IMI-Analyse 2022/06
Die Grundlage dieses Beitrags ist ein Artikel, der zuerst am 25. Januar 2022 als IMI-Analyse 2022/02 erschien und anschließend mehrmals aktualisiert wurde. Im Lichte der jüngsten Ereignisse hat er sich so stark verändert, dass wir ihn nun unter neuem Titel grundlegend überarbeitet und mit Fokus auf die NATO-Politik im Vorfeld des scharf zu veruteilenden russischen Angriffs auf die Ukraine veröffentlichen. Für Beiträge, die sich mit den aktuellen Entwicklungen beschäftigen möchten wir auf unsere IMI-Sonderseite zum Ukraine-Krieg verweisen).
Ohne lange darum herumzureden: Die russische Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Lugansk am 21. Februar 2022 ist ein klarer Bruch des Völkerrechtes. Der anschließende russische Angriff auf die Ukraine ist unabhängig davon, dass auch der Westen an der Misere einen erheblichen Anteil hat, durch nichts zu rechtfertigen, wie auch in zahlreichen Stellungnahmen der Friedensbewegung klar zum Ausdruck gebracht wurde. Ganz abgesehen von den Folgen für die Ukraine selbst liefert Russland durch sein Agieren der NATO auch zusätzlichen Rückenwind für genau die Politik, die es angeblich eigentlich verhindern will: „Jetzt gibt es für die Nato keinen Grund mehr zur Zurückhaltung“, titeln jetzt die üblichen Verdächtigen, in diesem Fall die Welt. Die Tatsache, dass sich die NATO bisher keineswegs in Zurückhaltung geübt, sondern im Gegenteil die Eskalationsspirale Jahr um Jahr weiter befeuert hat, wird nun hierzulande leider deutlich schwerer zu vermitteln sein.
Dennoch ist es weiter wichtig, diese Vorgeschichte nicht unter den Teppich zu kehren, weshalb dieser Beitrag das Handeln der NATO bis zum 17. Dezember 2021 in den Blick nimmt. An diesem Tag übermittelte Russland Forderungen zur Entschärfung der Lage, die auf insbesondere drei Kritikpunkte hinausliefen: Erstens die sukzessive Aufrüstung und Eingliederung weiterer osteuropäischer Staaten in die NATO, insbesondere der Ukraine; zweitens die Sorge vor einer Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Osteuropa; und drittens vor allem die dauerhafte, aber auch die temporär im Zuge immer häufigerer Manöver erfolgende Ansammlung massiver NATO-Truppenverbände an seinen Grenzen.
Bei näherer Betrachtung lässt sich kaum abstreiten, dass alle drei russischen Kritikpunkte – nicht die daraus gezogenen Schlussfolgerungen! – nachvollziehbar sind. Dies ist von großer Bedeutung: Nur wer versteht, wie der Weg in diese Katastrophe verlief, wird auch einen Weg aus ihr heraus finden. An ernsthaften Verhandlungen über eine Sicherheitsarchitektur, die die Interessen aller Akteure berücksichtigt, führt perspektivisch kein sinnvoller Weg vorbei. Die aktuell bevorzugten Alternativen – Sanktionen, Drohungen, Aufrüstung – sind es, die uns erst in diese Lage gebracht haben, es ist höchste Zeit, eine andere Richtung einzuschlagen.
