Gewalt, Zensur und Spitzeltum florieren
Die Berichterstattung in deutschen Medien über die politische Situation der kriegserschütterten Ukraine gleicht inzwischen der Karikatur eines liberalen Journalismus. Sie sind mit nur wenigen Ausnahmen bereit, Kriegspartei zu sein und so fällt dann auch die Beurteilung der Verhältnisse aus. Zur öffentlich-rechtlichen Medienwelt gesellt sich mittlerweile in immer größerem Umfang eine von Konzernen in den sozialen Medien und auf öffentlichen Sreens betriebene Berichterstattung, die noch direkter das Interesse der Kriegsprofiteure bedient. Journalisten wie Günther Gaus, Klaus Bednartz oder Dieter Gütt, die lange für einen kritischen und offenen Journalismus standen, hätten hier keinen Platz mehr. Da lohnt sich dann auch schon mal ein Blick in das auch deutschsprachige Nachbarland Schweiz zu werfen, dessen Online-Portal „Zeitgeschehen im Fokus“ uns die Veröffentlichung dieses Intererviews gestattete. Es ermöglicht einen ungeschönten Blick auf ein Land, das unter russischen Kriegszerstörungen leidet, dessen politische Klasse aber auch nicht bereit ist, einen Weg aus dem Krieg zu ebnen. (Jochen Gester)
Bild: Asow-Brigade. Screenshot Instagram.
Interview mit Andrej Konovalov*
Zeitgeschehen im Fokus Wie stark beeinflussen die rechtsradikalen Nationalisten die Politik in der Ukraine?
Andrej Konovalov Wenn man über ihren Einfluss spricht, muss man wissen, dass die Nationalisten nicht im Parlament vertreten sind. Der Einfluss, den sie haben, geht nicht über den politischen Weg, sondern liegt in der Androhung von physischer Gewalt im öffentlichen Raum.
Am 31. August 2015 kam es vor dem ukrainischen Parlament in Kiew zu schweren Ausschreitungen bei einer Demonstration nationalistischer Kräfte gegen die geplanten Verfassungsänderungen im Rahmen der Minsker Vereinbarungen.
Ein Demonstrant warf eine Handgranate in die Reihen der Nationalgarde. Dabei wurden über 140 Personen verletzt, darunter viele Polizisten, und drei Nationalgardisten kamen ums Leben. Auch mehrere Journalistinnen und Journalisten wurden verletzt.
Der Hauptverdächtige, Ihor Humenjuk, ein ehemaliger Freiwilliger des Bataillons «Sitsch» (eines freiwilligen Karpaten-Bataillons), wurde festgenommen und angeklagt. Im Juli 2023 verübte er einen weiteren Terroranschlag, diesmal im Gerichtsgebäude in Dnipro, wo er sich in einem Toilettenraum mit einer Sprengvorrichtung (vermutlich Handgranaten) selbst in die Luft sprengte und dabei zwei Polizisten verletzte.
Man lässt die Nationalisten einfach gewähren?
Der ukrainische Staat ist nicht bereit, etwas gegen die rechtsradikalen Nationalisten zu unternehmen. Zum Beispiel war der ukrainische Nationalist Serhyj Sternenko in eine Auseinandersetzung mit zwei Männern verwickelt, wobei er einen mit mehreren Messerstichen tötete, was ein medizinisches Gutachten bestätigte. Bei der Gerichtsverhandlung erhielt er Unterstützung von nationalistischen Organisationen, die das Gericht und die Richter unter Druck setzten. Das Verfahren endete mit einem Freispruch. Heute ist er als YouTuber einer der Hauptinfluencer der neuen ukrainischen Nationalistenelite.
Wie reagierte die Politik darauf?
Es ist bemerkenswert, dass Sternenko nicht nur von den rechts-nationalistischen Organisationen unterstützt, sondern auch öffentlich von der damaligen Gesundheitsministerin, Ulana Suprun, verteidigt wurde. Suprun, eine US-amerikanische Staatsbürgerin ukrainischer Herkunft, gilt als politisch gut vernetzt in liberalen und transatlantischen Elitekreisen der USA, insbesondere im Umfeld der Demokratischen Partei und westlicher NGOs mit finanzstarken Förderstrukturen.
