Die große Kriegslüge: Warum Deutschland weder verteidigungsfähig ist – noch sein wird

Von Rolf Bader

Bild: ican.de

Die Bundesregierung rüstet massiv auf. Doch Experten warnen vor blindem Vertrauen in eine wirksame Verteidigung. Was also geschieht im Ernstfall? Eine Analyse.

In Deutschland und der ganzen EU wird derzeit intensiv über die notwendige Verteidigungsfähigkeit diskutiert. Dabei stehen sich grundsätzlich unterschiedliche Positionen gegenüber:

Einerseits wird argumentiert, dass Deutschland und Europa eine Verteidigungsfähigkeit zur Kriegsverhütung benötigten. Derzeit seien erhebliche Fähigkeitslücken zu konstatieren, die durch Personalaufwuchs und Rüstungsmaßnahmen geschlossen werden müssten.

Die „Befähigung zum Krieg“ sei Voraussetzung für die Sicherstellung des Verteidigungsauftrags der Bundeswehr, liest man hierzulande.

Der Militärexperte Carlos Masala von der Universität der Bundeswehr in München geht sogar so weit, vor einem Atomkrieg zu warnen, auf den Deutschland nicht vorbereitet sei. Die Bundeswehr verfüge lediglich über acht Patriot-Batterien, die gerade einmal in der Lage wären, Berlin vor anfliegenden russischen Atomraketen zu schützen.

Die diplomatischen Sicherheitsexperten

Eine Alternativposition vertreten jene Experten, die eine nüchterne Bedrohungsanalyse fordern, die auf Dialog und Diplomatie ebenso setzt wie auf Verteidigungsfähigkeit.

Zu dieser Gruppe aus Wissenschaft und Militär gehören der Hamburger Friedens- und Konfliktforscher Michael Brzoska, die Politologen Christian Hacke und Johannes Varwick sowie Brigadegeneral a.D. Reiner Schwalb. Sie fordern einen Kurswechsel in der deutschen Sicherheitspolitik. Varwick konstatiert:

Eine verteidigungsfähige Bundeswehr und eine Verbesserung der sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit Europas sind unstrittig notwendig. Dazu gehören sinnvolle Investitionen in eine defensive Ausstattung der Streitkräfte, die abschrecken, aber nicht weiter das Sicherheitsdilemma verschärfen, sowie eine möglichst einheitliche europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik

Johannes Varwick

Doch welche Folgen hätte ein Verteidigungskrieg für Deutschland und Europa? Die aktuelle Nato-Strategie schließt den Einsatz von Atomwaffen nicht aus.

Sie geht davon aus, dass ein begrenzter und kontrollierter Ersteinsatz taktischer Nuklearwaffen bei militärischer Notwendigkeit zu einem raschen Kriegsende führen kann. Jedoch: Ein großflächiger Einsatz von Nuklearwaffen aber würde das Leben in Europa existenziell bedrohen.

Verluste einkalkuliert

Wie würde ein solcher Angriff von den Bürgern in Deutschland und Europa erlebt? Mit wie vielen Toten, Verletzten und Traumatisierten, mit welchen Zerstörungen lebenswichtiger Infrastruktur kalkulieren die Militärs der Bundeswehr und der Nato? Und wo werden konventionelle Waffen eingesetzt, wenn die Abschreckung versagt?

Ein Schlachtfeldszenario wie im Ersten Weltkrieg ist vollkommen unrealistisch, da ein Krieg nicht mehr regional begrenzt werden kann. Wie sollen Ballungsräume, das Ruhrgebiet, Großstädte wie Berlin, Hamburg oder München militärisch verteidigt werden?

Sind wir vorbereitet?

Wie sehen realistische Evakuierungspläne für Millionen von Menschen aus? Und wie viele Millionen Schutzsuchende werden einkalkuliert? Wäre die medizinische Versorgung Hunderttausender verwundeter Soldaten und Zivilisten überhaupt möglich?

Die USA und Russland verfügen jeweils über etwa 5.000 Atomwaffen, die von taktischen Atomwaffen mit einer Sprengkraft von 0,3 KT bis zu strategischen Interkontinentalraketen im Megatonnenbereich reichen. Diese Zahlen dokumentieren, welches Vernichtungspotenzial bestünde.

Die Reaktionszeiten verkürzen sich dramatisch, da feindliche Flugkörper im Tiefflug kaum zu orten sind. Damit steigt die Eskalationsgefahr.

Verwundbarkeit moderner Industriestaaten

Hochindustrialisiert und enorm verwundbar – so lässt sich der heutige Zustand in Europa charakterisieren. Dichte Ballungsräume mit hoher Industriekonzentration prägen insbesondere die Situation in Mitteleuropa.

Es hat sich eine Lebens- und Arbeitswelt entwickelt, die durch Komplexität, Vernetzung, Arbeitsteilung, Mobilität, Automatisierung und Information gekennzeichnet ist.