In einer Stellungnahme verschiedener FriedensforscherInnen des Peace Research Institute Frankfurt (PRIF) heißt es dazu: „Friedens- und Sicherheitspolitik, die an einer gerechten, stabilen und langfristigen Ordnung interessiert ist, beginnt dort, wo die Interessen, Ängste und Befindlichkeiten der anderen Seite ernst genommen werden. Das bedeutet nicht, dass alle Ansprüche und Behauptungen gerechtfertigt sind. Und es bedeutet schon gar nicht, völkerrechtswidriges Verhalten zu entschuldigen oder zu akzeptieren. Aber es bedeutet, nicht nur die eigene nationale Sicherheit als alleinigen Maßstab zu nehmen, sondern gleichsam systemisch zu denken und die Herstellung von Stabilität, Sicherheit und Frieden als gemeinsame Herausforderung zu begreifen. […] Das Ende des Friedens darf nicht das Ende der Friedenspolitik sein. Im Gegenteil muss er der Beginn eines neuen Nachdenkens über die Zukunft einer europäischen und globalen Friedensordnung sein.“
Ursünde NATO-Osterweiterung
Seit Jahren ist die NATO vehement darum bemüht, die Aussage, Russland bzw. der Sowjetunion sei Anfang der 1990er zugesagt worden, es werde zu keiner Erweiterung der westlichen Militärallianz nach Osten kommen, als Falschmeldung zu diskreditieren. Auch die Medien, angefangen von Stefan Kornelius in der Süddeutschen Zeitung über Thomas Hanke im Handelsblatt bis hin zu Michael Thumann in der Zeit wissen es ganz genau: die russische Sichtweise entbehre jeder vernünftigen Grundlage, so der Tenor.
Über diverse Winkelzüge versucht die NATO dem Problem beizukommen, dass sie mit der schlussendlich 1999 vollzogenen Osterweiterung wissentlich ihre einstigen Zusagen eklatant verletzt hat. Da wäre einmal die Behauptung, die (nicht nur) von US-Außenminister James Baker gemachte Versicherung, die NATO werde sich nicht nach Osten erweitern, habe sich lediglich auf das Gebiet der ehemaligen DDR bezogen, von anderen Ländern in Osteuropa sei nie die Rede gewesen. Der genaue Wortlaut des Gesprächs lässt eine solche Interpretation aber nur mit viel Phantasie zu, er ließ sich schon vor über zehn Jahren zum Beispiel in der Frankfurter Rundschau nachlesen: „Als US-Außenminister James Baker bei KP-Generalsekretär Michail Gorbatschow am 8. Februar 1990 um dessen Zustimmung für den Verbleib des wiedervereinigten Deutschlands in der Nato warb, versicherte Baker, es werde ‚keine Ausweitung der gegenwärtigen Nato-Jurisdiktion nach Osten geben‘. Gorbatschow setzte nach: ‚Jede Erweiterung der Zone der Nato ist unakzeptabel.‘ Bakers Antwort: ‚Ich stimme zu’“.
Tatsächlich war es völlig klar, dass die gegenüber der Sowjetunion gemachten Zusagen sich auf jede Form einer NATO-Osterweiterung bezogen, wie unter anderem der damalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher seinem sowjetischen Amtskollegen Eduard Schewardnadse in einem Gespräch am 10. Februar 1990 klipp und klar versichert hatte. Aus der zugehörigen Aktennotiz zitierte unter anderem Spiegel Online: „‘BM (Bundesminister): Uns sei bewusst, dass die Zugehörigkeit eines vereinten Deutschlands zur Nato komplizierte Fragen aufwerfe. Für uns stehe aber fest: Die Nato werde sich nicht nach Osten ausdehnen.‘ Und da es in dem Gespräch vor allem um die DDR ging, fügte Genscher ausdrücklich hinzu: ‚Was im Übrigen die Nichtausdehnung der Nato anbetreffe, so gelte dieses ganz generell.‘“
Als weiteres Argument führt die NATO ins Feld, es habe nie eine formale Zusage der NATO existiert, insofern habe man sich mit den Erweiterungsrunden auch nichts zuschulden kommen lassen. Das ist zwar keine glatte Lüge, aber dennoch keineswegs wahr. Schließlich haben VertreterInnen nahezu aller großen NATO-Staaten Russland die besagte Garantie gegeben, wie sich in 2017 freigegebenen Dokumenten nachlesen lässt. Zu ihnen gehörten u.a. George Bush, Hans-Dietrich Genscher, Helmut Kohl, Robert Gates, Francois Mitterrand, Margaret Thatcher, John Major, Manfred Wörner und andere. Zuletzt tauchte eine bislang übersehene Aktennotiz des damaligen deutschen Spitzendiplomaten Jürgen Chrobog aus dem März 1991 auf, aus der Spiegel Online am 18. Februar 2022 zitierte: „Wir haben in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen deutlich gemacht, dass wir die Nato nicht über die Elbe hinaus ausdehnen. Wir können daher Polen und den anderen keine Nato-Mitgliedschaft anbieten.“
