von Hans-Jürgen Urban
Der zunehmende Rechtspopulismus ist bekanntlich weder ein homogenes noch ein singulär deutsches Ereignis. Sein Aufstieg hat vielfältige Ursachen und ist sowohl in Ländern des westlichen Kapitalismus als auch in den Transformationsgesellschaften des ehemaligen Staatssozialismus zu beobachten.[1] Dabei wird das Phänomen politisch wie wissenschaftlich höchst unterschiedlich betrachtet. Während die eine Sichtweise den Ursprung autoritären und rassistischen Denkens in der Mitte der Gesellschaft verortet, machen andere die ehemals sozialstaatlich versorgten, jetzt aber vom Abstieg bedrohten Bevölkerungsgruppen als Träger des Rechtspopulismus aus.[2]
Eines allerdings ist den Analysen gemein: Bisher wird der Rechtspopulismus vorwiegend als Gefahr für das Parteiensystem und die parlamentarische Demokratie diskutiert – und dies noch verstärkt, seit die „Alternative für Deutschland“ (AfD) nach der Bundestagwahl 2017 mit einer über neunzigköpfigen Fraktion in den Bundestag eingezogen ist. Weit weniger Aufmerksamkeit findet dagegen der Umstand, dass er auch den Gewerkschaften erheblich zu schaffen machen könnte. Beide, Demokratie und Gewerkschaften, drohen im Übergang zum neoliberalen Finanzmarktkapitalismus unter die Räder zu geraten und sind keineswegs davor gefeit, zur Beute der rechtspopulistischen Aggression zu werden.
Vor allem die Gewerkschaften spüren zunehmend den rechten Atem im Nacken. Wie empirische Studien zeigen, sympathisieren schon heute auch Gewerkschaftsmitglieder mit rechtspopulistischen Parteien und Deutungsmustern.[3] Doch so alarmierend rechte Affinitäten in der Mitgliederbasis bereits sind, die rechtspopulistische Bewegung könnte darüber hinaus die Erosion gewerkschaftlicher Macht insgesamt befördern. Das wäre der Fall, würde sie sich erfolgreich als (vermeintliche) „interessenpolitische Konkurrenz von rechts“ zu den Gewerkschaften etablieren. Dieser Artikel stammt aus der Ausgabe März 2018. Klicken Sie hier, um zur Inhaltsübersicht dieser Ausgabe zu gelangen.
Genau das ist keineswegs ausgeschlossen. Der Rechtspopulismus bezieht sich in seiner politischen Rhetorik wie in seinem Entstehungskontext explizit auf Umbrüche in den wohlfahrtsstaatlichen Feldern, in denen er sich als Konkurrent zu Gewerkschaften und links-reformistischen Parteien zu profilieren sucht. Günstige Voraussetzungen dafür liefert die Zersetzung sozialer und kultureller Sicherheiten, die der nationale Wohlfahrtsstaats-Kapitalismus versprochen hatte und der globale Finanzmarktkapitalismus fortlaufend dementiert. Doch mehr noch: Von Anfang März bis Ende Mai finden im Organisationsbereich der IG Metall in 11 000 Betrieben Betriebsratswahlen statt, bei denen etwa 78 000 Mandate zu erringen sind. Seit geraumer Zeit häufen sich die Anzeichen dafür, dass die Neue Rechte dieses Momentum nutzen will, ihren Einfluss in den Unternehmen auszudehnen. Bisher scheint sich die Anzahl rechter Listen im Promillebereich zu bewegen und die Anerkennung der IG Metall und ihrer Betriebsräte als der authentischen Interessenvertretung der Belegschaften nicht umfassend gefährdet. Doch einen Anlass zur politischen Entwarnung kann diese Diagnose nicht liefern. Die Gefahr ist virulent und Gegenwehr unverzichtbar.
Rechtspopulismus als regressive Rebellion
Der vordringende Rechtspopulismus ist also weit mehr als ein bloß parteipolitisches Phänomen und die Wahlerfolge der AfD sind lediglich der parlamentarische Ausdruck tiefgreifender gesellschaftlicher Strukturbrüche, die seit Jahren im Gange sind. Aus einer soziologisch-kapitalismustheoretischen Perspektive lässt sich der Aufstieg des Rechtspopulismus als Bestandteil jener „großen Regression“[4] fassen, die erreichte Standards an Sozialstaat, Demokratie und Pluralismus infrage stellt. Diese Regression resultiert aus dem Zusammenspiel von ökonomischer Globalisierung und politischer Deregulierung und befördert die oft beschriebene Transformation des Wohlfahrtsstaats-Kapitalismus in einen „postdemokratischen“, „autoritären Kapitalismus“.[5] Die Folgen sind schwindender sozialer Zusammenhalt und eine verstärkte subjektive Verunsicherung, die einen Akzeptanzverlust von demokratischen Regeln und kultureller Diversität in der Bevölkerung nach sich ziehen.