Der Fall zeigt deutlich, wie aussergerichtlicher Einfluss und politisch motivierter Druck in der Ukraine gerichtliche Verfahren – selbst bei klarer Beweislage – entscheidend verzerren und beeinflussen können.
Man kann also sagen, dass der rechte Block, obwohl er nicht im Parlament vertreten ist, dennoch einen grossen Einfluss auf die Politik hat.
Ja, das ist hundertprozentig so.
Wie ist die Stimmung heute im Land? Die Zahl der Toten ist immens. Hinter jedem Toten sind Familien, Freunde, ganze Gemeinschaften, die trauern.
Die öffentliche Stimmung ist schwer zu fassen, denn der mediale Raum in der Ukraine steht seit Beginn des Krieges weitgehend unter staatlicher Kontrolle. Die meisten Menschen haben Zugang nur zu den Fernsehsendern, die über die üblichen digitalen Pakete (zum Beispiel T2 oder Kabel-TV) verbreitet werden – insbesondere in ländlichen Regionen, wo viele weder Satellitenschüsseln noch schnellen Internetzugang haben.
Kurz nach Kriegsbeginn wurden im Rahmen des sogenannten «Telemarathons» fast alle dieser grossen Fernsehsender zu einem gemeinsamen 24-Stunden-Nachrichtenprogramm zusammengeschaltet. Dieses Programm wird auf nahezu allen grossen Kanälen gleichzeitig ausgestrahlt und ist inhaltlich eng mit der offiziellen Linie der Regierung abgestimmt. Offiziell geschieht dies zur Stärkung der nationalen Einheit im Krieg. In der Praxis bedeutet es aber auch, dass abweichende Meinungen kaum noch öffentlich sichtbar sind.
Zugleich hat der Staat mehreren Fernsehsendern, die oppositionellen Politikern oder kritischen Stimmen nahestanden, bereits vor oder kurz nach Kriegsbeginn die Lizenz entzogen – teils unter Berufung auf die nationale Sicherheit, teils mit dem Vorwurf prorussischer Propaganda. Auch Online-Medien und Journalisten, die von der offiziellen Linie abweichen, stehen häufig unter Druck oder werden diffamiert.
Das alles führt dazu, dass die öffentliche Auseinandersetzung heute stark eingeschränkt ist, insbesondere wenn es um Themen wie Verhandlungen, Kriegsdienstverweigerung oder Kritik an der Regierung geht. Zwar existieren formell noch unabhängige Medien, doch ihr Einfluss ist gering, und Zensur ist, auch wenn sie nicht immer gesetzlich festgeschrieben ist, in der Realität spürbar vorhanden.
Gibt es Umfragen, die Auskunft geben, welche Einstellung die Menschen haben?
Laut einer Umfrage der «Gruppe Rating» vom Februar 2025 befürworten 64 Prozent der Ukrainer direkte Verhandlungen mit Russland, und 81 Prozent halten einen kompromissorientierten diplomatischen Weg unter internationaler Beteiligung für realistisch.
Gleichzeitig zeigt eine Umfrage des Kiewer Instituts für Soziologie (KIIS) vom Juni 2025, dass 48 Prozent der Befragten kategorisch gegen eine faktische Anerkennung der russischen Kontrolle über besetzte Gebiete sind – auch nicht zur Friedenssicherung. 43 Prozent wären hingegen zu solch einem Kompromiss bereit, solange keine formelle (de jure) Anerkennung erfolgt.
Trotz dieser Zahlen vermitteln viele Medien den Eindruck, die Bevölkerung sei nahezu geschlossen gegen Verhandlungen oder territoriale Zugeständnisse. Angesichts eingeschränkter Meinungsfreiheit und gesellschaftlichem Druck bleibt jedoch unklar, wie frei sich Menschen tatsächlich äussern können.
Wie geht der Staat mit Menschen um, die den Krieg kritisieren?
Wenn man kritisch gegenüber dem Krieg eingestellt ist beziehungsweise nicht in den Krieg gehen will, wird man für seine Einstellung bestraft, indem man mit Zwang in den Krieg geschickt wird. So will man die kritischen Stimmen zum Schweigen bringen. Das kann bis zum Tod führen.
Ich möchte das gerne an zwei Beispielen verdeutlichen. Es gibt in der Ukraine einen Influencer namens Batya Prokop, auf Deutsch «Vater Prokop». Er berichtet über Gesundheit und Lifestyle. Er lebt in Odessa, einer russischsprachigen Stadt. Er hatte einen Stream auf Instagram gestellt und die Frage aufgeworfen, ob man in die Armee gehen soll oder lieber ins Gefängnis. Seine Erklärung war für die Regierung ein Problem.
