PUTIN, ERDOGAN UND DER WHATABOUTISM

ein Beitrag von Fabian Lehr, 25.4.2022

-Wir stellen gewerkschaftliche , linke , friedenspolitische Stimmen gegen die Kriegseskalation zur Diskussion-

„Mit der Verdrehung des Begriffs WhatAboutismus wird versucht, Betrachtungen zu Ursachen, Umständen und einer historischen Einordnung und Bewertung des Krieges in der Ukraine zu diskreditieren. „WhatAboutismus“ wird so zum Kampfbegriff für einen eindimensionalen wissenschaftsfeindlichen aggressiven Bellezismus uminstrumentalisiert. Stell dir vor, man hätte Dir während der Pandemie beim Auftreten von Omikron mit dem Satz „Das ist WhatAboutsimus . Hier interessiert nur Omikron, Delta war gestern „, die Berechtigung jeder Diskussion über den Vergleich mit anderen Virusvarianten und über die Entwicklung von Covid19 rundweg abgestritten .“ (Peter Vlatten)

ein Beitrag von Fabian Lehr, 25.4.2022

„Vor einigen Tagen ist die türkische Armee völkerrechtswidrig im Irak einmarschiert, um dort linke kurdische DemokratInnen abzuschlachten. Die Invasion ist Teil eines etappenweise seit etlichen Jahren geführten Krieges des Erdogan-Regimes gegen die kurdische Befreiungsbewegung. Dieser Krieg wird einerseits auf türkischem Territorium gegen die PKK geführt, andererseits mit mehreren völkerrechtswidrigen Invasionen auf syrisches und irakisches Staatsgebiet. In Syrien hat die Türkei einen breiten Gebietsstreifen erobert und hält diesen seit Jahren illegal besetzt. In diesem umfassenden antikurdischen Krieg Erdogans kämpfen nicht nur reguläre türkische Truppen, sondern in großem Umfang auch von der Türkei finanziell, militärisch, logistisch und politisch massiv unterstützte islamistische Milizen, die bspw. beim Einfall in Afrin eine zentrale militärische Rolle spielten und de facto als in die türkischen Streitkräfte integrierte Einheiten agierten. Diese von Erdogan besoldeten islamistischen Milizen haben das von ihnen unterworfene Gebiet mit einem beispiellosen Terror gegen alle kurdischen Linken und insbesondere gegen emanzipierte kurdische Frauen überzogen: Massenmorde an Kriegsgefangenen, extreme Foltermethoden und systematische Massenvergewaltigung als Waffe zur Einschüchterung der Bevölkerung sind in den Feldzügen von Erdogans islamistischen Proxies an der Tagesordnung. Enthauptungen, Abschneiden von Gliedmaßen und Brüsten und Erniedrigung von Gefangenen, die man zu Tode foltert, sind zigfach dokumentiert. Im Inneren ist Erdogans Türkei eine extrem repressive Diktatur mit in den letzten Jahren deutlich stärker gewordenen faschistoiden Zügen, in der einerseits die islamistische Bewegung, andererseits der säkulare rassistische Rechtsradikalismus tief in den Staat integiert sind. Proteste der Bevölkerung gegen das Regime wie bei der Eskalation um den Gezi-Park werden brutal und mit zahlreichen Todesopfern niedergeworfen.

Medial hat die mit der Invasion des Irak begonnene neue Etappe von Erdogans antikurdischem Terrorkrieg so gut wie keine Beachtung gefunden. Neben dem Krieg in der Ukraine interessiert niemanden, was die türkische Armee und die ihr dienenden islamistischen Mörderbanden in Syrien und im Irak treiben. In die Hauptmeldungen der Nachrichten schafft es dieses Thema nicht, es gibt keine Talkrunden darüber, kein hochrangiger westlicher Politiker drückt seine Betroffenheit aus – und auch den auf social media täglich schäumenden liberalen Slava Ukraini-Mob, der Tag für Tag predigt, aus der beispiellosen Einzigartigkeit der russischen Verbrechen müsse nun unbedingt eine Stärkung und Hochrüstung der NATO und leidenschaftliche politische Identifikation mit ihr folgen, interessiert nicht, was das türkische Regime treibt. Ich habe auf den social media-Walls keines besonders eifrigen liberalen Ukraine-Projektionsnationalisten in den letzten Tagen irgendeinen Kommentar zur türkischen Invasion im Irak gesehen.