Insofern war es zwar eine geopolitische Dummheit allersten Ranges, sich diese Zusagen nicht in rechtlich bindender Form geben zu lassen, dass sie aber gemacht wurden und hätten eingehalten werden müssen, entspricht ebenso den Tatsachen. Augenscheinlich ging auch der sowjetische Generalsekretär Michael Gorbatschow von der Gültigkeit der westlichen Garantien aus: „Die Entscheidung der USA und ihrer Verbündeten, die NATO nach Osten auszudehnen, wurde 1993 letztlich gefällt. Ich habe das damals von Anfang an als großen Fehler bezeichnet. Es war definitiv eine Verletzung des Geistes der Statements und Versicherungen, die uns gegenüber 1990 gemacht wurden.“
Als letzter Pfeil im NATO-Köcher fungiert dann noch die Behauptung, die turbulente Zeit im Februar 1990 sei von vielen Missverständnissen geprägt gewesen, etwaige damals getätigte Aussagen ließen sich heute nicht mehr auf die Goldwaage legen. Allerdings zeigen 2018 freigegebene und beim „National Security Archive“ veröffentlichte Dokumente, dass auch mit Gorbatschows Nachfolger Boris Jelzin in Sachen NATO-Osterweiterung ein falsches Spiel getrieben wurde. Der Journalist Andreas Zumach schreibt dazu: „Aus den Dokumenten wird deutlich, wie Jelzin und seine Regierung von den damaligen US-Administrationen von George Bush und Bill Clinton im Unklaren gelassen oder gar vorsätzlich in die Irre geführt wurde über die damaligen Absichten mit Blick auf eine Erweiterung der NATO.“
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Tabelle: Der NATO-Weg in die Eskalation: Einige Kerndaten
1990: Im Austausch für die NATO-Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschland wird von zahlreichen westlichen Staatschefs versprochen, keine NATO-Erweiterung nach Osteuropa vorzunehmen.
1994: Mit der „Partnerschaft für den Frieden“ beginnt ein erstes Heranführungsprogramm v.a. für ehemalige Mitglieder des Warschauer Paktes.
1997: NATO-Russland-Akte im Tausch für die absehbare erste Osterweiterung. Darin die NATO-Zusage, keine substantiellen Truppen dauerhaft in Osteuropa zu stationieren.
1999: NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien. Umgehung des UN-Sicherheitsrates, eklatanter Völkerrechtsbruch und gewaltsame Spaltung Jugoslawiens.
1999: NATO-Erweiterung I: Polen, Tschechische Republik und Ungarn.
2002: US-Austritt aus dem Raketenabwehrsystemvertrag (ABM).
2003: Beginn der „bunten“ Revolutionen, westliche Unterstützung beim Sturz pro-russischer Machthaber in Georgien (2003), der Ukraine (2004) und Kirgisien (2005).
2004: NATO-Erweiterung II: Bulgarien, Estland, Litauen, Lettland, Rumänien, die Slowakei und Slowenien.
2007: Rede Wladimir Putins bei der Münchner Sicherheitskonferenz, in der er die westliche Expansionspolitik scharf kritisierte.
2008: April: NATO räumt Georgien und Ukraine Beitrittsperspektive ein. Im August beginnt Georgien mit US-Unterstützung eine Offensive gegen die abtrünnige Republik Süd-Ossetien. Russland schlägt diese militärisch im sog. Georgienkrieg zurück.
2009: NATO-Erweiterung III: Kroatien und Albanien.
2010: Beschluss zum Aufbau einer NATO-Raketenabwehr, die auch offensiv eingesetzt werden kann und daher aus russischer Sicht den INF-Vertrag verletzte. Abschussanlagen in Rumänien und Polen (im Aufbau).
2011: NATO-Bombardierung Libyens, extreme Dehnung des UN-Mandats in Richtung eines Regimewechsels.
2014: Eskalation in der Ukraine. NATO-Gipfel in Wales: Verabschiedung des „Readiness Action Plan“ (u.a. Erhöhung und Schaffung neuer Schneller Eingreiftruppen…).