Er verbreitete seine Auffassung über Social Media. Wenn man ins Gefängnis gehe, sei man ein politischer Häftling und habe dadurch eine bessere Position. Man könne dort ein bisschen lesen und Sport treiben und wenn man nach ein paar Jahren wieder entlassen werde, habe man noch beide Arme und beide Beine und komme lebend wieder heraus.
Wie waren die Reaktionen von staatlicher Seite darauf?
Nachdem er dieses Statement abgeben hatte, bekam er Besuch von ukrainischen Armeeangehörigen, die ihn wohl kaum für seine Aussage gelobt haben. Danach «entschied» er sich für den Dienst in der Armee. Er war bei einer Sturmbrigade und ist in der Zwischenzeit im Krieg gefallen.
Das zweite Beispiel ist ein Fitnesstrainer in Odessa namens Sewastjan Gogowytsch. Er wollte nicht in den Krieg und hat die Rekrutierungsoffiziere beleidigt, als sie ihn rekrutieren wollten. Man spekuliert, er sei provoziert worden. Das Ganze wurde auf Video aufgenommen und veröffentlicht.
Ein ukrainischer rechtsradikaler Nationalist hat ihn später mit einer Gruppe von Gleichgesinnten zusammen mit Journalisten besucht, und sie haben ihn verprügelt. Das blutig geschlagene Gesicht wurde auf ukrainischen Mainstream-Medien publiziert mit dem Kommentar: «Er holte sich eine blutige Nase, weil er die ukrainische Armee beleidigt hatte.» Tatsache ist, dass Menschen, die das «Heiligtum» der ukrainischen Armee kritisieren, in eine Situation geraten, in der die Gesetze nicht mehr gelten. Die ukrainischen Rekrutierungsoffiziere gratulierten den Nationalisten, die Sewastjan Gogowytsch verprügelt hatten.
Ein Video mit Glückwünschen an ihn ist ab Minute sieben in meinem YouTube-Video zu sehen.1 Auch er wurde gezwungen, in die Armee zu gehen. Ein Tag nach der Veröffentlichung sagte er in einem weiteren Video, dass er in der ukrainischen Armee dienen werde. In der Ukraine war das die Geschichte der Woche, aber niemand hat die Verantwortung für die Gewalt übernommen. Es stellt sich die Frage, wie es um die ukrainische Armee steht.
Sind das Ausnahmen, oder ist die Mehrheit bereit, in den Krieg zu ziehen?
Laut dem ukrainischen Verteidigungsministerium waren im November 2024 rund 75 Prozent der aktiven Soldaten, die eingezogen wurden, nicht freiwillig eingetreten. Gleichzeitig berichtete die Uno über Folter, Schläge und psychische Gewalt in ukrainischen Rekrutierungszentren (TЦК).
Laut dem 42. Bericht des Uno-Menschenrechtsbüros (Dezember 2024 bis Mai 2025) kam es dort unter anderem zu Schlägen, Fesselung der Hände über Stunden, Todesdrohungen, Nahrungsentzug über 11 Tage bei Uniformverweigerung sowie zu systematischer Demütigung und schlechten Haftbedingungen.
Der ukrainische Ombudsmann registrierte allein im Jahr 2024 bereits über 7000 Beschwerden im Zusammenhang mit der Mobilmachung – dreimal mehr als im Vorjahr. Zugleich verstärkt das Faktum den Eindruck der Ungerechtigkeit, dass privilegierte Schichten der Gesellschaft – darunter auch Mitarbeitende westlicher NGOs oder grosser Beratungsfirmen wie Deloitte – vollständig vom Wehrdienst befreit sind, während in der breiten Bevölkerung nahezu täglich Meldungen und Berichte von Angehörigen über in den TЦК zu Tode gekommene Bürger auftauchen – oftmals mit deutlichen Spuren schwerer Misshandlungen und mit gefälschten medizinischen Gutachten. Solche Nachrichten tragen zusätzlich dazu bei, dass die Bereitschaft, in der Armee zu dienen, in der Gesellschaft weiter sinkt.