Die populistische Bewegung entstand und expandiert in diesem Kontext. Sie kann somit als eine regressive und inszenierte Rebellion gegen die sozialen, politischen und kulturellen Folgeschäden des Neoliberalismus gefasst werden. Regressiv, weil die Narrative des Rechtspopulismus den Weg in einen Gesellschaftszustand skizzieren, der hinter die erreichten Standards an politischer Demokratie und kultureller Diversität zurückfällt. Inszeniert, weil die Rebellion gegen den Kapitalismus dessen Machtstrukturen sowie seine Verteilungsverhältnisse weder ankratzt noch gar grundlegend infrage stellt. Stattdessen werden soziale Unsicherheit und fehlende kulturelle Anerkennung als Sprungbretter der populistischen Anrufung genutzt, die mit den kapitalistischen Besitz- und Verteilungsverhältnissen sehr wohl kompatibel ist.
Treiber der rechtspopulistischen Bewegung
Auch wenn aufgeregte Talkshows mitunter einen anderen Eindruck erwecken, der Populismus fiel nicht vom Himmel. Die vielfach als Zäsur betrachteten Wahlerfolge der AfD sind lediglich der parlamentarische Ausdruck gesellschaftlicher Strukturbrüche, die seit Jahren im Gange und mitunter durchaus Gegenstand wissenschaftlicher oder öffentlicher Debatten sind. Zu nennen sind die umfänglich analysierten sozialen Ungleichheitsstrukturen, die auf einer eklatanten Ungleichverteilung von Einkommen, Vermögen und sozialen Bildungs- und Lebenschancen beruhen und die Aufspaltung in kulturelle Milieus befördern.[6] Vielfach diagnostiziert wurden auch demokratiefeindliche und rassistische Phänomene „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ (W. Heitmeyer), bei der das Empfinden eigener Machtlosigkeit zu einer Entfremdung vom demokratischen System beiträgt. Schließlich verweist die Politikwissenschaft seit langem auf eine „Repräsentationskrise der politischen Demokratie“. Die empirische Wahlforschung beschreibt die Transformation sozialer in politische Ungleichheit und zeichnet die Linien der sozialen Segregation im Wahlverhalten nach.[7]
Die Behäbigkeit, mit der die Funktionseliten auf diese Krisendynamiken reagierten, dürfte die Geringschätzung in der Bevölkerung gegenüber der Demokratie und ihren Spielregeln befördert haben. Soziale und kulturelle Umbrüche verstärken Zukunftsängste in der traditionellen Arbeiterschaft wie in der Mittelschicht und bringen latente rechte Einstellungsmuster in Schwingung. Diese lassen sich keineswegs nur bei denjenigen beobachten, deren materielle Lage sie als Modernisierungs- oder Globalisierungsverlierer ausweisen. Im Gegenteil: Tendenziell können sich eher Personen mit mittlerer und höherer Statuslage vorstellen, die AfD zu wählen.[8]
Die soziale Spaltung der Gesellschaft spiegelt sich auch im gesellschaftlichen Identitäts- und Anerkennungsregime. Andreas Reckwitz sieht einen durch Ökonomie (Übergang zur creative economy) und Technologie (digitale Revolution) getriebenen Übergang von der industriellen Moderne zur postindustriellen Spätmoderne am Werk, der von einem sozialen und kulturellen „Paternoster-Effekt“ begleitet wird.[9] Die Gesellschaft spalte sich in eine aufsteigende und ressourcenstarke Mittelklasse und in eine absteigende und ressourcenschwache Unterklasse. Der Lebensstil der neuen Mittelklasse und seine einzelnen Elemente wie Kreativität, Stilbewusstsein, Unternehmergeist und Kosmopolitismus werden zu gesellschaftlichen Maßstäben eines erfolgreichen Lebens. Die Lebensstile der Unterklasse werden dagegen als Elemente einer Kultur der Verlierer und der Abgehängten bewertet – von außen, aber auch durch ihre Träger selbst. „In der gesellschaftlichen Repräsentation und der subjektiven Selbstwahrnehmung betrifft Ungleichheit nun nicht nur materielle Ungleichheit, sondern auch und gerade kulturelle Unterschiede in den Kompetenzen, im Ethos, in der Alltagsästhetik und insgesamt im anerkannten Wert oder der Wertlosigkeit eines Lebensstils.“[10] Es ist diese „Kulturalisierung der Ungleichheit“, die den Mitgliedern der neuen Unterklasse die Entwertungserfahrung von Biographie, Leistung und Lebensstil beschert, die sie für die rechtspopulistische Propaganda sozialer und kultureller Homogenität öffnet und empfänglich macht.