2016: NATO-Gipfel in Warschau: Permanente Stationierung von vier Bataillonen (4.-5.500 SoldatInnen) in Osteuropa.
2017: NATO-Erweiterung IV: Montenegro.
2018: NATO-Krisenreaktionsinitiative (4X30): 30 Bataillone; 30 Flugzeugstaffeln; 30 Schiffe, Einsatzbereitschaft in 30 Tagen.
2019: US-Aufkündigung des INF-Vertrages.
2020: NATO-Erweiterung V: Nordmazedonien.
2021: Aktivierung der „Multi Domain Task Force“ und des 56. Artilleriekommandos (Sitz Wiesbaden). Klares Zeichen für die US-Absicht, Kurz- und Mittelstreckenraketen in Osteuropa zu stationieren.
2022: US- und NATO-Ablehnungsschreiben der drei russischen Kernforderungen: Keine NATO-Osterweiterung; Rückbau der militärischen NATO-Präsenz auf den Stand der NATO-Russland-Akte; keine Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen.
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Expansion in die Krise
Der russische Blick auf die NATO sieht eine lange Reihe als feindselig eingestufter Akte (siehe Tabelle), von denen die verschiedenen NATO-Erweiterungen besonders hervorstechen dürften: 1999 erfolgte die Aufnahme von Polen, der Tschechischen Republik und Ungarn und 2004 kam es zur zweiten NATO-Erweiterungsrunde um weitere sieben Länder. Darunter befanden sich mit den drei baltischen Ländern auch ehemalige Sowjetstaaten, was von Russland immer als rote Linie bezeichnet wurde. Im April 2008 räumte die NATO dann der Ukraine und Georgien eine Beitrittsperspektive ein. Es folgte im August 2008 der Georgien-Krieg, in dem Russland eine von Georgien mit US-Unterstützung initiierte Offensive gegen die abtrünnige Provinz Süd-Ossetien mit harten militärischen Mitteln zurückschlug.
Vor allem aber die geopolitische Bedeutung der Ukraine als einer der Schlüsselstaaten in der Region rückte anschließend ins Zentrum der Auseinandersetzungen – und damit ebenso die Reichweite einer Entscheidung, ob sich das Land dem westlichen Block oder Russland zuwendet oder ob es einen neutralen Status bewahrt (siehe IMI-Studie 2015/6). Genau diese Frage war Auslöser der Eskalation im Jahr 2014, die ihren Anfang darin nahm, dass der damalige ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch sich entschied, die Unterzeichnung eines Assoziationsabkommens mit der EU auf Eis zu legen, mit dem sein Land nahezu irreversibel in den westlichen Block integriert werden sollte. Die unmittelbar darauf mit massiver westlicher Unterstützung (und unter reger Beteiligung faschistischer Kräfte) einsetzenden Maidan-Proteste führten dann zur unter Gewaltandrohung erfolgten Flucht des gewählten Präsidenten Janukowitsch. Obwohl das erforderliche Quorum für eine Absetzung Janukowitschs im ukrainischen Parlament nicht erreicht wurde, wurde eine – nach russischer durchaus nachvollziehbarer Lesart damit illegale – pro-westliche Übergangsregierung eingesetzt. Umgehend kündigten die neuen Machthaber in Kiew an, schnellstmöglich die NATO-Mitgliedschaft anzustreben und den – eigentlich unkündbaren – bis 2047 laufenden Pachtvertrag für die russische Schwarzmeerflotte auf der Krim aufzukündigen.
Dies alles ging der russischen Reaktion voraus, die vor allem in der Eingliederung der Krim und der Unterstützung separatistischer Kräfte in der Ostukraine bestand. Es folgte ein Bürgerkrieg, der in dem von der Ukraine, Russland, Frankreich und Deutschland ausgehandelten Minsker Abkommen vom 12. Februar 2015 in einem wackligen Waffenstillstand endete. Das Abkommen sah neben einem sofortigen Waffenstillstand unter anderem den Rückzug schwerer Waffen, einen Autonomiestatus für die Volksrepubliken Donezk und Lugansk sowie Wahlen und den Abzug aller ausländischen bewaffneten Einheiten vor. Die Umsetzung des Minsker Abkommens scheiterte in den Folgejahren an der vom Westen zumindest geduldeten Weigerung der ukrainischen Regierung.