Die Interoperabilität nahezu aller Arbeitsbereiche durch verschiedenste Kommunikations- und automatisierte Informationssysteme trägt zwar zur Produktions- und Effizienzsteigerung bei, erhöht aber gleichzeitig die Störanfälligkeit und Verwundbarkeit des Gesamtsystems.

Die Gefahr von Cyber-Angriffen auf lebenswichtige Versorgungseinrichtungen der Gesellschaft wie Strom, Wasser und Logistik ist allgegenwärtig. Hackerangriffe auf die IT-Systeme des Deutschen Bundestages, von Stadtverwaltungen, Banken und Industrieunternehmen waren erfolgreich. Ein Ausfall des Kühlsystems von Kernkraftwerken – trotz redundanter Absicherung – wäre ein Super-GAU-Szenario mit unabsehbaren Folgen.

Die Leistungsfähigkeit und Stärke der hoch entwickelten Industriestaaten hängt vom Funktionieren einer zivilen Infrastruktur ab, die hochgradig verwundbar ist und bereits mit konventional Munition und „intelligenten“ Waffenträgern – niedrig fliegende, gelenkte Drohnen, Raketensysteme – ausgeschaltet werden kann.

Ohne diese Infrastruktur sind die Industriestaaten handlungsunfähig. Allein ein längerer Stromausfall würde die gesamte Infrastruktur lahmlegen und alle wichtigen Lebens- und Arbeitsbereiche einer Gesellschaft empfindlich treffen. Zur Zerstörung der wichtigsten und größten Kraftwerke und Schaltzentralen bedarf es jedoch keiner Kernwaffen. Es genügen „chirurgische“ Eingriffe mit zielgenauen konventionellen Waffen.

Gefährdet sind nicht nur wichtige Industrieanlagen, sondern auch die lebenswichtige Versorgung der Bevölkerung mit Trinkwasser, Fernwärme und Nahrungsmitteln. Eine Zivilisation ohne Strom bedeutet Chaos und Desorganisation des gesellschaftlichen Lebens. Es genügt, die lebenswichtigen Nervenzellen der Zivilisation zu zerstören, um den ökonomischen und ökologischen Kollaps eines Staates herbeizuführen.

Die Analyse ließe sich mit annähernd gleichem Ergebnis auf alle wichtigen Lebensbereiche ausdehnen. Denn auch in der Versorgungs- und Wasserwirtschaft, im Verkehrs-, Kommunikations- und Informationswesen, im Gesundheitswesen, im Kultur-, Bildungs- und Sozialbereich einer Gesellschaft wäre im Falle eines konventionellen Krieges mit erheblichen Störungen zu rechnen.

Ist die Störanfälligkeit und existenzielle Verwundbarkeit hochindustrialisierter Staaten grundsätzlich revidierbar? Gibt es realistische Szenarien und Maßnahmen, diesen Zustand durch eine Reduzierung der Gefahrenpotenziale, durch technische Maßnahmen oder durch einen verstärkten und verbesserten Zivilschutz zu beseitigen?

Im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie gibt es sicherlich Möglichkeiten, durch Redundanz die Störanfälligkeit des Gesamtsystems zu reduzieren. Auch durch Maßnahmen des Katastrophenschutzes könnten Schäden und gravierende Störungen reduziert werden. Ein flächendeckender Schutz ist jedoch kaum realisierbar.

Die militärische Landesverteidigung steht vor einem kaum lösbaren Dilemma. Einerseits ist der Verfassungsauftrag zu erfüllen und der Schutz der eigenen Bevölkerung zu gewährleisten. Tritt jedoch der Verteidigungsfall ein, würde der Krieg mit hoher Wahrscheinlichkeit Hunderttausende von Menschenleben kosten und unermessliches Leid verursachen.

Ferner ist mit der Zerstörung lebenswichtiger Infrastruktur zu rechnen. Beim Einsatz von Atomwaffen sogar mit radioaktiver Verseuchung und der Unbewohnbarkeit des eigenen Landes.

Wie Weizsäcker bereits 1971 mahnte, dürfe der Kriegsfall niemals eintreten. Gerade in Krisenzeiten gelte es, durch Diplomatie, Rüstungskontrolle und Abrüstungsverhandlungen zur Kriegsverhütung beizutragen.

Rolf Bader, Diplom-Pädagoge, Offizier der Bundeswehr a.D., Studium der Pädagogik, Psychologie und Neueren Geschichte an der Universität der Bundeswehr München, ehemaliger Geschäftsführer der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung e. V. (IPPNW).

Erstveröffentlich auf telepolis v. 8. April 2025
https://www.telepolis.de/features/Die-grosse-Kriegsluege-Warum-Deutschland-weder-verteidigungsfaehig-ist-noch-sein-wird-10344982.html

Wir danken für das Publikationsrecht.

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