Desintegration und Identitätskrisen hinterlassen ein Orientierungsvakuum, in das eine professionalisierte Rechte mit ihren Deutungsangeboten systematisch vorstößt. Der traditionelle linke Sozialreformismus erscheint hingegen weder fähig noch willens, dem Bedürfnis nach einer zeitgemäßen Kollektividentität durch progressive Angebote zu entsprechen.[11] Die rechtspopulistische Erzählung, so ließe sich im Anschluss an Louis Althusser sagen, ruft das resignierte Individuum als Subjekt an und strukturiert zunehmend seine Praktiken.[12] Sie aktiviert vorhandene Ressentiments und formt aus der latenten Demokratie- und Diversitätsablehnung eine soziale Bewegung. Der Rechtspopulismus ist also ungeachtet seiner heterogenen sozialen Basis auch ein Projekt regressiver Rechts-Eliten. Sie bieten Orientierungen an und fangen über die Aufwertung verunsicherter Individuen zu Subjekten einer Bewegung leerlaufende Kollektivitätsidentitäts-Bedürfnisse auf.
Die kosmopolitische Elite und die Subalternen
Diese elite-ideologische Komponente der rechtspopulistischen Erfolgsstory sollte im aufgeregten Streit über die Demokratieunfähigkeit der sozialen Abstiegsgruppen nicht unter den Tisch fallen. Mitunter scheint gerade in der linken Debatte die traditionsreiche Aversion bildungsbürgerlicher Milieus gegenüber dem „Pöbel“ der Arbeiterklasse eine Renaissance zu erfahren. Die Wahlstimmen aus der Arbeiterschaft für rechte Parteien und nicht zuletzt der Wahlsieg Donald Trumps signalisierten das „diesmal wirklich unwiderrufliche Ende einer politischen Utopie“, nach der die Arbeiterklasse als Träger einer progressiven Gesellschaftsveränderung aufzufassen sei.[13]
Gegenüber dieser Sicht der Dinge kann der Verweis auf die Empirie nicht schaden. Diese weist dem vermeintlichen „Arbeiterklassen-Pöbel“ jedenfalls keine Alleinschuld am Aufstieg rechter Demokratieablehnung zu. Vielmehr diagnostiziert sie auch in den eher statussicheren Sozialschichten Mitschuldige, die sich mit ihrer Verachtung der Subalternen nun unwiderruflich bestätigt sehen. Auch die schlichte Beobachtung, dass die AfD die Politikarenen der deutschen Demokratie nicht als „Harz IV“-Partei, sondern als politischer Kampfverband angesehener und situierter Professoren betrat, sollte in der Analyse zu ihrem Recht kommen.
Und schließlich wird in einer reflektierten Bildungselite durchaus selbstkritisch gefragt, ob ein „überzogener Kosmopolitismus“, der „selbstgefällig, behäbig und taub gegen die ‚da unten‘ geworden“ sei, nicht auch dazu tendiere, die Bessergestellten zu „Hütern des Status quo“ werden zu lassen, „während die Arbeiterschaft und die unteren Schichten, für die eine gerechtigkeitsorientierte Politik eigentlich eintreten müsste, in Heerscharen zu den Rechtspopulisten überlaufen.“[14] Zeit also, so ließe sich die Pöbel-These ironisch wenden, sich diesmal wirklich und unwiderruflich von der Utopie zu verabschieden, von sozial privilegierten, kosmopolitisch fixierten Eliten könnten jemals Solidarität mit den Subalternen oder ein Engagement für Verteilungsgerechtigkeit ausgehen.
Besser nicht. Offenbar ist keines der soziokulturellen Milieus gänzlich immun gegenüber der rechtspopulistischen Anrufung und es laufen alle Gefahr, zum „reaktionären Subjekt“ (Micha Brumlik) zu mutieren. In der Gesamtschau verweisen die Beobachtungen doch eher auf den multikausalen Charakter der rechtspopulistischen Bewegung, dem mit monokausalen Erklärungen und Gegenstrategien nicht beizukommen sein dürfte.