Unterdessen flossen hohe Beträge in die Aufrüstung der ukrainischen Armee: von den USA wurde sie bis 2020 mit etwa 2,5 Mrd. Dollar unterstützt, von Frankreich kamen 1,631 Mrd. Euro, im Falle Polens waren es 657,5 Millionen Euro. Die Europäische Union trat lange vor allem mit umfassenden Finanzhilfen für die Ukraine in Erscheinung. Insgesamt schüttete sie bereits zwischen 2014 und 2020 Makrofinanzhilfen im Umfang von 5,61 Mrd. Euro und noch einmal 1,565 Mrd. EUR aus der Haushaltslinie „Nachbarschaft“ an die Ukraine aus. Zumindest ein Teil dieser Gelder diente explizit dazu, das ukrainische Rechts- und Wirtschaftssystem an die Bedürfnisse des EU-Binnenmarktes anzupassen (siehe IMI-Studie 2015/06).
Eskalation in der Ukraine
In den westlichen Medien wurde zwar ausführlich über den im April 2021 begonnenen ersten russischen Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze berichtet, kaum zu lesen war aber davon, dass dem ein folgenschweres Dekret vorausgegangen war. Einzig der Berliner Zeitung war etwas über den Vorgang zu entnehmen: „Seit Mitte Februar gibt es wieder verstärkt Kämpfe zwischen pro-russischen Einheiten und der Regierungsarmee in der Ostukraine. Für besondere Aufmerksamkeit sorgt das Dekret Nr. 117 vom 24. März 2021, mit dem Selenskyj die Entscheidung des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine vom 11. März 2021 (‚Zur Strategie der Entbesetzung und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol‘) umsetzen will. In dem Dekret wird die Vorbereitung von Maßnahmen angekündigt, um ‚die vorübergehende Besetzung‘ der Krim und des Donbass zu beenden. Laut der staatlichen ukrainischen Nachrichtenagentur Ukrinform erhielt die Regierung den Auftrag, einen entsprechenden ‚Aktionsplan‘ zu entwickeln.“
Ohne es mit letzter Sicherheit wissen zu können macht es vor diesem Hintergrund einigen Sinn, den russischen Truppenaufmarsch als eine klare Drohung in Richtung der ukrainischen Regierung zu interpretieren, dass ein versuchter Angriff auf die von separatistischen Kräften gehaltenen Gebiete (oder gar die Krim) von Moskau mit aller Härte beantwortet werden würde. Der spätere Angriff auf die Ukraine mit den klar formulierten Zielen einer „Entnazifizierung“ und „Entmilitarisierung“ der Ukraine zeigte aber, dass Moskaus Ziele wohl damals schon deutlich darüber hinausgingen.
Jedenfalls wurden am 17. Dezember 2021 russische Forderungen zur Entschärfung der Krise übermittelt und gleichzeitig davor gewarnt, es werde schwere Konsequenzen haben, sollten die darin formulierten Sicherheitsbedenken vom Westen nicht adressiert werden. Diese Warnung hat Russland nun leider wahr gemacht, es hat damit aber paradoxerweise wohl genau jenen Akteuren im Westen in die Hände gespielt, die ohnehin für eine weitere Verschärfung vieler der von Russland kritisierten Maßnahmen plädieren. Konkret benannt wurden dabei u.a. in einer Erklärung des russischen Außenministeriums neben weiteren NATO-Erweiterungen die NATO-Truppenstationierungen und Manöver in Osteuropa sowie Pläne zur Stationierung von Raketensystemen an der russischen Grenze: „Es wurde der Weg gewählt, die Ukraine in die NATO aufzunehmen, was mit der Stationierung von Raketen mit minimaler Flugzeit nach Zentralrussland und anderen destabilisierenden Waffen verbunden ist. […] Anstatt ihre ukrainischen Schützlinge zu zügeln, treiben die NATO-Staaten Kiew zu aggressiven Schritten an. Die zunehmende Zahl ungeplanter Übungen der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten im Schwarzen Meer kann nicht anders interpretiert werden. Die Flugzeuge der NATO-Mitglieder, darunter auch strategische Bomber, führen regelmäßig provokative Flüge und gefährliche Manöver in unmittelbarer Nähe der russischen Grenzen durch. […] In diesem Zusammenhang bestehen wir, wie Präsident Wladimir Putin betonte, darauf, dass ernsthafte langfristige rechtliche Garantien gegeben werden, die ein weiteres Vordringen der NATO nach Osten und die Stationierung von Waffen an den westlichen Grenzen Russlands, die eine Bedrohung für Russland darstellen, ausschließen würden. […] Wir fordern Washington auf, sich dem einseitigen Moratorium Russlands für die Stationierung von Boden-Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa anzuschließen“.
