit ILTV)

Was nach der ethnischen Säuberung und der Zerstörung kommen soll, ist auch kein Geheimnis. Wenn es nach dem israelischen Finanzminister und Faschisten Bezalel Smotrich geht, der sich selbst als „faschistischer Schwulenhasser“ (https://archive.is/mFUoh)“ bezeichnet und die Existenz der Palästinenser leugnet, sagte am 1. Februar 2024, dass die Erlaubnis humanitäre Hilfe nach Gaza zu lassen gegen die Ziele des israelischen Krieges verstößt: „Ich habe diesbezüglich mit Netanjahu gesprochen und das wird sich bald ändern.“ (https://twitter.com/QudsNen/status/1752959438128927207)

Dem schließt sich eine post-palästinensische „Vision“ an: Er präsentierte den Plan zum Bau von 7.000 Siedlungsprojekten in Gaza.

Bis heute ist von denen, die beständig und beliebig auf den Holocaust verweisen, nichts gekommen, was diese einflussreichen Worte und die daraus folgenden Taten charakterisiert.

Wenn das, was an einem Tag, am 7. Oktober 2023 in Israel passiert ist, das Massaker an Zivilisten und die Geiselnahme von etwa 150 Zivilisten, ein „zweites Holocaust“ ist, dann stellt sich die Frage, wie man die folgenden fünf Monate im besetzten Gaza, mit der fast kompletten Zerstörung der zivilen Infrastruktur, mit dem bewussten Aushungern der Bevölkerung, mit dem über 30.000 ermordeten Menschen in Gaza, mit den über 1,5 Millionen Menschen auf der Flucht (ohne Fluchtmöglichkeiten) … wie man das in die Geschichte der Völkermorde einordnet?

Quellen und Hinweise

UN-Gedenken. 7. Oktober als Wiederholung des Holocaust, Israelnetz vom 30. Januar 2024: https://www.israelnetz.com/7-oktober-als-wiederholung-des-holocaust/

Einfach weitermachen ist unmöglich. Seine genozidale Botschaft unterscheidet den 7. Oktober von früheren Angriffen auf Israel: Sie steht in direktem Zusammenhang mit dem Holocaust: https://taz.de/Essay-zum-Angriff-der-Hamas/!5967960/

Desperation and death surround an aid delivery in northern Gaza, washingtonpost.com vom 1.3.2024: https://www.washingtonpost.com/world/2024/03/01/gaza-aid-delivery-stampede-shots/

Ist der Gazastreifen ein Konzentrationslager? Wolf Wetzel, 2024: https://wolfwetzel.de/index.php/2024/02/21/der-krieg-der-israelischen-armee-in-gaza-besiegt-nicht-den-terror/

Ein wütender Kommentar von Ana Kasparian zu dem mörderischen Angriff auf hungernde Menschen in Gaza vom 1.3.2024 im Kanal „The young turks“: https://www.facebook.com/PalestinianStreetNews/videos/792421562904074

Erstveröffentlicht im Overton Magazin
https://overton-magazin.de/kolumnen/kohlhaas-unchained/wenn-der-verweis-auf-den-holocaust-nicht-staatsverbrechen-aechtet-sondern-rechtfertigt/

Wir danken dem Autor für das Publikationsrecht.

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