Von Anne Engelhardt Seit Beginn des Ukraine Krieges sind weltweit innerhalb und zwischen linken Strukturen und Gewerkschaften Diskussionen entbrannt, die sich um zwei Fragen drehen: 1. Ist der Krieg in der Ukraine ein regionaler Semikolonialkrieg oder ein imperialistischer Stellvertreterkrieg? 2. Lässt sich der Konflikt durch Selbstverteidigung und Waffenlieferungen oder durch Diplomatie beenden? Bei einem Stellvertreterkrieg wäre kurzgefasst nur ein Frieden auf Basis von Verhandlungen und Zugeständnissen der Staatsvertreter:innen denkbar. Bei einem Kolonialkrieg müsse die ukrainische Bevölkerung gegen den Aggressor bewaffnet und unterstützt werden, bis zu ihrem wie auch immer definierten Sieg. Es ist wichtig einzuordnen, welchen Charakter der Ukrainekrieg hat. Die breite Linke muss möglicherweise aushalten, dass es sowohl ein Stellvertreter-, als auch ein Semikolonialkrieg ist. Aber die Frage, wie der Krieg beendet wird, kann ohne die eigentliche Kernkompetenz der Linken nicht beantwortet werden: der Selbstorganisation der weltweiten Arbeiter:innenklasse. Die Geschichte von Kriegen und vom Kampf für Frieden hat gezeigt, dass die Selbstorganisation und auch die selbstgewählten Aktionsformen von Arbeiter:innen auf dem Weg zum Frieden nicht selten den Weg über Bürgerkriege gegen die eigene herrschende Klasse und das kapitalistische System gehen müssen. Wie steht es damit in den kriegführenden Ländern Ukraine, Russland und Belarus? Die vergessene Kriegspartei Belarus Belarus ist aus den Medien als dritte Kriegspartei nahezu verschwunden. Dabei wurde das Land samt seinem Diktator Lukaschenko auf die russische Seite gezogen. Es ist Fakt, dass die Mehrheit der belarussischen Bevölkerung sich geweigert hat, an Kriegshandlungen teilzunehmen. 20 000 Männer haben das Land verlassen, um dem Kriegsdienst zu entgehen. Seit den Massenprotesten von 2020 hat die Lukaschenko-#Regierung vor allem gegen Gewerkschafter:innen hart durchgezogen, sie verhaftet, mit Geldstrafen belegt, gefoltert. Doch das scheint diese nicht einzuschüchtern. Nachdem eine Reihe unabhängiger Gewerkschaften wie die in den Bereichen Eisenbahn, Kommunikation und Elektrotechnik als terroristische Organisationen eingestuft wurden, stimmten sie auf ihrem gemeinsamen Kongress dennoch gegen den Krieg. Mit über 80 Schienensabotagen und dem Hacken des Window-XP-Systems haben Eisenbahner:innen und andere "Eisenbahn-Partisan:innen" im Frühjahr dafür gesorgt, dass die Angriffe der russischen Regierung über den Norden der Ukraine gestoppt wurden. Es ist mittlerweile unumstritten, dass der 60 km lange russische Militärkonvoi vor Kiew im März durch Sabotageakte der belarussischen Arbeiter:innenbewegung zum Erliegen kam. Vor diesem Hintergrund lassen sich auch die neu beschlossene Todesstrafe auf Sabotageakte jeglicher Art, die Verhaftung und Entlassung dutzender Eisenbahner:innen und die Veröffentlichung von unter Folter erpressten Geständnisse einordnen. Der Oberste Gerichtshof in Belarus hat mittlerweile die Auflösung und das Verbot aller Gewerkschaften durchgesetzt. Viele Aktivist:innen sind vorerst ins Ausland geflohen und wurden in ihrer Abwesenheit mehrfach verurteilt. In kaum einem Mainstream-Medium wird darüber berichtet, das ist nicht weiter verwunderlich. Welche bürgerliche Regierung will schon zugeben, dass Kriege möglicherweise durch selbstorganisierte Sabotage der Arbeiter:innenklasse gestoppt werden könnten? Der ukrainische Klassenkampf Der Burgfrieden mit der Selensky-Regierung ist nicht ungebrochen. Daran ist vor allem die arbeiter:innenfeindliche Politik der ukrainischen Regierung schuld. Einerseits dürfen als Männer angesehene Menschen zwischen 18 und 60 das Land nicht verlassen und werden zum Wehrdienst gezwungen. Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ist seit September komplett ausgesetzt, alternative Dienste werden nicht mehr akzeptiert. Kriegsdienstverweigernde wurden zu mehrjähriger Haft verurteilt. Trotz internationaler Proteste hat Selensky arbeiter:innenfeindliche Gesetze unterschrieben, die Verhandlungen mit Gewerkschaften in den meisten Betrieben aushebeln, das Nachtarbeitsverbot für Eltern mit Kleinkindern aussetzen, Überstunden, jederzeitige Kündbarkeit usw. legalisieren. Gewerkschafter:innen sind vor allem mit der Verteilung von humanitären Hilfsgütern und der Organisation von Wohnraum für Binnenflüchtende beschäftigt. Die Regierung hat sogar schon eine Reihe von Gewerkschaftszentralen und Gebäuden enteignet. Dagegen formiert sich erster Unmut. Schon vor dem Krieg hatte Selensky mit den Arbeitenden der staatlichen Bergwerke zu tun, die im Dezember 2021 für bessere Arbeitsbedingungen streikten. Auch Lieferdienste haben ihre eigenen Gewerkschaftsstrukturen aufgebaut und streikten bereits während des Krieges vor der Wolt Filiale in Lviv. In der