Raketenstationierungen: Neue (Nach)rüstung
Schon länger wurde von russischer Seite scharf vor der Stationierung von Kurz- oder Mittelstreckenraketen in der Ukraine oder einem anderen osteuropäischen Land gewarnt. Wir erinnern uns: 2019 stiegen die USA mit lautem Getöse aus dem INF-Vertrag aus, der eine Stationierung landgestützter Kurz- und Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite zwischen 500km und 5.500km bis zu diesem Zeitpunkt verbot. Als Begründung wurde angegeben, Russland habe den Vertrag bereits verletzt. Moskau bestritt die Vorwürfe und gab an, die infrage stehenden Marschflugkörper 9M729 (NATO-Codename SSC-8) hätten eine Reichweite unter 500km. Gleichzeitig bot es Vor-Ort-Inspektionen an, mit denen diese Frage hätte geklärt werden können. Stattdessen beharrten die USA und ihre Verbündeten aber auf ihren Anschuldigungen, kündigten den Vertrag auf und schlugen auch ein immer wieder von Russland angebotenes Moratorium für die Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen aus (siehe IMI-Analyse 2019/25).
Schon 2019 wurden daraufhin Forderungen nach einer erneuten Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa laut und alles deutet darauf hin, dass die USA sich umgehend daran gemacht hatten, in diese Richtung zu arbeiten – es liegt deshalb nahe, die Aufkündigung des INF-Vertrages als Resultat dieser Ambitionen und nicht als Ergebnis bis heute nicht sattelfest bewiesener russischer Vertragsverletzungen zu begreifen. Ein deutliches Zeichen für diese Bestrebungen war die am 8. November 2021 erfolgte Re-Aktivierung des 56. Artilleriekommandos mit Sitz im Wiesbadener Stadtteil Mainz-Kastel. Der Schritt hat einigen Symbolwert, schließlich war das Kommando bis zu seiner vorläufigen Auflösung 1991 für die Pershing-Raketen zuständig, die im Zuge der „Nachrüstung“ (oder treffender: „Aufrüstung“) in den 1980er Jahren stationiert wurden. Die heutige Aufgabe des Kommandos besteht darin, im Kriegsfall Raketeneinsätze der US-Streitkräfte und ihrer NATO-Verbündeten zu koordinieren. Das legt natürlich nahe, dass die US-Armee auch über die entsprechenden Waffen verfügen will, weshalb der Schritt nur in Verbindung mit der nahezu gleichzeitigen Aktivierung der ebenfalls in Wiesbaden ansässigen „Multi-Domain Task Force“ (MDTF) Sinn macht. Denn geplant ist es, diesen Einheiten, die explizit mit dem Anspruch konzipiert wurden, in Großmachtkonflikten mit Russland oder China die Oberhand erlangen zu können, drei Kurz- und Mittelstreckensysteme, die sich aktuell noch in der Entwicklung befinden und ab 2023 zulaufen sollen, zu unterstellen (siehe dazu ausführlich IMI-Analyse 2021/46).
