Jenseits der Propaganda

Waffenstillstand mit Gebietsverlusten steht zur Debatte: In der ukrainischen Öffentlichkeit werden Zweifel am Verlauf des Krieges laut

Von Reinhard Lauterbach

Die konservative polnische Tageszeitung Rzeczpospolita schrieb am 11. August über den Zweckoptimismus der Medien in Sachen Ukraine in einem Meinungsbeitrag: »Die Ukraine verliert diesen Krieg, egal, wie sehr wir uns das Gegenteil erhoffen.« Weiter heißt es in dem Beitrag:

Offiziell steht die ukrainische Gesellschaft wie ein Mann bzw. eine Frau hinter dem Krieg. Fast zumindest. Nach Umfragedaten, über die aktuell der Spiegel berichtet, sind achtzig Prozent der Befragten gegen Gebietsabtretungen an Russland, auch wenn das bedeute, den Krieg zu verlängern. Zwei Drittel seien gegen jedes Gespräch mit Russland. Und das, obwohl ebenfalls vier Fünftel der Ukrainer angeben, aus ihrer Familie oder ihrem engeren Bekanntenkreis seien Menschen im Krieg gefallen oder verwundet worden. Ein einig Volk von Kämpfern?

»Kleine Stalingrads«

Und dann sitzt in einem Fernsehstudio ein Mann in Uniform, vermutlich um die 40, Kampfname »Ded« (Opa), das Gesicht vermummt, man sieht nur die Augen. Nach Angaben des Moderators ist er der Führer einer vor Bachmut kämpfenden ukrainischen Scharfschützenkompanie. Er spricht russisch, nicht ukrainisch, und schildert die Situation an der Front aus seinem Blickwinkel und Erfahrungshorizont. Es gebe enorme Probleme mit den Rekruten, die aus dem Hinterland geschickt würden: Sie seien kaum ausgebildet, zum Teil chronisch krank, bis hin zur Tuberkulose, aus der letzten Zuteilung an seine Einheit sei von zehn Mann der jüngste 52 gewesen. Das größte Problem seien die höheren Offiziere – sie wollten mit aller Gewalt »kleine Stalingrads« veranstalten, das führe zu den enormen Verlusten der ukrainischen Truppen. Weil die Führung die schweren Waffen schonen wolle und deshalb die Soldaten verheize, selbst Munition für Handfeuerwaffen sei knapp, so »Ded«, von Granaten ganz zu schweigen.

Und dann äußert er sich zu einem Thema, das eigentlich außerhalb seines Handlungsspielraums liegt: der Perspektive des Krieges. Er und die Männer seiner Einheit, mit denen er gesprochen habe, hätten kein Problem damit, den Krieg entlang der jetzigen Frontlinie einzustellen. Und nach seiner Einschätzung würde die Armee »nicht auf Kiew marschieren«, wenn es zu einem solchen »Einfrieren« des Konflikts kommen sollte.

Der ukrainische Offizier mit dem Pseudonym Ded ist nicht der einzige, der an scheinbaren Gewissheiten der ukrainischen Kriegsöffentlichkeit rüttelt. An diesem Wochenende kam ein einstündiges Interview des ehemaligen Selenskij-Beraters Oleksij Arestowitsch mit der Starreporterin liberaler russischer Medien, Julija Latynina, ins Netz, in dem Arestowitsch Dinge sagte, die im starkem Widerspruch zu seinen früheren Äußerungen im Dienste des Staatschefs stehen. Der politische Hauptfehler der Ukraine sei gewesen, sich auf den von Stepan Bandera geprägten ukrainischen Nationalismus einzulassen und ihn zur politischen Leitideologie des Landes zu machen. Wenn man alle Russen entmenschliche und sie öffentlich als Tiere disqualifiziere, dann müsse man sich nicht wundern, wenn sie mit entsprechender Wut im Bauch kämpften. Der ukrainische Nationalismus sei ein siamesischer Zwilling des großrussischen Chauvinismus. Es sei kein Wunder, dass es NATO und EU mit der Aufnahme eines »ultrachauvinistischen und mit amerikanischen Waffen vollgestopften Landes« nicht eilig hätten. Und schließlich zu den ukrainischen Kriegszielen: Die Ukraine sei »in ihrem jetzigen wirtschaftlichen und politischen Zustand nicht in der Lage, die Grenzen des Jahres 1991 zurückzugewinnen«.

Gerüchte um Resnikow

Beide Beiträge sind im Grunde offene Kampfansagen an Wolodimir Selenskij und seine Vorstellungen vom weiteren Fortgang des Krieges bis zum für die Ukraine siegreichen Ende. Die Schlussfolgerungen von Ded über die Haltung der Armee zu einem möglichen Waffenstillstand mögen in dieser Allgemeinheit richtig oder falsch sein, aber sie sind auch ein Signal an mögliche Putschisten gegen einen Waffenstillstand in der Armeeführung, sich der Gefolgschaft der Truppe nicht allzu sicher zu sein. Denn Deds Einschätzungen haben ihre Plausibilität für die mögliche Stimmung an der Front. Und auf der anderen Seite Arestowitsch, der nach seiner Entlassung aus dem Dienst der Präsidialkanzlei in der ukrainischen Öffentlichkeit den Mann für die unangenehmen Wahrheiten macht, nachdem er Anfang des Jahres nach einem – möglicherweise als kalkulierte Provokation inszenierten – Hinweis darauf, dass die russische Rakete, die ein Wohnhochhaus in Dnipro zerstörte, eigentlich wohl einem in der Nähe liegenden Rüstungsbetrieb gegolten habe, gefeuert worden war.

Womöglich braut sich da etwas zusammen, zumal in Kiew Gerüchte umlaufen, die USA drängten auf die Ablösung des jetzigen Verteidigungsministers Oleksij Resnikow wegen Korruption im ukrainischen Militär – und damit letztlich zu Lasten des US-Steuerzahlers. Die Vorwürfe gelten auch dem Minister selbst. Er hat, wie ukrainische Medien meldeten, mitten im Krieg seiner Tochter zur Hochzeit eine Villa in Cannes für umgerechnet sieben Millionen Euro geschenkt. Dagegen verblasst sogar der jüngst verhaftete Wehrersatzamtsleiter aus Odessa, Jewgenij Borissow, mit seinem »Häuschen« in Spanien für vier Millionen. Vergangene Woche hat Präsident Selenskij sämtliche Leiter von Wehrersatzbehörden im Lande entlassen: Sie seien »allesamt korrupt«. Es riecht nach dem Versuch, andere zu opfern, um den eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.

Erstveröffentlicht in der jW am 19.8. 2023
Wir danken für das Abdruckrecht.

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