Opferzahl unbekannt

Hunderttausende starben oder wurden verwundet während des Ukraine-Krieges. Die genauen Zahlen der Gestorbenen und Verwundeten wird man womöglich nie erfahren

Von Daniel Säwert

Bild: Pixabay

Der Krieg in der Ukraine ist der tödlichste Konflikt in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Hunderttausende verloren seit der russischen Invasion vor über drei Jahren ihr Leben oder wurden verletzt. Die genaue Zahl der Opfer wird möglicherweise nie bekannt werden. Beide Seiten versuchen, ihre eigenen Verluste runter- und die gegnerischen hochzurechnen. Zudem werden viele Gefallene aus den Statistiken gestrichen, vor allem ehemalige Häftlinge, die für die Front rekrutiert wurden.

Relativ gesicherte Zahlen gibt es zu den zivilen Opfern in der Ukra­ine selbst. Laut Zählungen des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte (OHCHR) gab es bis zum 31. März 2025 mindestens 12 910 Todesopfer in der ukra­ini­schen Zivilbevölkerung, darunter mindestens 682 Kinder. Zudem wurden bis Ende März 2025 mindestens 30 700 verletzte Zivilisten vom OHCHR erfasst, darunter 1950 verletzte Kinder. Hinzu kommen mehrere Hundert getötete Zivilisten in den russischen Gebieten Kursk und Belgorod sowie anderen Regionen. Allein in Kursk sollen über 280 Zivilisten getötet und 430 verletzt worden sein.

Wie viele Soldaten in den vergangenen über drei Jahren ums Leben kamen oder verletzt wurden, wird weder in Russland noch in der Ukra­ine offenbart. Russlands Armeeführung hatte zu Beginn der Invasion noch täglich eigene Verlustzahlen gemeldet, damit aber aufgehört, als deutlich wurde, dass der Krieg länger und verlustreicher wird als angenommen. Seitdem wird daraus ein Staatsgeheimnis gemacht, ebenso in der Ukra­ine. Lieber verkünden Moskau und Kiew die vermeintlichen Verluste des Gegners und nennen exorbitante Zahlen, die einzig der Propaganda dienen.

Lieber verkünden Moskau und Kiew die vermeintlichen Verluste des Gegners.

Wer es wagt, die ukra­ini­schen Verluste zu beziffern, wird attackiert. Als EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Ende 2022 von 100 000 toten und verwundeten ukrainischen Soldaten twitterte, reagierte Wolodymyr Selenskyj wütend. Von der Leyen löschte den Tweet daraufhin. Im Dezember 2024 sprach die Nato von einer Million getöteten und verwundeten Soldaten, 600 000 Russen und 400 000 Ukrainern. US-Präsident Donald Trump meinte einen Monat später gar, die Ukraine habe Verluste von 700 000 Soldaten und Russland von über einer Million. Als er im April zu Friedensgesprächen aufrief, schrieb Trump von 5000 Toten jede Woche. Nachprüfen lassen sich diese Zahlen nicht.

Selenskyj, der zu den eigenen Verlusten schweigt, sprach kurz vor dem dritten Jahrestag des Krieges beim US-Sender NBC von 46 000 getöteten und bis zu 380 000 verwundeten ukrainischen Soldaten. Ein Jahr zuvor waren es laut Selenskyj 31 000 getötete ukrainische Soldaten. Das würde bedeuten, dass in diesem Jahr täglich 41 ukrainische Soldaten starben. Eine enorme Zahl, die von vielen Seiten jedoch angezweifelt wird. Mit Verweis auf die wachsenden Friedhöfe werfen viele Ukrainer ihrem Präsidenten vor, viel zu niedrige Zahlen zu nennen. Und dabei sind die Toten des äußerst verlustreichen Einmarsches in das Kursker Gebiet nicht eingerechnet. Ukra­ini­sche Medien schreiben von bis zu 50 000 ukrainischen Familien, die Entschädigungsgelder für einen toten Angehörigen bekommen sollen.

Damit wäre Selenskyjs Kursk-Einmarsch ein ähnlicher »Fleischwolf« wie etwa die monatelange Schlacht um Bachmut von 2022 bis 2023, bei der auf ukrainischer und russischer Seite zusammen über 100 000 Soldaten gefallen sein sollen. Laut BBC, die ausschließlich russische Tote zählen, soll das tödlichste Jahr aber 2024 gewesen sein. Demnach sollen 45 287 Soldaten gefallen sein. Oder anders ausgedrückt: Für jeden Kilometer eroberten ukrainischen Gebietes ließen mindestens 27 Russen ihr Leben.

Wie hoch Russlands Verluste wirklich sind, lässt sich nur mutmaßen. Zu Beginn des Krieges veröffentlichten lokale Beamte häufig Nachrufe auf Gefallene und ermöglichten es Journalisten, das Ausmaß des Sterbens zu erfassen. Mittlerweile sind solche Nachrufe verboten.

Gemeinsam mit dem russischen Dienst der BBC sucht das Onlinemedium »Media­zona« weiter nach Nachrufen russischer Soldaten im Netz. Bis zum 2. Mai konnten so 104 673 Gefallene identifiziert werden. Militärexperten gehen davon aus, dass die von BBC und »Mediazona« recherchierten Zahlen zwischen 45 und 65 Prozent der Gefallenen wiedergeben: Demnach sind zwischen 164 222 und 237 211 Russen in der Ukra­ine gefallen.

Viele Menschen tauchen jedoch in diesen Statistiken nicht auf. Vor allem in den Schlachten, die extrem viele Opfer fordern, werden viele Tote, insbesondere ehemalige Häftlinge, nicht erfasst. Dabei geht es um die Schönrechnung der Verluste, aber auch um das Vermeiden von Zahlungen an die Angehörigen.

Viele Soldaten werden offiziell als vermisst gemeldet. Seit Anfang 2024 hat das ukrainische Projekt »Ich möchte leben« über 84 000 Anfragen aus Russland zum Verbleib von Angehörigen bekommen. In Russland selbst gibt es mehrere selbstorganisierte Gruppen, die nach als vermisst gemeldeten Soldaten suchen.

Im ukrainischen Register der Verschollenen waren Anfang Februar 62 948 Menschen erfasst, allerdings sowohl Soldaten als auch Zivilisten. Aufgeschlüsselt wird das nicht. Im Sommer 2023, als noch etwas mehr als 23 000 Menschen registriert waren, hieß es, 90 Prozent davon seien Soldaten.

Erstveröffentlicht im nd v. 30.5. 2025
https://nd.digital/editions/nd.DieWoche/2025-05-30/articles/18016574

Wir danken für das Publikationsrecht.

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