Die Entscheidung über die Eskalation wird vermutlich nicht heute von Joe Biden getroffen werden. Aber das Risiko einer Ausweistung des Kriegs steigt. Moskau ist dabei, die Schwelle zum Einsatz von Atomwaffen zu senken.
Von Florian Rötzer
Wenn sich der britische Premier Keir Starmer und US-Präsident Joe Biden heute im Weißen Haus treffen, soll es auch um die Entscheidung gehen, ob die Ukraine mit Storm Shadow- und ATCMS-Raketen weit von der Grenze entfernte Ziele in Russland angreifen darf. Das hat Biden bislang als rote Linie betrachtet, die nicht überschritten werden sollte, um nicht die USA direkt in den Krieg zu ziehen und womöglich einen Atomkrieg zu riskieren oder zu provozieren. US-Verteidigungsminister Austin gibt sich skeptisch, auch weil er nicht sieht, dass der Einsatz die Kriegssituation wirklich verändern könnte.
Befürworter in den USA und in den anderen Nato-Länder argumentieren gerne und seit langem, es gebe kein wirkliches Risiko, weil Moskau bei Überschreitung von roten Linien zwar drohe, aber bislang nicht reagiert habe. Selbst auf den Einmarsch von ukrainischen Truppen in Kursk hat Moskau nicht wirklich reagiert.
Schon lange wird, auch innerhalb der Regierung etwa von Außenminister Blinken, Druck auf Biden ausgeübt, der Ukraine die völkerrechtlich legitime, aber eben hochriskante Möglichkeit zu eröffnen. Kiew selbst will nicht nur die westlichen Raketen nutzen, sondern freie Hand haben, also auch nicht-militärische Ziele angreifen zu können: „We have to remove all the obstacles and limitations with the use of British equipment, American equipment in the territory of Russia against military targets“, sagte gestern der neue ukrainische Außenminister Andrii Sybiha.
Biden scheint in den letzten Tagen seiner Präsidentschaft zumindest eine weitere Lockerung zu beabsichtigen, vielleicht auch nur Großbritannien und Frankreich gestatten zu wollen, der Ukraine freie Hand für Storm Shadow und SCALP zu geben. Blinken hat wieder deutlich gemacht, dass es Washington nicht um eine Beendigung des Kriegs durch Verhandlungen geht, sondern dass die Ukraine siegen muss: „Die Quintessenz ist folgende: Wir wollen, dass die Ukraine gewinnt. Und wir sind fest entschlossen, ihren tapferen Verteidigern und Bürgern auch weiterhin die nötige Unterstützung zukommen zu lassen, um genau das zu erreichen.“
Bei der Entscheidung geht es eigentlich darum, offen den Einsatz weitreichender Waffen auf russische Ziele in großer Entfernung zu gewähren. Die Ukraine hat die Raketen allerdings bereits für Angriffe genutzt, bei denen auch, absichtlich oder nicht, zivile Strukturen getroffen wurden. Mit Patriot-Raketen wurden bereits mehrere russische Kampf- und Aufklärungsflugzeuge teils über russischem Territorium abgeschossen.
Zudem entwickelt die Ukraine eigene Raketen und Drohnen mit einer Reichweite von 1000 km und mehr. Anatolii Khrapchynskyi, Vizedirektor eines Herstellers von Systemen der Elektronischen Kriegsführung und Flugzeugexperte, wird in ukrainischen Medien zitiert. Nach ihm können ukrainische Drohnen bis zu 3000 km fliegen. So ist gestern angeblich der Luftwaffenstützpunkt Olenya in Murmansk angegriffen worden, 1800 km von der Ukraine entfernt. Auch Moskau war wieder angegriffen worden. Die Angriffe auf das russische Hinterland werden auch ohne die westlichen Waffen längst geführt.
Die der Ukraine gelieferten Storm Shadow-Raketen sollen hingegen nur eine Reichweite von 250 km, die ATACMS-Raketen von 300 km haben. Die Lieferung der weiter reichenden Versionen ist meines Wissens nach nicht im Gespräch. ISW hat schon mal gelistet, welche militärischen Ziele in Russland damit angegriffen werden können. Da die Ukraine kaum mehr ATACMS-Raketen haben soll, raten Vertreter des Pentagon, so CNN, dazu, sie lieber gegen Ziele auf der Krim und gegen die Schwarzmeer-Flotte zu richten. Russland hingegen soll schon Tausende von Kamikaze-Langstreckendrohnen namens Garpiya gebaut und erste schon eingesetzt haben, die eine Reichweite von 1500 km haben sollen, berichtet Reuters.
Auch in Deutschland ist die Situation ähnlich. Bislang hat sich Bundeskanzler Scholz trotz Kritik auch aus der Ampel geweigert, der Ukraine Taurus-Raketen zu geben. Auch CDU/CSU und vor allem viele Medienvertreter sind Befürworter der Eskalation, während die erstarkende Opposition durch AfD und BSW vor dieser warnen. Scholz kann sich bis jetzt auf die Rückendeckung durch Washington verweisen, falls Biden aber seine Meinung ändert, wird man sehen müssen, ob er und die SPD an der Entscheidung festhalten werden. Hauptargument von Scholz ist, dass wegen der komplizierten Technik Taurus ebenso wie Storm Shadow oder ATACMS nur von der Ukraine benutzt werden können, wenn Nato-Soldaten mitwirken.
