Wo bleibt die Demokratie? Im Schweinestall ist sie unmöglich. Das wird sich unter Merz nicht ändern.
Von Hans-Peter Waldrich
Bildcollage: Jochen Gester
Freilich kann gefragt werden, ob Deutschland ein Schweinestall ist. Nur weil sich „schweinisch“ auf „rheinisch“ reimt? Mit diesem Spruch gemeint war jene radikale Wende, die ab Ende der 1970-Jahre alle „westlichen Demokratien“ ergriff und in Deutschland das „Soziale“ an der dortigen Marktwirtschaft zunehmend abräumte. Der Kapitalismus warf seinen Schafspelz ab und zeigte wieder erkennbar, dass der Wolf Zähne hat und Beute macht. Nicht nur in Bonn am Rhein.
Überall gelang es dem Geldadel, seine Vorrechte rücksichtsloser durchzusetzen und soziale Zugeständnisse deutlicher zurückzufahren. Kaum mehr kaschiert wurde die Tatsache, dass sich der Kapitalismus, basierend auf den Privilegien der Eigentümer, in der Art eines modifizierten Feudalsystems nun nicht mehr zu verstecken brauchte.
Seitdem gilt, was der auf Sozialpolitik spezialisierte Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge so ausdrückt: Entstanden sei ein System, „das brutale Ausbeutung, drastische Entrechtung der Beschäftigten, systematisches Lohn- und Sozialdumping, skrupellose Leuteschinderei und massenhafte Tierquälerei durch eine kleine Gruppe von Millionären und Milliardären, die eng mit Exponenten des politischen Regierungssystems verbunden sind, kaum Grenzen setzt.“
Ich gehöre zu jenem städtisch-akademischen Milieu, das eigentlich bevorzugt die Grünen wählt und solche Tatbestände vorwiegend ignoriert. Von der Not jenes DHL- Boten, der an meiner Türe eilig Buchsendungen abliefert, spüre ich selbst recht wenig. Bei guter Pension lebe ich mehr oder weniger in freiwilliger Armut, weil ich – wer weiß warum – nur sehr wenig zum Leben brauche. Zwei kleine Zimmer, ein wenig Garten, kein Auto, keine Aktien, keine Rentner-Kreuzfahrten rund um die Welt. Ich weiß ja, dass das letzte Hemd, auch meines, keine Taschen haben wird. Gehe ich wählen oder äußere politische Meinungen, ist klar, dass dies nichts mit irgendwelchen Geldinteressen zu tun hat. Insofern bin ich untypisch für die Demokratie im Kapitalismus.
Einflusslos in der „Demokratie“
Andererseits ist mir klar: Politisch bin ich völlig einflusslos. Ob es mich gibt oder nicht – die Politik geht ihren Gang. Es geht mir wie den anderen Einflusslosen um mich herum. Ab und zu malen sie ein bedeutungsloses X in einen der kleinen Kreise rechts auf den Stimmzetteln und beobachten anschließend, dass die Macht wieder dort gelandet ist, wo sie, der politischen Schwerkraft folgend, hinzugehören scheint: In den Händen derer, die sie offensichtlich gepachtet haben.
Wie kommt das?
Dramatische Umverteilung
Unterdessen scheint mir eine solche Frage naiv zu sein. Zunehmend und für jedermann offensichtlicher liegt die Antwort auf der Hand. Ich verzichte hier darauf, die dramatische Umverteilung von Einkommen und vor allem der Vermögen von unten nach oben in Zahlen darzustellen. Eher willkürlich greife ich eine Gegenüberstellung heraus, die ebenfalls Christoph Butterwegge anführt: Das Privatvermögen der reichsten Bundesbürger übersteigt das monatliche Einkommen deutscher Grundsicherungsempfänger um beinahe das 100-Millionen-Fache. Wer mehr über die Verteilung von Einkommen und Vermögen auch weltweit wissen will, der google die Oxfam-Berichte, die sich mit diesem Thema befassen.
Wie ist Demokratie unter solchen Bedingungen überhaupt nur denkbar? Ich weiß, es existiert die Behauptung, das demokratische Ideal sei schon dann erreicht, wenn es möglich sei, unter den konkurrierenden Eliten die eine abzuwählen und der anderen die Macht zu übergeben. Ein Beispiel könnte jener Elitenaustausch sein, der 1998 stattfand. Damals machte ich mein Kreuzlein bei der SPD, denn ich erlag einer Nostalgie, die mir immer noch vorgaukelte, die SPD sei eine soziale, eine demokratische, also eine sozial-demokratische Partei.