Sozialopportunismus von rechts
Der Rechtspopulismus zieht jedenfalls seine eigenen Schlüsse. Längst integriert er die sozialen Entstehungsfaktoren in eine programmatische Erweiterung, die ihn für Gewerkschaften zu einem gefährlichen Gegner macht. Für die Eroberung wohlfahrtsstaatlicher Politikfelder spielt dabei die „Entdeckung“ der „sozialen Frage“ durch den Rechtspopulismus eine wichtige Rolle. Sie kann als eine sozialopportunistische Strategieergänzung gefasst werden, um in traditionell eher links besetzte, proletarische Wählermilieus vorzustoßen.[15] Das aus der Institutionen-Ökonomie bekannte Phänomen „opportunistischen Verhaltens“ setzt auf individuelle Nutzenmaximierung durch eine möglichst kostensparende Strategieanpassung.[16] Die Hinwendung des Rechtspopulismus zu Wohlfahrtsstaatsfragen und die rhetorische Anknüpfung an die wachsende soziale Ungleichheit folgen exakt dieser Rationalität sozialen Verhaltens.
Sollte dieser rechte Sozialopportunismus weiterhin auf fruchtbaren Boden fallen, dürfte das den sozialpolitischen Diskurs in der Gesellschaft erheblich verschieben. Nationalistische Abschottungsstrategien, Reservierung sozialstaatlicher Ansprüche für deutsche Staatsbürger und Staatsbürgerinnen und die generelle Umdefinition der Oben-unten-Konfliktlinie in eine Insider-Outsider-Konfliktachse sind heute bereits in Rhetorik und Politik etablierter Parteien angekommen. Ambitionen von Gewerkschaften und anderen sozialreformistischen Akteuren, die auf die Öffnung und soziale Re-Regulierung nationaler Arbeitsmärkte und eine Transnationalisierung sozialer Rechte in europäischen und globalen Räumen zielen, würden weiter in die Defensive geraten.
Mehr noch: Den Gewerkschaften kann in ihren Zentralarenen und den Bastionen ihrer Organisationsmacht, den Betrieben und Arbeitsstätten, schnell eine höchst gefährliche Konkurrenz erwachsen. Da sich viele der aktuellen Krisendynamiken in den Betrieben bündeln, ist ihre Aufwertung in der rechtspopulistischen Agitation durchaus konsequent.[17] Diese findet durch rechtspopulistische Politikangebote bei betrieblichen Konflikten und bekennende Kandidaten oder eigene Listen bei Betriebs- oder Personalratswahlen statt.[18] So startete etwa die dem extrem nationalistischen Flügel der AfD zuzuordnende Rechte gemeinsam mit Pegida-Aktivisten eine Kampagne zu den Betriebsratswahlen im Frühjahr 2018, in der „deutsche Patrioten“ für „deutsche Arbeiter“ antraten und in der mit einer pseudokapitalismuskritischen und vor allem gegen die DGB-Gewerkschaften gerichteten Rhetorik über das Projekt einer „Gewerkschaft von rechts“ sinniert wurde.[19] Diese wie andere Aktivitäten können sich auf einen organisatorischen Unterbau stützen, der aus dem Umfeld des rechten Polit-Magazins „Compact“ bereitgestellt wird, das längst zu einer Art Kommunikations-Agentur mit einer hochprofessionellen Öffentlichkeits- und Diskursarbeit ausgebaut wurde. Auch bei der Mobilisierung von Belegschaften und Regionen zur Verteidigung von Arbeitsplätzen und Standorten stehen die Gewerkschaften immer öfter vor der Anforderung, sich politischer Trittbrettfahrer von rechts zu erwehren. Mit rassistisch verzerrten Krisendeutungen und chauvinistischen „Lösungsvorschlägen“ versuchen diese in mitunter stark emotionalisierten Konfliktsituationen den Gewerkschaften die Deutungshoheit streitig zu machen und die mediale Öffentlichkeit für eigene Agitationszwecke zu nutzen.[20]
Klassenpolitik und Kulturkampf
Evident ist: Die Gewerkschaften stehen nicht alleine in der Verantwortung, den Rechtspopulismus in Betrieben und Gesellschaft zurückzudrängen. Wollen sie ihren Beitrag gegen die Etablierung des rechtspopulistischen Konkurrenten in den sozialpolitischen Arenen leisten, bedarf es der Aufwertung der Gefahr von rechts in den gewerkschaftlichen Strategiedebatten und sodann der aktiven Mitarbeit an einer Gegenerzählung. Diese muss der neoliberalen Transformation eine alternative Transformationsperspektive entgegensetzen. Eine Perspektive, die Solidarität und Demokratie universalisiert und somit diejenigen, um die der rechte Sozialopportunismus buhlt, in ein progressives Politikprojekt einbindet.
