Putin greife die Nato an. Wie die Menschen in ein Desaster manipuliert werden, das weit realistischer ist als diese höchst unwahrscheinliche Voraussage.
Von Hans-Peter Waldrich
Bild: seemoz
Vergleicht man die heute grassierenden Ängste rund um den Ukrainekrieg, so ist eines deutlich: Was eher unwahrscheinlich, vielleicht sogar ganz angeschlossen ist, das macht große Angst. Fast überhaupt keine Angst macht dagegen, was sehr leicht passieren könnte und gewiss die mit Abstand größte Gefahr darstellt.
Ängste werden medial erzeugt
Freilich gilt die Regel: Angst machen nur Gefahren, von denen man weiß. Bedrohungen überhaupt wahrzunehmen, verlangt Information. Somit sind es in der Massengesellschaft vor allem die Medien, die darüber entscheiden, was als Gefahr angesehen wird und was nicht. Wie eine Ware muss eine Gefahr „beworben“ werden, ohne Reklame dafür ist sie nicht existent. „Hier bitte hinschauen und sich ängstigen!“ lauten mediale Botschaften. „Hier ist etwas zum Fürchten – dort drüben ist es nicht!“
Dementsprechend haben nur diejenigen Ängste eine Chance sich auszubreiten, die den jeweiligen politischen Eliten genehm sind. Sich vor etwas zu fürchten, das den Eliten keine Zustimmung sichert, sollte unterbleiben. Dann heißt es: Angst ist ein schlechter Ratgeber, wer wird denn hier Angst haben! Es gibt also „gute“ und „schlechte“ Ängste.
Die „gute“ Angst
Kommen wir zunächst zur „guten“ Angst. Zurzeit lautet sie: Putin wird die Nato angreifen! Wer die Botschaft hört, sieht Putin vor der Haustüre stehen. Zunächst wird er im Baltikum einmarschieren, dann sich Richtung Polen bewegen und schließlich – wer weiß – auch Köln oder Paris erreichen.
Eine „gute“ Angst also. Schrecklich unrealistisch zwar, aber funktional für die Eliten. Die Botschaft lautet: Putin ist ein zweiter Hitler, nichts Anderes als ein Eroberer und er verfügt über unbeschränkte Macht. Mit allen denkbaren Mitteln muss er deshalb gestoppt werden. Wohlgemerkt: Mit allen Mitteln, koste es, was es wolle. Und das ist wörtlich zu nehmen. Der totale Einsatz ist gefragt. Haltet euch bereit!
Während also nicht wenige Menschen vor Putin, dem Teufel in Menschengestalt zittern, kommt die wirkliche Gefahr aus einer ganz anderen Ecke. Aber in diese Richtung schaut kaum jemand. Denn unser medial betreutes Denken sieht hier nichts. Was die „Qualitätsmedien“ ausblenden, wo sie Blindheit verordnen, da ist gähnende Leere.
Die „schlechte“ Angst, aber real
Wovon rede ich? Schlicht vor der ganz realen Gefahr eines alles zerstörenden Atomkriegs. Europa, gar die Welt in Flammen, ein langsames Sterben, das Ende unserer Zivilisation, vielleicht das Ende der Menschheit.
Den Manipulateuren der Angst kommt freilich entgegen, dass eine so gewaltige Katastrophe unsere Vorstellungskraft übersteigt. Apokalypse-Blindheit gehört zur Alltagsausstattung von Homo Sapiens. Nur zu gerne wähnen wir, dass so unendlich Schreckliches, eben weil es so schrecklich ist, niemals eintreten wird. Ein Fehlschluss leider. Doch die Manipulateure bauen auf ihm auf.
Vergleichen wir einmal die beiden Ängste miteinander. Angst Nummer eins: Putin greift die Nato an. Gewiss nicht restlos ausgeschlossen, aber doch äußerst unwahrscheinlich. Der Kürze halber nur wenige Zahlen: Nach verschiedenen Berechnungen liegen die Militärausgaben der Nato zwischen dem 15 und dem 20-fachen der russischen. Die Nato hat insgesamt das 3,6-fache an Soldaten unter Waffen. Bei schweren konventionellen Waffen ist die Nato so gut wie haushoch überlegen. Nur im Hinblick auf Atomwaffen hat Russland einen Vorsprung. Auf seine nukleare taktische Streitmacht legt Russland großen Wert. Durch nukleare Waffen gleicht Russland seine konventionelle Unterlegenheit aus.
Im Vergleich ist die erste der beiden Ängste also nahezu gegenstandslos. Schauen wir auf die zweite Angst, die vor dem Atomkrieg. Könnte es zu einer nuklearen Auseinandersetzung kommen? Politikwissenschaftler warnen seit Langem: Ja, dazu könnte es kommen. Und zwar vor allem, sofern Russland so sehr unter Druck gesetzt wird, dass es auf die nächste Stufe der Eskalation wechselt und die atomare Schwelle übertritt.
Wie der Westen, wie die USA dann reagieren würden, steht in den Sternen. Zwar ist in den USA eine Sonderkommission genau für diese Frage eingesetzt worden. Ob sich hierzulande irgendjemand darüber den Kopf zerbricht, ist unbekannt. Das weit wahrscheinlichere und äußerst bedenkliche Risiko wird ausgeblendet, medial und wohl auch auf Regierungsebene. Devise: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.