Die US-Armee hat mehrfach versichert, es sei keine Stationierung konventioneller (aber atomar bestückbarer) Raketen in Deutschland geplant. Das macht die Annahme umso plausibler, dass von Anfang an eine Dislozierung dieser Raketensysteme weiter im Osten möglichst nahe an den russischen Grenzen ins Auge gefasst wurde. Aus diesem Grund kritisierte der russische stellvertretende Außenminister Sergei Ryabkow am 13. Dezember 2021, er sehe in der Re-Aktivierung des 56. Artilleriekommandos ein „indirektes Zeichen“ dafür, dass die NATO plane, neue Mittelstreckenraketen zu stationieren. Es ist deshalb nachvollziehbar, dass Russland diese Entwicklung als Bedrohung bewertete, zumal es sich bei einem der in Entwicklung befindlichen US-Systeme („Dark Eagle“) um eine Hyperschallrakete handelt, die in extrem kurzer Zeit Ziele in Russland treffen könnte: „Sollten Raketensysteme in der Ukraine auftauchen, wird deren Flugzeit bis Moskau 10 Minuten betragen, fünf im Falle von Hyperschallwaffen“, äußerte sich Wladimir Putin bereits am 30. November 2021.
NATO-Truppen in Osteuropa
Ähnlich wie in der Frage der Raketenstationierungen verhält es sich bei den Manövern und der NATO-Präsenz in Osteuropa: Der russische Angriff auf die Ukraine dürfte auch hier zum genauen Gegenteil dessen führen, was Moskau seinen Aussagen zufolge erreichen möchte.
Mit einiger Sicherheit ist damit zu rechnen, dass die Zahl der Manöver sich noch einmal erhöhen dürfte. Als Reaktion auf die Ukraine-Krise wurden die Manöver der NATO-Staaten ab 2014 verdoppelt und bleiben seither in etwa auf diesem hohen Niveau. Für 2021 waren zum Beispiel ursprünglich über 300 Übungen (95 der NATO und 220 der Einzelstaaten) vorgesehen, pandemiebedingt mussten allerdings einige davon abgesagt werden. Immer wieder kommt es dabei zu gefährlichen Beinahe-Zusammenstößen zwischen russischen und westlichen Einheiten, was besonders in der aktuell extrem aufgeheizten Situation brandgefährlich ist.
Vor allem aber fordert Russland, die ständige NATO-Truppenpräsenz auf den Stand der NATO-Russland-Akte von 1997 zurückzufahren. Diese völkerrechtliche Absichtserklärung wurde damals vereinbart, um russische Bedenken gegenüber der sich anbahnenden ersten NATO-Osterweiterung abzumildern, wozu insbesondere folgende Stelle dienen sollte: „Die NATO wiederholt, dass das Bündnis in dem gegenwärtigen und vorhersehbaren Sicherheitsumfeld seine kollektive Verteidigung und andere Aufgaben eher dadurch wahrnimmt, dass es die erforderliche Interoperabilität, Integration und Fähigkeit zur Verstärkung gewährleistet, als dass es zusätzlich substantielle Kampftruppen dauerhaft stationiert.“
Spätestens mit der 2016 beschlossenen „Enhanced Forward Presence“ (EFP), der Stationierung von vier NATO-Bataillonen à etwa 1.000 bis 1.500 SoldatInnen in den drei baltischen Staaten und Polen, war die NATO-Russland-Akte aber hinfällig (zusätzlich hatten die USA bilateral tausende SoldatInnen in Polen stationiert). Aus russischer Sicht handelte es sich bei dieser Präsenz – die nun massiv ausgebaut wird – um einen Bruch der 1997 getroffenen Vereinbarungen.
Alternativlose Eskalation?
Schon lange erleben wir, wie zwei Machtblöcke scheinbar wie auf Autopilot aufeinander zusteuern. In der praktizierten Weise musste es früher oder später zu einer dramatischen Eskalation kommen, worunter nun vor allem die Menschen in der Ukraine zu leiden haben. Lange war es dabei die NATO, die die aggressive Richtung vorgab, während Russland – ebenfalls teils mit harten Bandagen – nachzog. Nun ist Russland buchstäblich in die Offensive gegangen, was die Vorgeschichte aber nicht ungeschehen macht.