Anschließend schwor ich mir, nie mehr so dämlich zu sein. Denn die neue (nun „sozialdemokratische“ und auch „grüne“) Elite hatte sich bereits entschlossen, die Interessen der alten Elite schlicht zu übernehmen, sie aber effektiver zur Geltung zu bringen. Das hieß damals: die neoliberale Revolution konsequent gegen die Bevölkerung durchzusetzen. In Kooperation mit parallelen Vorgängen in Großbritannien, sorgte die neue (Schröder-) Regierung dafür, dass die Gewinne oben und die Verzichte unten den „Standort Deutschland“ aufpäppelten. Nun nicht mehr als konservative Maßnahme, sondern als eine „sozialdemokratische“. Aufschluss darüber gibt etwa das sogenannte Schröder-Blair-Papier, in welchem dieser Plan im Einzelnen dargestellt wurde.
Mehr Demokratie wagen?
Schröders Maßnahmen waren das Gegenprogramm zu Willy Brandts Ansage bei dessen Regierungsantritt 1969: „Mehr Demokratie wagen“. Es kann keine Rede davon sein, dass Brandts optimistische Ankündigung jemals realisiert worden wäre. Doch was hätte eine Umsetzung bedeutet? Demokratie, verstanden als Volks- und nicht als Elitenherrschaft, verlangt Räume der allgemeinen Teilhabe und Teilnahme. Da reicht das Kreuzleinmalen nicht mehr.
Überall, wo Organisationen Entscheidungen fällen, die machtförmig das Leben der Menschen beeinflussen, sollten solche Räume existieren. Basis wäre eine demokratisch organisierte Bildung. Bereits auf den Schulen würde Demokratie praktiziert und eingeübt. Vor allem würden demokratische Strukturen dort herrschen, wo die meisten Menschen die längste Zeit ihres Lebens verbringen, nämlich in der Arbeitswelt, der Wirtschaft. Als Sozialdemokraten noch Sozialdemokraten waren, nannten sie das Wirtschaftsdemokratie.
Worum es dabei geht, will ich als Frage formulieren: Wäre es zumindest vorstellbar, dass sich die politische Teilhabe der Staatsbürger nicht nur auf die Auswahl zwischen zwei, maximal drei elitären Cliquen oder Clans beschränkt? Also nicht bloß auf den Wechsel von Personal, das sich im Hinblick auf Grundfragen wie ein Ei dem anderen gleicht? Soziale Demokratie, Sozial-Demokratie könnte bedeuten, dass die Menschen eines Landes direkten Einfluss auf allen Ebenen und in allen gesellschaftlichen Bereichen haben. Sich also tagtäglich in einer demokratischen Welt befinden und nicht bloß am Wahltag.
Ganz offensichtlich ist es, dass eine in diesem Sinn soziale Demokratie im Gegensatz zur kapitalistischen Realität steht. Wo die kollektiven Arbeitsergebnisse und die öffentlich finanzierten Leistungen in ihren Resultaten überwiegend von einem winzigen Geldadel abgeschöpft werden, da ist alles „Soziale“ bereits vordefiniert: Das Zusammenspiel der Menschen in einer Arbeitsgesellschaft hat der Produktion von privatem Reichtum zu dienen. Das schließt nicht aus, dass unter günstigen Umständen auch die Masse der Lohnabhängigen ein wenig davon zu sehen bekommt. Sei es durch „Sozialpolitik“ oder durch – meist nur vorübergehendes – Ansteigen der Löhne und Gehälter.
Beispiel Deutsche Bahn
Wir alle leiden unter der mentalen Einschränkung, dass wir uns jenseits des Kapitalismus nichts mehr vorstellen können. Dass die Menschheit die längste Zeit über ohne Kapitalismus klarkam und ihn eines Tages vielleicht abgeschafft haben wird, liegt jenseits auch der kühnsten Träume der allermeisten.
Daher ein Beispiel: Die Deutsche Bahn wurde einst hochgradig mit Steuermitteln funktionsfähig gemacht. Sie war als öffentliches oder anders gesagt als soziales Eigentum gedacht. An diesem Punkt hätte man die innere Struktur der Deutschen Bahn nach demokratischen Grundsätzen organisieren können, etwa in der Weise einer gemeinnützigen Genossenschaft. So etwas wie ein „Volksbahn“ bzw. eine Bürgerbahn wäre entstanden. Mit dem schlichten Auftrag, die Menschen pünktlich und sicher von A nach B zu transportieren. Niemandem hätte sie einen besonderen Reichtum bescheren müssen.