Entsprechende Interventionen müssen im Alltag erfahrbar sein und zugleich in die ökonomisch-sozialen wie in die kulturell-identitären Welten des Gegenwartskapitalismus hineinreichen. Dabei kann auf Klassenpolitik zur Wahrung der materiellen Reproduktionsbedingungen der abhängig Arbeitenden nicht verzichtet werden. Die auch in der Linken beliebte „Entsorgung der Klassenfrage“[21] verstellt den Blick auf die sozialen Interessenverletzungen und Prekarisierung im Übergang zum neoliberalen Finanzmarktkapitalismus und verfehlt damit wesentliche Treiber kultureller Identitätskrisen und rechter Einstellungsmuster. Unverzichtbar ist jedoch auch der Kulturkampf gegen den um sich greifenden Alltagsrassismus. Denn auch ein Mehr an Statussicherheit und Verteilungsgerechtigkeit verwandelt Rassismus nicht automatisch in Humanismus.
Eine Antwort könnte in einer „inklusiven Demokratiepolitik“ bestehen, die den sozialen, kulturellen und politischen Desintegrationstendenzen ein Projekt der Reintegration entgegensetzt. Wenn soziale Deprivation, kulturelle Anerkennungskrisen und ideologische Anrufungen als Treiber rechtspopulistischer Bewegung erkannt werden, enthält diese Analyse Hinweise für eine Gegenstrategie. Diese muss möglichst weite Teile der Zivilgesellschaft in einen auf soziale, kulturelle und politische Inklusion zielenden Reformprozess einbinden, der den gegenwartskapitalistischen Transformationsprozess in Richtung eines alternativen Entwicklungsmodells umlenkt.[22]
Maßnahmen der sozialen Inklusion müssen dabei auf einen grundlegenden Umbau des nationalen Wohlfahrtsstaates zielen. Dafür müssten verlässliche Grundsicherungssysteme ausgebaut werden, die sozialen Abstieg institutionell verhindern. Eine solche Sozialreform sollte nicht auf die Entkoppelung von Erwerbsarbeit und sozialer Sicherheit in Richtung eines „bedingungslosen Grundeinkommens“ setzen, wohl aber auf den Umbau eines durch Aktivierung und Disziplinierung geprägten Arbeitsmarktregimes in Richtung einer sanktionsfreien Mindestsicherung und eines präventiven Berufs- und Statusschutzes. Die dafür unverzichtbare radikale Umverteilung ökonomischer Wertschöpfung dürfte sich schnell als die zentrale gesellschaftliche Kraftprobe erweisen.
Eine kulturelle Inklusionspolitik hätte Antworten auf die Identitätskrisen zu suchen. Ansatzpunkte müssten die Krisen der Anerkennung und Selbstverwirklichung sein, von Ansprüchen also, die permanent mit dem heutigen Primat des Finanzmarktkapitalismus kollidieren.[23] Wenn die Abwertung der Industriefacharbeit als Relikt einer vergangenen Epoche öffentlich zelebriert wird und wenn überfällige Einkommensverbesserungen öffentlich Bediensteter im Feld der Sorge-Arbeit mit Verweis auf Austeritätszwänge erfolgreich blockiert werden, dann verweist dies auf die Notwendigkeit eines neuen gesellschaftlichen Anerkennungsregimes, in dem alle Varianten gesellschaftlich notwendiger Erwerbsarbeit zu ihrem Recht kommen.
Bei politischer Inklusion im Sinne demokratischer Partizipation geht es im Kern um Gegenaufklärung und Partizipation. Ängste und Verunsicherungen erfordern Sachaufklärung, und die politische Repräsentationskrise erfordert einen neuen Mix aus direkter Partizipation und politischer Repräsentation. Forderungen nach mehr Volksentscheiden vor großen Entscheidungen oder nach Mitgliedervoten in parteipolitischen Willensbildungen weisen in diese Richtung. Letztlich wird sich das Ansehen der Demokratie in den heute demokratieabgewandten Bevölkerungsteilen aber vor allem daran entscheiden, ob sie zur Erneuerung von sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit beitragen kann. Denn ohne das Soziale keine Demokratie.