Was wäre auch mit Ängsten anzufangen, die den Atomkrieg befürchten? Die Menschen könnten auf die Idee verfallen, Zivilschutz zu fordern, Informationen darüber, wie sie sich im Fall des Falles zu verhalten hätten. Sie könnten statt der zunehmend sinnlosen Ausgaben für Waffen nach preiswerteren Wohnungen rufen. Überhaupt könnte die ganze Fragwürdigkeit der „Zeitenwende“ ins Bewusstsein treten.
Denkt Putin offensiv oder defensiv?
Wer aber auf Putin, den Gottseibeiuns, den Satan mit blutunterlaufenen Augen starrt, der stellt solche Fragen nicht mehr. Ist Putin identisch mit Hitler, wissen wir genau, was er vorhat. Er will das Imperium Russland wiederherstellen, vielleicht die Welt erobern. Was denn sonst? Zu fragen, ob seine Absichten eher defensiv sind, er nicht erobern, sondern – aus seiner Warte gesehen – verteidigen will, darf nicht einmal in Erwägung gezogen werden.
Dabei ist genau dieser Unterschied entscheidend: Ob eine Macht von offensiven oder defensiven Motiven angetrieben wird, bestimmt ihr Handeln in jeweils ganz verschiedene Richtung. Könnte es nicht sein, dass Putin schlicht die Ukraine als russische Einflusssphäre betrachtet? Etwa so, wie die USA Mittelamerika stets als Einflusssphäre definiert haben? Dass er nicht will, dass Nato und Atomwaffen allzu dicht an seinen Grenzen stehen? Ganz in der Weise, wie es auch die USA in der Kubakrise im Hinblick auf ihre Grenzen sahen? Dafür spricht vieles und es wäre defensiv motiviert. Eroberungen im Stile Hitlers wären ein offensives Konzept.
Wie auch immer: Angst Nummer eins (gewissermaßen die offizielle Angst wenigstens hier in Deutschland) würde voraussetzen, dass Putin ein offensiver Imperator ist. Und während er zugleich ein Wahnsinniger sein müsste, würde er die Nato angreifen wollen, müssten wir sicher wissen, dass diese Interpretation seiner Absichten die richtige ist. Niemand aber kann das beweisen.
Angst Nummer zwei: Putin müsste auch wahnsinnig sein, wenn er zu Atomwaffen greift. Gleichwohl ist dieser Wahnsinn um vieles wahrscheinlicher. Man stelle sich vor, der Sieg der Ukraine über Russland stünde an. Ganz so, wie es bei uns öffentlich ausgerufen wird. Der Westen hätte so lange interveniert und immer härtere Waffen geschickt, bis Russland schließlich das Handtuch wirft. Wie realistisch ist es anzunehmen, Putin würde mit einem Winseln den Schwanz einziehen und sich in seine Datscha zurückziehen? Oder gar Reparationen an die Ukraine zahlen, um Vergebung bitten?
Realangst wird umgeleitet
Hier bekommt Angst Nummer zwei ihr Gewicht. Weil das völlig unrealistisch ist, und Putin viel wahrscheinlicher sich mit allen – tatsächlich allen! – Mitteln gegen den Eintritt dieser Situation wehren wird, kann diese zweite Angst als wohlbegründet angesehen werden. Die Angst vor dem atomaren Inferno ist eine Realangst. Realängste sind Ängste, die uns warnen wollen. Psychologisch gesehen hat Realangst eine Warnfunktion. Die Evolution wusste – sozusagen – was sie tat, als sie diese Angst einrichtete.
Doch durch die Umleitung dieser Realangst auf die Furcht vor dem Monster Putin, kann auch angesichts des größten nur denkbaren Risikos, eines Risikos für die gesamte Menschheit, des finalen nuklearen Knalls, eine Politik der Ignoranz betrieben werden. Bedenken- und gedankenlos zündelt man immer weiter.
Da wird mit dem Eingreifen westlicher Truppen gedroht, Atomwaffen sollen in unmittelbarer Nähe der russischen Grenze aufgestellt werden, gefordert wird, die Kommandostationen Russlands zu bombardieren und überhaupt den Krieg offensiv nach Russland hineinzutragen.
Wir befinden uns also unmittelbar in einer heftigen hegemonialen Auseinandersetzung. Einem zweiten Kalten Krieg, der schon lange heiß ist. Eher noch als bei allen Krisen der Vergangenheit könnte unversehens ein Kipppunkt erreicht sein. Dann könnte es blitzschnell todernst werden.
Als es noch Menschen gab, die falsche Ängste von Realängsten unterscheiden konnten, veröffentlichte der renommierte Philosoph Ernst Tugendhat ein Buch mit einem bezeichnenden Titel: „Nachdenken über die Atomkriegsgefahr und warum man sie nicht sieht“. Könnte es nicht sein, so schreibt er, „dass bei dem bevorstehenden Holocaust, diejenigen von uns, die nicht sofort tot sind, diejenigen, die noch Waffen haben sollten, von sich aus bitten würden, sie und ihre Kinder zu erschießen, und dass wir, sollte es noch Gaskammern geben, freiwillig an ihren Toren Schlange stehen würden.“
Tugendhat forderte den „Mut zur Angst“. Natürlich meinte er eine realistische Angst.
Erstveröffentlichtt im Overton-Magazin v. 23.5. 2024
https://overton-magazin.de/hintergrund/gesellschaft/falsche-und-richtige-aengste/
Wir danken dem Autor für das Publikationsrecht.