Stattdessen und als Folge der neoliberalen Wende sollte die Bahn an die Börse gebracht werden und in Form von Aktien in die Hände von Rentiers gelegt werden, Geldleuten, die sich für pünktlichen Transport kaum interessieren, stattdessen aber für hohe Gewinne. Dem Reichtum wollte man zuschustern, was man der Gesellschaft, den Staatsbürgern und damit dem Allgemeinwohl entzog. Kein eigentlich demokratischer Vorgang, sondern eine Zwangsumverteilung.
Oft stehe ich fluchend auf den Bahnsteigen und preise mich glücklich, wenn der Zug, den ich nutzen wollte, überhaupt irgendwann einläuft. Ab und zu ruft mir ein Kundiger, der ebenfalls im Bahnchaos herumirrt, den Namen „Mehdorn“ zu. Bei rund sechs Millionen jährlicher Entlohnung hatte dieser unfähige Manager aber lediglich jene Ideologie bedient, die von einer Regierung aus SPD und Grünen an ihn herangetragen wurde. Alles Öffentliche ist von Übel, gut ist nur das „Private“. Deshalb – diese Devise ist nicht totzukriegen – mehr Markt, „mehr Kapitalismus wagen“ (so der Titel einer Veröffentlichung von Friedrich Merz). Wäre ja auch überraschend, wenn die zurzeit neue Elite einen grundsätzlich anderen Kurs fahren würde als die vorhergehende. (Was nicht heißt, dass die Bahn nun wirklich an die Börse kommt).
Das Oberschweinische
Nun zum Schweinischen und gewissermaßen dem Oberschweinischen, um noch einmal das Bonmot zu bemühen. Der „rheinische“, also der sozial etwas gedämpfte Kapitalismus ist schon lange durch die marktradikale Wende ersetzt worden. Und wieder einmal kommt ein Signal aus den USA. Weshalb nicht die Masken vollends fallen lassen? Die Inbesitznahme des Staates durch den Hyper-, den Überreichtum ist jenseits des Atlantiks vollzogen worden, also durch jene Teil-Elite, die entdeckt hat, dass Demokratie und Rechtsstaat nur insoweit benötigt werden, als sie die Bereicherungschancen verbessern und schützen.
Auch hier geschieht nichts unbedingt Neues: die neue Elite posaunt nur lauter heraus, was auch der alten schon maßgebend war und ist bereit, dafür auch die Verfassung auszuhebeln. Legitimation, Zustimmung zu solchen Raubzügen kann durch die Bewusstseinsindustrie erzeugt werden. Was die meisten meinen und in Wahlentscheidungen kundtun, wird nicht dem Zufall überlassen, sondern im Umfeld der Herrschaftseliten von der Heerschar der Günstlinge und Mitprofiteure medial erzeugt. Die Kreuzleinmaler hat man im Griff.
Nun wundern sich viele, dass die Clique rund um Donald Trump Sympathien für Russland hegt und damit die USA irgendwie die Fronten wechseln. Dabei war Russland praktisch der Testdurchlauf für den Übergang des Kapitalismus in seiner pseudodemokratischen Form zu seiner oberschweinischen Version. Putins Macht beruht auf den Ergebnissen einer wirtschafts- und sozialpolitischen Umwälzung, durch die öffentliches Eigentum ausgeplündert wurde, um es durch „Privatisierung“ einer Handvoll von Oligarchen zuzuschustern. Natürlich bleibt privatisiertes Gemeineigentum auch anschließend von öffentlicher Relevanz, aber es kann gegen den demokratischen Zugriff der Vielen besser verteidigt werden.
Das neu-alte Monster im Osten, von dem wir uns – glaubt man unserer Propaganda – so großartig positiv abheben, ist also auch von uns selbst mit aus der Taufe gehoben und großgezogen worden. Einfach weil wir ihm jene DNA einpflanzen halfen, die wir als unentbehrlich auch für unsere eigene Lebensweise betrachten: den Plünderungskapitalismus. Man befasse sich etwa mit jenen Vorgaben, die der Internationale Währungsfonds (IWF) an seine Kreditvergaben knüpfte und die auch Russland gegen alle soziale Vernunft akzeptieren musste. Sparen unten, Renditen oben! so schlagwortartig diese Erwartung.
Schweinische Feinbilder
Aber damit des Schweinischen nicht genug. Jede autokratische Herrschaftsweise verlangt nach einer Herrschaftsideologie, die die eigentlichen Ziele der Machthaber schönredet und verhüllt. Da links-kritische Legitimationen ausfallen, bieten sich Nationalismus, Ethnozentrismus und geschürte Xenophobie an. So etwas wie MAGA klingt in den Ohren der sozial Gebeutelten immer gut. Ego-Massage durch Identifikation mit irgendwelchen großartigen Nationen, Ethnien oder Religionen ersetzt demokratische Teilhabe vollkommen.