Der Betrieb als sozialintegrativer Ort
In den Betrieben treffen rechtspopulistische Agitationsbemühungen auf Arbeitsstrukturen im Umbruch. Die Transnationalisierung der Wertschöpfungsketten, die Ökonomisierung von Produktions- und Sozialbeziehungen und die Digitalisierung von Produktion, Logistik und Distribution sind die Herausforderungen der Gegenwart und noch mehr der Zukunft. Die zugespitzten Probleme im Betrieb dürften, so die aktuellen Forschungen, zu einem zentralen Treiber des Rechtspopulismus werden. Die schwindenden Aufstiegsmöglichkeiten, die mangelnden Möglichkeiten, die eigene Erwerbsbiographie zu gestalten, sowie der als Überforderung erlebte Zeit- und Leistungsdruck schaffen Kontroll- und Perspektivverluste. Zusammen mit gesellschaftlichen Abstiegserfahrungen und -ängsten erzeugen diese das sozialpsychologische Terrain, in das der Rechtspopulismus Einzug halten möchte.[24]
Nach wie vor ist der Betrieb in der gegenwärtigen Arbeitsgesellschaft ein Ort, an dem über gelingende Sozialintegration mitentschieden wird. Die Restrukturierung der Arbeit setzt gegenwärtig jedoch starke zentrifugale Kräfte frei. Und arbeitskulturelle Anerkennungsverweigerung und betriebspolitische Partizipationsblockaden sind in der Arbeitswelt der Gegenwart eher Regel als Ausnahme. Die Aufgaben einer antipopulistischen Inklusionspolitik im Betrieb sind gewaltig. Sozialregulative Interventionen müssen der Spaltung der Belegschaften in Stamm- und Randgruppen entgegensteuern.
Arbeitskulturelle Interventionen müssen der Entwertung von Facharbeit begegnen und zugleich dem wachsenden Bedürfnis nach inhaltsreicher, anerkannter, persönlichkeitsförderlicher Arbeit zur Geltung bringen. Und demokratiepolitische Interventionen müssen dem vordemokratischen Verfügungsrecht der Kapitalseite neue Kanäle individueller und kollektiver Einflussnahme entgegensetzen.
Die Ausbuchstabierung einer betrieblichen Inklusionsagenda steht noch aus. Bisher tun sich die Gewerkschaften aufgrund schwindender Verhandlungs- und Durchsetzungsmacht eher schwer, der markt- und digitalisierungsgetriebenen „Rationalisierung von oben“ Projekte einer „Humanisierung von unten“ entgegenzusetzen.[25] Der rechtspopulistische Konkurrent könnte davon profitieren. Zugleich kann eine betriebliche Inklusionspolitik jedoch an Bewährtes anknüpfen. Gewerkschaftliche Betriebspolitik steht aufgrund der multikulturellen Zusammensetzung der Belegschaften seit langem vor der Aufgabe, soziale Interessen und kulturelle Identitäts- und Anerkennungsfragen zu integrieren. Gewerkschaftliche Erfahrungen und empirische Forschung geben Hinweise, dass dies in Industriebetrieben trotz der unterschiedlichen kulturellen Hintergründe und nicht zuletzt aufgrund universalistischer Politikstile der Betriebsräte oftmals vergleichsweise gut gelang. Auch wenn mitunter kulturelle Differenzen aus den betrieblichen Sozialräumen ausgegliedert werden[26] oder Tendenzen einer „exklusiven Solidarität“ (Klaus Dörre), die ethnische Spaltung doch interessenpolitisch reproduziert, nicht zu übersehen sind, gilt: Der gemeinsame Sozialstatus des abhängig Arbeitenden kann auch in Zukunft die Grundlage einer von wechselseitiger Anerkennung lebenden Alltagssolidarität bieten.