Pflege gibt es seit der Kampagne "Mach es wie Nina" Proteste für Entlastung. Und Studierende kritisieren die Nutzung ihres Wohnraums fürs Militär, während sie selbst die Kosten für Wohnen und Studiengebühren weiter zahlen müssen. Die Regierung nutzt den Krieg, um Angriffe auf Arbeiter:innenrechte durchzuführen, die sie ohne diesen niemals überstanden hätte. Putins Widersacher:innen Die russische Regierung führt nicht nur Krieg nach außen, sondern vor allem gegen die eigene Arbeiter:innenklasse. Leider hat sich dabei der größte Gewerkschaftsdachverband an ihre Seite gestellt. Der Vorsitzende der Russischen Föderation der Unabhängigen Gewerkschaften Russlands (FNPR), Mikhail V. Shmakov, war stellvertretender Präsident der Internationalen Gewerkschaftsföderation ITUC. Nach Beginn des Krieges ist der Verband aus der internationalen sozialdemokratischen Gewerkschaftsfamilie ausgetreten. Der Burgfrieden hat die Arbeiter:innenbewegung in Russland durchaus gelähmt und verwirrt. Trotzdem finden Streiks statt – teils als Reaktion auf schließende internationale Unternehmen wie IKEA, McDonalds, Siemens oder andere Konzerne. In die Abwehrstreiks mischen sich auch Konflikte wie Arbeitsüberlastung oder schlechte Bezahlung – so bei den Krankentransportfahrer:innen in Moskau oder bei der Müllabfuhr in Nowosibirsk. Darin mischen sich auch Kämpfe um Umweltfragen, etwa die Abholzung von Wäldern in der Nähe von Syktyvkar oder Bittsevo im Juni dieses Jahres. Der wohl bekannteste Gewerkschaftsvorsitzende, Kirill Ukrainev, der sich gegen ein Streik- oder Protestverbot bei den russischen Lieferdiensten Yandex und Delivery Club zur Wehr gesetzt hat, sitzt seit Mitte April in Untersuchungshaft. Die unabhängige Kuriergewerkschaft, der er vorsitzt, hat dennoch weiterhin Streiks organisiert und kämpft auch international für seine Freilassung. Er ist zwar nicht offen gegen den Krieg aufgetreten, doch der Streik gegen russische Unternehmen reichte für seine Verhaftung aus. Die sichtbarsten Hauptwidersacher:innen gegen Putin sind anarchistische Kollektive wie „Stop the Waggons“; sie betreiben Sabotage an Schienen für den Güterverkehr und wollen damit vor allem den Transport von Kriegsgerät treffen. Hier gab es auch einen Fall von Lokführer:innen, die selbstgebaute Bombenattrappen auf die Schienen legten, um einen unvorhergesehenen Halt zu rechtfertigen. Leider wurden sie festgenommen, was überhaupt dazu führte, dass diese Art der friedlichen Sabotage bekannt wurde. Im kleineren Rahmen organisieren Gruppen wie Feminists Against War Sticker- und Streetartaktionen, psychologische Seelsorge, helfen Aktiven und Deserteur:innen, das Land zu verlassen, machen auf die Situation politischer Gefangener aufmerksam, verfassen Antikriegspropaganda und versuchen auch immer wieder, kleinere Straßenproteste zu organisieren. Dass diese sofort zu Verhaftungen und hohen Geldstrafen führen, wurde spätestens seit der zweiten Kriegswoche deutlich. Seit dem Krieg ist die Zahl der weiblichen politischen Gefangenen rasant gestiegen, auf einen männlichen kommen 2,2 weibliche. Parallel dazu gibt es täglich unter anderem Bombendrohungen, Anschläge auf Rekrutierungsbüros, Autos mit Z-Symbolen, Stromleitungen, Umspannwerke und Kornspeicher. Nicht immer sind sie eindeutig linken oder gewerkschaftlichen Kräften zuzuordnen. Sie machen aber deutlich, dass im Hinterland der Hauptkriegspartei keinesfalls Ruhe eingekehrt und der Burgfrieden trotz Repressionen instabil ist. Der Hauptfeind im eigenen Land Belarus haben die Gewerkschaften den Kampf vorerst verloren. Die gärende Stimmung gegen die Regierung bleibt bestehen. Nicht nur in unmittelbaren Kriegsregionen, auch außerhalb haben Arbeiter:innen durch Proteste und Streiks Sabotage betrieben. Im italienischen Pisa weigerten sich Flughafenbeschäftigte, als humanitäre Ladung getarnte Waffen in die Ukraine zu verladen und machten den Skandal öffentlich. In Thessaloniki weigerten sich Bahntechniker:innen, Güterzüge zu warten, die Kriegsmaterial in die Ukraine liefern sollten. Hafenarbeiter:innen nahmen in zwölf verschiedenen Ländern an Protest- und Boykottstreiks gegen den Krieg teil und weigerten sich, russische Fracht oder russische Schiffe zu entladen. Dabei machten sie deutlich, dass sie nicht gegen russische Seeleute, sondern gegen ihre Regierung protestieren, die lieber Waffen liefert und damit den Krieg anheizt. In Deutschland sollte eine Bewegung gegen Teuerung und Krieg das wichtigste Ziel der Linken sein, um den Hauptfeind hier zu treffen: Scholz, Rheinmetall, RWE, Siemens etc. Die Autorin lebt in Kassel, arbeitet bei LabourNet und promoviert an der Uni Kassel zu Arbeitskämpfen im Logistiksektor. Erschienen in der Oktoberausgabe der Sozialistischen Zeitung (SoZ) https://www.sozonline.de/ Wir danken der SoZ-Redaktion für die Abdruckgenehmigung.