Sofern zusätzlich Sündenböcke verfolgt werden können – neben den Flüchtlingen Schwule, Transgeschlechtliche oder Abtreibungsbefürworterinnen – ist dem Drang nach Bestrafung Schuldiger genüge getan. Juden kommen freilich auch infrage. In einem nächsten Schritt lenken außenpolitische Abenteuer, Kriege vor allem, besonders wirksam von den anstehenden Plünderungen ab – ein uraltes Rezept.
Während oben also die Renditen sprudeln und im Umfeld der Korruption der Rubel rollt, darf das Fußvolk sich insofern mitgenommen fühlen, als es am großartigsten Neuanfang teilnimmt, den die Weltgeschichte je gesehen hat. Verkündet wird: Nun sei die Demokratie auf ihrem Gipfel, weder durch kleinliche Richter noch durch dämliche Intellektuelle bekrittelt oder gebremst. Parlamente tun tendenziell weiterhin, was sie zuvor schon gerne taten: sie bestätigen den Kurs der begnadeten Machthaber.
Ich vermute, dass hierzulande und in Europa auch sonst verbreitet das Feindbild Russland eine wichtige Funktion übernehmen wird: nämlich ideologisch davon abzulenken, dass man sich selbst immer weniger von dem bekämpften System im Osten unterscheidet. Auch der Kalte Krieg pflegte Todfeindschaften, obgleich die sogenannte Konvergenztheorie zeigen konnte, wie sehr sich die verfeindeten Systeme in West und Ost einander anglichen.
Aber die Transatlantiker müssen umdenken. Unter Ausblendung der Kapitalismusfrage haben sie das US-System idealisiert. Natürlich werden sie in ihrer Beschränktheit nur erkennen können, dass die Trumpianer eine falsche Weltsicht haben, verkehrte Auffassungen vertreten und dass nun vielleicht auch Trump der Demenz verfällt. Verborgen wird ihnen bleiben, dass es sich nicht um die zufällige Demenz eines einzelnen, sondern um ein System, nämlich eine Art politische „Maschine“ handelt, die den Trumpismus hervorbringt: nämlich um eine Aneignungsmaschine, die sich als Demokratie ausgibt. Ihr Zweck, ihre Konstruktion läuft darauf hinaus, dass gewissermaßen unter der Hand dasjenige, was dem demokratischen Prinzip nach allen gehört, im Portefeuille der Wenigen landet.
Und Deutschland?
In Deutschland sind wir vom Eintreten des „Oberschweinischen“ noch ein Stück weit entfernt. Sobald aber ein Milliardär oder jemand, der von Milliardären unterstützt wird, beginnt, MAGA-Sprüche zu klopfen, die Gerichte anzugreifen oder die allemal zur Anpassung neigenden Medien vollends unter die staatliche Knute zu zwingen, ist Alarmstufe rot angesagt.
Vielleicht begreifen dann endlich jene, die auf Demonstrationen die Demokratie verteidigen, was hier Thema ist. Thema ist nicht so sehr die undemokratische Einstellung etwa von AfD-Wählern. Ob alle hier betroffenen zehn Millionen wirklich keine Demokratie wollen oder nicht eher eine wirkliche Demokratie, lässt sich begründet fragen. Thema ist, dass wir uns (strukturell gesehen!) im Getriebe einer Aneignungsmaschine befinden, die extreme Machtungleichgewichte schafft und den vom System her Privilegierten die Möglichkeit zuspielt, auf den demokratischen Firlefanz schließlich auch offiziell zu verzichten.
Mich tröstet ein wenig, dass Black-Rock-Merz zwar reich, aber nicht wahnsinnig reich ist und den Hyper-, also Überreichen als armer Schlucker vorkommen muss. Da seine Lebens- und Erfahrungswelt freilich eine völlig andere ist, als die der großen Mehrheit in diesem Land, mag er der stillen Überzeugung sein, dass deren Interessen eigentlich diejenigen von Losern sind, die man mit geeigneten Sprüchen ruhigstellen und nicht weiter berücksichtigen sollte.
Erstveröffentlicht im Overton Magazin v. 21.5. 2025
https://overton-magazin.de/hintergrund/politik/vom-rheinischen-zum-schweinischen-kapitalismus/
Wir danken für das Publikationsrecht.