Klare Kante und offene Tür
Zweifelsohne trifft die rechtspopulistische Offensive in den Betrieben heute auf eine Gewerkschaftsbewegung, die sich trotz tarif- und sozialpolitischer Erfolge in einer Defensive befindet.[27] Die Zurückweisung der rechtspopulistischen Zumutung dürfte daher ohne die Stärkung gewerkschaftlicher Verhandlungs- und Organisationsmacht schwerfallen. Vieles spricht dafür, dass die Tarifrunde 2018 der IG Metall als ein gelungenes Beispiel einer solidarisch-demokratischen Gegenbewegung gelten kann. Gleichsam unter der Hand entwickelte der Tarifkonflikt einen demokratiepolitischen Zusatznutzen. Die vereinbarten Einkommensverbesserungen sowie die Option auf eine „verkürzte Vollzeit“ von 28 Wochenstunden treffen in Mitgliedschaft und Medien auf weitgehende Zustimmung. Doch neben den unmittelbar spürbaren Verbesserungen war der gesamte Verhandlungsprozess mit einer umfassenden Aktivierung und Einbeziehung der Mitglieder verbunden. Die Präferenz für ein Mehr an individueller Zeitsouveränität wurde als Resultat einer Beschäftigtenbefragung festgestellt, an der sich gut 700 000 Beschäftigte beteiligten, unter diesen etwa ein Drittel Nicht-Mitglieder. Die nach Auslaufen der Friedenspflicht organisierten Warnstreiks wurden von gut 1,5 Millionen Beschäftigten getragen.[28] Die Streiks erzeugten eine hohe Identifikation mit der Bewegung und ein emotionales Klima, das sich zu einer wesentlichen Mobilisierungsressource auswuchs. Die Folge ist eine spürbar verstärkte Bindung der Beteiligten an „ihre Gewerkschaft“ und an das allgemeine Projekt einer solidarischen Interessenpolitik.
Politische Beteiligung und emotionale Bindung an eine erfolgreiche Interessenpolitik dürften die Voraussetzungen verbessern, in den Betrieben die rechtspopulistischen Ambitionen zu kontern. Patentstrategien lassen sich jedoch nicht formulieren. Erfolg versprechen könnte eine Mischung aus „klarer Kante“ und „offener Tür“: Klare Kante steht für eine durchaus aggressive Konfrontationsstrategie gegenüber denjenigen, die rechtspopulistische Erzählungen in den Betrieb tragen; offene Tür für ein ebenso offensives Angebot zur Teilnahme an betrieblichen Gegenbewegungen an diejenigen, deren Verunsicherung und Wut in solidarische Interessenpolitiken eingebunden und damit progressiv kanalisiert werden muss.
Für die Gewerkschaften geht es um einen ambitionierten Kampf um die Hegemonie in der Arbeitswelt und die Dominanz im Politikfeld Betrieb. Gefordert ist eine „politisierte Interessenpolitik“, die in Rhetorik, Konfliktorientierung und Gegnerklarheit ein Mindestmaß an Radikalität und Entschiedenheit ausstrahlt. Dabei muss die Kraft des aufklärerischen Arguments durch die Ansprache solidarischer Affekte gestützt werden. Die Gewerkschaften haben sich dabei verstärkt einem doppelten Demokratieauftrag zu stellen, der zum Traditionsbestand der Gewerkschaften gehört, auf ihren aktuellen Agenden aber keine Priorität hat. Dieser muss sich sowohl auf die Wirtschaft und die Arbeitswelt als auch auf die politische Demokratie beziehen.[29] Gewerkschaftliche Tradition, Programmatik und Selbstverständnis halten Orientierungsmarken bereit. Eine offene und problembewusste Strategiedebatte müsste allerdings in eine entsprechende Praxis münden. Die Gefährlichkeit des rechtspopulistischen Konkurrenten zu unterschätzen, hieße, die Existenz der Gewerkschaften als wirkungsmächtige Solidaritätsverbände zu riskieren.
* Der vorliegende Text führt Überlegungen fort, die der Autor in einem Beitrag für den Sammelband „Arbeiterbewegung von rechts?“ formuliert hat, der von Klaus Dörre u.a. herausgegeben und in Kürze im Campus Verlag erscheinen wird.
[1] Etwa Hans-Jürgen Bieling, Aufstieg des Rechtspopulismus im heutigen Europa. Umrisse einer gesellschaftstheoretischen Erklärung, in: „WSI Mitteilungen“, 8, 2017, S. 557-565.
[2] Oliver Decker, Johannes Kiess und Elmar Brähler, Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland, Gießen 2016, sowie Micha Brumlik, Vom Proletariat zum Pöbel. Das neue reaktionäre Subjekt, in: „Blätter“, 1, 2017, S. 56-62.
[3] Richard Hilmer, Bettina Kohlrausch, Rita Müller-Hilmer und Jérémie Gagné, Einstellung und soziale Lebenslage, Working Paper Forschungsförderung 44 der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf 2017.
[4] Heinrich Geiselberger, Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit, Berlin 2017.
[5] Frank Deppe, Autoritärer Kapitalismus. Demokratie auf dem Prüfstand, Hamburg 2013.