Russland hat bereits die meisten Kampfflugzeuge so weit zurückgezogen, dass Storm Shadow- und ATACMS-Raketen nicht mehr erreichen können. Gestern war der russische Präsident Putin auf die Konsequenzen einer möglichen Freigabe der weitreichenden westlichen Raketen eingegangen. Auch für ihn können die Ukrainer diese Waffensysteme nicht alleine bedienen. Daher gehe es nicht darum, der Ukraine deren Einsatz zu erlauben, sondern ob die Nato-Länder direkt am Krieg beteiligt werden:
„Wenn diese Entscheidung getroffen wird, bedeutet dies nichts weniger als eine direkte Beteiligung – es bedeutet, dass die NATO-Länder, die Vereinigten Staaten und die europäischen Länder Parteien des Krieges in der Ukraine sind. … Das bedeutet, dass sich die NATO-Länder – die Vereinigten Staaten und die europäischen Länder – im Krieg mit Russland befinden. Und wenn dies der Fall ist, dann werden wir angesichts der Veränderung des Wesens des Konflikts angemessene Entscheidungen treffen, um auf die Bedrohungen zu reagieren, die sich für uns ergeben werden.“ Putin ließ offen, welche Reaktionen angemessen wären, was sich wieder so auslegen ließe, dass er zwar droht, aber weiterhin keinen Krieg mit der Nato riskieren will.
“Alle Gegner müssen davon überzeugt sein, dass Russland zum Einsatz von Atomwaffen bereit ist”
Im Hintergrund wird der Kreml aber gedrängt, die Abschreckung glaubhaft hochzufahren. Dabei geht es auch um eine Neufassung der Atomdoktrin. Nach ihr können Atomwaffen eingesetzt werden, wenn Russland mit Atomwaffen angegriffen wird oder wenn ein Angriff mit konventionellen Waffen die Existenz Russlands bedroht.
Da ist zum Beispiel der politische Wissenschaftler Sergej Karaganow, der früher Berater von Jelzin und Putin war, Ehrenvorsitzender des Präsidiums des Rats für Außen- und Verteidigungspolitik und tief verwurzelt in der Kreml-Welt ist und der gerade erst mit Putin über Atomwaffen und die Atomdoktrin gesprochen hat. Er hat den Krieg gegen die Ukraine befürwortet und sich für präventive nukleare Angriffe auf Nato-Staaten zur Abschreckung ausgesprochen. Die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen in der Atom-Doktrin müsse gesenkt werden, fordert er. Jetzt gab er Kommersant ein Interview, in dem er forderte, dass Russland auch auf nicht-nukleare Angriffe mit Atomwaffen reagieren können soll: „Es ist an der Zeit zu erklären, dass wir das Recht haben, auf jeden massiven Angriff auf unser Territorium mit einem Atomschlag zu reagieren. Das gilt für jede Besetzung unseres Territoriums.“

Karaganow ist alles andere als ein Pazifist und als Spiegelbild der westlichen Kriegsbefürworter der Meinung, dass die bestehende Atomwaffendoktrin die beabsichtigte Abschreckung nicht leistet. Das aber müsse sie für Russland und auch für die Welt leisten, argumentiert er: „Das Hauptziel der Doktrin sollte darin bestehen, sicherzustellen, dass alle gegenwärtigen und zukünftigen Gegner davon überzeugt sind, dass Russland zum Einsatz von Atomwaffen bereit ist. Das ist nicht nur unsere Pflicht gegenüber unserem Land und unseren Bürgern, die jetzt an den Fronten und selbst jetzt in friedlichen Städten sterben, es ist unsere Pflicht gegenüber der Welt. Wenn wir die nukleare Abschreckung nicht wieder aktivieren, wird die Welt in eine Reihe von Kriegen geraten, die unweigerlich nuklearer Natur sein werden und in einem dritten Weltkrieg enden.“
Karaganow spricht sich nicht für eine nukleare Abrüstung aus, er sieht die nukleare Aufrüstung wie im Kalten Krieg als paradoxen Garanten für die Verhinderung von großen und nuklearen Kriegen. Die Frage ist, wie eine glaubhafte Abschreckung aussehen soll. Offensichtlich durch die Veränderung der Doktrin. Aber auch durch einen Einsatz von Atomwaffen?
„Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem unsere Gegner glauben, dass wir unter fast keinen Umständen Atomwaffen einsetzen werden. Als wir vor anderthalb Jahren begannen, über die Notwendigkeit einer Verschärfung unserer Atomdoktrin zu sprechen, und ich kann sagen, dass ich mich aktiv an dieser Diskussion beteiligt habe, wurde es still. In amerikanischen Publikationen erschienen plötzlich nacheinander Veröffentlichungen über die Notwendigkeit, eine nukleare Eskalation mit allen Mitteln zu verhindern. Die Europäer haben völlig den Verstand verloren, verstehen nicht, was sie tun, und haben vergessen, was Krieg ist. Die Amerikaner begannen sich viel vorsichtiger zu verhalten.“
Deutschland ist für Karaganow im Visier: „Wenn wieder eine Drohne in den Kreml fliegt, warum dann nicht zuerst einen regulären Raketenangriff auf den Reichstag starten? Lass ihn brennen. Wenn die Deutschen ihre abscheulichen Verbrechen vergessen haben, die niemals vergessen werden sollten, sollten sie daran erinnert werden.“ Immerhin sagt er, dass in jedem Fallnuklearen Angriffen präventive nichtnukleare Angriffe vorausgehen“ müssen. Gefragt, was passieren müsste, wenn der Kreml erneut mit einer Drohne angegriffen wird, sagte er, die Gegner müssten wissen, dass der russische Präsident die Entscheidung über den Beginn eines Atomkrieges treffen wird und sich darauf vorbereitet hat: „Wenn der Feind diese Bereitschaft versteht, wird es mit ziemlicher Sicherheit keine Drohnenangriffe auf den Kreml geben.“
Erstveröffentlicht im Overton Magazin v. 13.9. 2024
Washington: Freie Hand für westliche Langstreckenwaffen, weil die Ukraine siegen muss?
Wir danken für das Publikationsrecht.