Es ist völlig unklar, ob es nach der Präsentation der russischen Forderungen vom 17. Dezember 2021 Geheimverhandlungen gab, auf denen gegebenenfalls mehr angeboten wurde. In den Ende Januar 2022 überreichten offiziellen Antwortschreiben der USA und der NATO wurde jedenfalls in keinem der von Russland kritisierten Bereiche relevant auf Moskau zugegangen. Ob hiermit die jetzige Eskalation hätte vermieden werden können, lässt sich natürlich nicht mit letzter Gewissheit sagen, aber es wäre doch sehr wahrscheinlich gewesen. Ausgerechnet ein ausgewiesener Hardliner wie der emeritierte Politikprofessor Christian Hacke scheint dieselbe Ansicht zu vertreten: „Putins jüngste Rede zeigte zugleich seine tiefe Enttäuschung über die gescheiterten Versuche der letzten Jahre, den Westen auf die sicherheitspolitischen Interessen Russlands aufmerksam zu machen. […] Noch auf der Münchener Sicherheitskonferenz am vergangenen Wochenende [18. bis 20. Februar 2022] hätte eine Kompromissplattform geschaffen werden können. Hätte der Westen diese Chance nur erkannt und genutzt! Als der chinesische Außenminister etwa eine neutrale Ukraine-Lösung vorschlug. […] Mit dieser Unflexibilität verspielten Kiew und der Westen die letzte Möglichkeit einer Lösung, die den Einfluss von Ost wie West auf das Land hätte einhegen können. Dies aber wäre die einzige Option zur Bewahrung der territorialen Integrität der Ukraine gewesen. Die Minsker Abkommen hätten weiterhin Basis eines diplomatischen Weges bleiben können. All das ist nun Geschichte.“
Unmittelbar muss jetzt alles daran gesetzt werden, eine weitere Eskalation zu verhindern, sowohl in der Ukraine selbst als auch generell im Konflikt zwischen dem Westen und Russland. Perspektivisch ist aber vor allem eine Sache von entscheidender Bedeutung: Nicht Appeasement hat uns in diese Lage gebracht, wie aktuell vielfach zu hören ist, sondern Aufrüstung und knallharte Machtpolitik. Ernüchtert räumt beispielsweise auch der gut vernetzte Insiderdienst Bruxelles2 eine gewisse westliche Mitschuld an den Ereignissen ein: „Auch wenn Putins Worte (teilweise) falsch sind, so beruhen sie doch auf einer gewissen Rationalität. Und sie sind klar und präzise. Der Westen hat es versäumt, Russland die Sicherheitsgarantien zu geben, die es verdient. Im Gegenteil, vom Kosovo 1999 über den Irak 2003 bis Libyen 2011, hat er das Völkerrecht und die Achtung vor der russischen Macht auf die leichte Schulter genommen. Moskau rächt sich mit denselben Waffen: Lügen, Umgehung internationaler Regeln, Gewalt statt Recht.“
Dies entschuldigt Russlands Krieg in keiner Weise, aber es unterstreicht, dass der Westen sich sehr genau über seine Verantwortung Gedanken machen sollte. Der bereits zitierte Journalist Andreas Zumach schreibt dazu richtigerweise: „[D]ie westlichen Staaten [machen sich] sehr unglaubwürdig, wenn sie zwar Russlands Bestrebungen zur Ausweitung seiner Einflusssphären kritisieren, aber die mit der NATO-Osterweiterung vollzogene Ausweitung ihrer eigenen Einflusssphären unterschlagen oder schönreden […]. Nur wenn die westlichen Staaten diese Haltung aufgeben, ihre Mitverantwortung für die Verschlechterung der Beziehungen zu Russland anerkennen und daraus auch praktische politische Konsequenzen für die künftige Gestaltung dieser Beziehungen ziehen, besteht eine Chance, für deren dauerhafte Verbesserung und damit für Stabilität und Kooperation auf dem gemeinsamen eurasischen Kontinent.“
Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 3. März 2022
Quelle: IMI, (https://www.imi-online.de/2022/03/03/der-nato-prolog-des-ukraine-krieges/)
Wir danken für das Abdruckrecht.