In ukrainischen Leitmedien ist inzwischen offen von der «Gesetzlosigkeit der Rekrutierungsstellen» die Rede – von Schlägen, Entführungen und Folter, für die niemand zur Rechenschaft gezogen wird.
Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung, in der doch ein erheblicher Anteil russischsprachig ist?
Die Stimmung ist angespannt. Man kann beispielsweise keinerlei russische Bücher legal kaufen, denn der Import ist gesperrt. Schon vor dem Krieg war es so, dass kein Buch auf Russisch publiziert werden konnte, wenn nicht die gleiche Anzahl auf Ukrainisch produziert wurde. Im Theater oder im Kino darf nicht mehr Russisch gesprochen werden – formell ist es erlaubt, aber nur mit gleichzeitiger ukrainischer Übersetzung, was in der Praxis unmöglich ist. Das führt zu einem faktischen Verbot. In der Schule darf nicht mehr auf Russisch unterrichtet werden, auch wenn es eine Privatschule ist. Es gibt in einigen Städten eine freiwillige Sprachpolizei. Sie geht in Cafés oder Restaurants.
Sie dokumentiert, wenn das Bedienungspersonal einen Gast auf Russisch begrüsst. Sie leiten das weiter, und das Restaurant muss schliessen, weil man dem Besitzer die Lizenz entzogen hat. Wenn Strassenmusiker russische Lieder singen, dann werden sie von den rechtsradikalen Nationalisten verprügelt. Ein Teil der Gesellschaft ist aktiv unterdrückt und hat keinerlei Möglichkeit, sich zu wehren oder politische Autoritäten zu finden, die sie schützen könnten.
Kommen wir noch auf Selenskyj zu sprechen. Ist er noch ein rechtmässiger Präsident?
Die Tatsache, dass man keine Wahlen durchführt, signalisiert, dass man seine Niederlage erwartet. In der ukrainischen Verfassung ist festgelegt, wie das Land, wenn es sich im Kriegszustand befindet, trotz dem Ende der Amtszeit des Präsidenten weiter regiert werden kann. Wenn die Regierungszeit abgelaufen ist, muss der Parlamentspräsident interimsmässig die Regierungsgeschäfte übernehmen, bis es zu Neuwahlen kommt. Deswegen sollte das Verfassungsgericht konsultiert werden. Selenskyj und seine Anhänger blockierten das, um zu verhindern, dass er sein Präsidentenamt abgeben muss. So geht es weiter wie bisher.
Wie reagiert das Verfassungsgericht darauf?
Die Auseinandersetzung zwischen Selenskyj und dem Verfassungsgericht bestand schon vor dem Krieg. Der ehemalige Chef des Verfassungsgerichts wurde unter Missachtung der Gesetze abgesetzt. Er floh nach Österreich und wurde dort vergiftet.
Selenskyj macht heute, was er will. Seine westlichen Unterstützer akzeptieren alles. Er hat freie Hand, allein zu entscheiden.
In seiner Wahlkampagne hat er versprochen, alle wichtigen Entscheidungen dem Referendum zu unterstellen. Das hat er nicht eingehalten. Wenn heute gewählt würde, ist sicher, dass er die Präsidentschaft nicht erneut gewinnen würde.
Herr Konovalov, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser, Aachen
* Andrej Konovalov ist in Kirowohrad in der Mitte der Ukraine aufgewachsen. Sein Bachelor-Biochemiestudium an der Universität Kiew hat er abgeschlossen. Nachdem er im Stadtzentrum ein aufgehängtes Banner der nazistischen Kollaborateure – der UPA – entfernt hatte, wurde gegen ihn ein Strafverfahren wegen «groben Rowdytums» eingeleitet, das mit bis zu vier Jahren Haft bestraft werden kann. Daraufhin verliess er die Ukraine. Sein mit Auszeichnung abgeschlossenes Bachelorstudium eröffnete ihm die Möglichkeit, kurzfristig ein Masterstudium an der Universität zu Köln aufzunehmen. Heute lebt er in Köln, arbeitet als Metabolic Engineer in einem Biotech-Startup. Er engagiert sich zugleich gegen den Krieg, indem er internationale Proteste für die Rechte zwangsrekrutierter Ukrainer mitorganisiert.
Erstveröffentlicht in Zeitgeschehen im Fokus
https://zgif.ch/kategorie/2025/zif-14/
Wir danken für das Publikationsrecht.