[6] Anthony B. Atkinson, Ungleichheit: Was wir dagegen tun können, Stuttgart 2016, sowie Heinz Bude und Philipp Staab (Hg.), Kapitalismus und Ungleichheit. Die neuen Verwerfungen, Frankfurt a. M. 2016.
[7] Armin Schäfer, Der Verlust politischer Gleichheit. Warum die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet, Frankfurt a. M. 2015.
[8] Holger Lengfeld, Die „Alternative für Deutschland“: eine Partei für Modernisierungsgewinner, in: „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie“, 2/2017, S. 209-232.
[9] Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin 2017.
[10] A.a.O., S. 284.
[11] Didier Eribon, Gesellschaft als Urteil. Klassen, Identität, Wege, Berlin 2017.
[12] Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg 2010.
[13] Micha Brumlik, a.a.O., hier S. 56.
[14] Wolfgang Merkel, Die populistische Revolte, in: „Kulturpolitische Mitteilungen“, II, 2017, S. 53.
[15] So etwa Björn Höcke, einer der führenden Repräsentanten des deutschen Rechtspopulismus, der die „soziale Frage“ und die Frage der „sozialen Gerechtigkeit“ zum „größten Thema der Zukunft“ erklärt. Vgl. Björn Höcke (AfD), Die neue SOZIALE Frage (Schweinfurt, 28.4.2016), www.youtube.com.
[16] Oliver E. Williamson, Die ökonomischen Institutionen des Kapitalismus. Unternehmen, Märkte, Kooperationen, Tübingen 2009.
[17] Björn Allmendinger, Joachim Fährmann und Klaudia Tietze (Hg.), Von Biedermännern und Brandstiftern. Rechtspopulismus in Betrieb und Gesellschaft, Hamburg 2017, sowie „Die Rechte der Arbeiter“, in: „Dresdner Neueste Nachrichten“, 28.12.2017.
[18] Hoch die nationale Solidarität, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 31.1.2018.
[19] Vgl. dazu: Compact-Konferenz in Leipzig – Rechtspopulisten wollen in die Betriebe, www.mdr.de, 6.12.2017.
[20] Was macht der blaue Schirm denn da?, in: „Die Zeit“, 4.1.2018.
[21] Ulf Kadritzke, „Mythos Mitte“. Oder: Die Entsorgung der Klassenfrage, Berlin 2017.
[22] Einen solchen Prozess habe ich an anderer Stelle als ökosoziale Transformation beschrieben: Hans-Jürgen Urban, Ökologie der Arbeit. Ein offenes Feld gewerkschaftlicher Politik?, in: Lothar Schröder und Hans-Jürgen Urban (Hg.), Ökologie der Arbeit. Impulse für einen nachhaltigen Umbau, Frankfurt a. M. 2018, S. 329-349.
[23] Reckwitz a.a.O., S. 429 ff.
[24] Dieter Sauer, Ursula Stöger, Joachim Bischoff, Richard Detje und Bernhard Müller, Rechte Orientierungen in Betrieb und Gewerkschaften. Eine arbeitsweltliche Spurensuche. Projektbericht für die Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 15.12.2017, S. 75 f.
[25] Hans-Jürgen Urban, Arbeiten in der Wirtschaft 4.0. Über kapitalistische Rationalisierung und digitale Humanisierung, in: Lothar Schröder und Hans-Jürgen Urban (Hg.), Gute Arbeit. Digitale Arbeitswelt – Trends und Anforderungen, Frankfurt a. M. 2016, S. 21-45.
[26] Etwa Werner Schmidt, Pragmatische Zusammenarbeit. Kollegialität und Differenz bei Beschäftigten deutscher und ausländischer Herkunft in Industriebetrieben, in: „Zeitschrift für Soziologie“, 6/2006, S. 465-484.
[27] Steffen Lehndorff, Heiner Dribbusch und Thorsten Schulten (Hg.), Rough waters. European trade unions in a time of crises, Brüssel 2017.
[28] Zum Tarifabschluss vgl. www.igmetall.de/tarife.htm; 14.2.2018.
[29] Hans-Jürgen Urban, Gewerkschaftspolitik als Demokratiepolitik, in: Hans-Jürgen Urban, Michael Buckmiller und Frank Deppe (Hg.), Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie. Zur Aktualität von Wolfgang Abendroth, Hamburg 2006, S. 80-98. Themen: Neoliberalismus, Rechtsradikalismus, Gewerkschaften Aus: »Blätter« 3/2018, S. 103-112
Erstveröffentlichung: „Blätter für deutsche und internationale Politik“ März 2018. Wir danken für die Abdruckgenehmigung.