Ist der Verweis auf die türkischen Kriege und die bemerkenswerte Gleichgültigkeit der blau-gelben Bellizisten diesen gegenüber denn aber nicht böser Whataboutismus und damit eine schändliche indirekte Rechtfertigung der russischen Verbrechen?„Whataboutismus“ bedeutet, ein Problem kleinzureden oder zu leugnen, indem man auf irgendein tatsächlich oder vermeintlich schwerwiegenderes anderes Problem verweist, das aber in keinem Zusammenhang mit den Anliegen desjenigen steht, der mir sein von mir bagatellisiertes Problem schildert. Wenn jemand darüber klagt, schwer zu leiden unter Burnout und permanentem Stress am Arbeitsplatz und ich ihn wirsch anfahre, mein Opa habe aber täglich 10 Stunden Schwerarbeit geleistet und trotzdem nicht gejammert, dann ist das Whataboutismus. Wenn mir jemand schildert, dass seine chronischen Rückenschmerzen ihn fertigmachen und schwer belasten und ich höhnisch bemerke „Du jammerst über Rückenschmerzen, aber mein Onkel hat Krebs und heult auch nicht rum!“, dann ist das Whataboutismus. Wenn Frauen in einer Protestbewegung Maßnahmen gegen sexistische Diskriminierung fordern und ich diese Forderungen kopfschüttelnd zurückweise mit Verweis darauf, dass die Diskriminierung der Uighuren in China aber viel schlimmer sei und sie sich ergo mal nicht so anstellen sollen, dann ist das Whataboutismus. Wenn Hartz IV-EmpfängerInnen darüber klagen, mit dem Regelsatz nicht auszukommen, sich die einfachsten Dinge nicht leisten zu können und deswegen höhere Regelsätze fordern und ich darauf antworte „Das Leben von alleinstehenden Rentnerinnen ist aber auch kein Zuckerschlecken, also reißt euch mal zusammen!“, dann ist das Whataboutismus.

Wenn man auf die exklusive Beschäftigung der westlichen Öffentlichkeit ausschließlich mit den russischen Verbrechen in der Ukraine und die daraus gezogene Schlussfolgerung „Hochrüstung und Stärkung der NATO und Identifikation mit der NATO als Bollwerk gegen die Tyrannei“ mit Verweis bspw. auf die türkische Invasion antwortet, dann ist das aber kein Whataboutismus, weil dieser Hinweis eben den Kern der Forderungen blau-gelber westlicher Projektionsnationalisten betrifft. Die Türkei, ihre Kriege und ihre ungeheuren Kriegsverbrechen sind den westlichen Staaten nämlich nicht einfach nur egal – sie stehen offen und aktiv auf der Seite des türkischen Regimes und seiner Kriege. Die Türkei ist einer der wichtigsten NATO-Staaten. Die Türkei wird von anderen NATO-Staaten massiv mit Waffen versorgt, darunter ganz prominent von Deutschland – die türkischen Invasionstruppen machen mit deutschen Leopard-Panzern kurdische Dörfer platt und massakrieren linke kurdische DemokratInnen mit deutschen Pistolen und Sturmgewehren. Das türkische Regime wird von der EU direkt subventioniert – seit 2015 zahlt die EU dem Tyrannen in Ankara jedes Jahr Milliarden als Belohnung dafür, dass er syrische Flüchtlinge von den europäischen Außengrenzen fernhält. Und die diplomatische Stellung der Türkei hat sich gerade durch den Krieg in der Ukraine noch einmal verbessert, weil der westliche Block den türkischen Tyrannen als zusätzliches Gegengewicht gegen den russischen Tyrannen gewinnen will. Baerbock und Co begreifen anscheinend nicht einmal die Ironie, sich als Geste westlicher Solidarität gegen russische Barbarei beim Handshake mit Erdogans Ministern fotografieren zu lassen.

Ja, der deutsche Staat verfolgt die Feinde von Erdogans Diktatur sogar im Inland. PKK und YPG gelten in Deutschland, auf Erdogans Wunsch, als Terrororganisationen. Wer in Syrien gegen Erdogans islamistische Mörderbanden für die Verteidigung der Demokratie in Rojava gekämpft hat, muss damit rechnen, nach Rückkehr nach Deutschland verhaftet und, wenn er türkischer Staatsbürger ist, in die Folterkeller des türkischen Regimes ausgeliefert zu werden. Ja, sogar das Zeigen abstrakter Sympathie mit dem kurdischen Freiheitskampf durch Fahnen und Symbole ist in Deutschland verboten, und in Bayern sind schon wiederholt Leute dafür verhaftet worden. Ich will gar nicht erst anfangen vom Thema Saudi-Arabien, einem der engsten Verbündeten der NATO und vielleicht barbarischsten Regime der Erde.

Der Hinweis auf das ohrenbetäubende Schweigen der westlichen Politik und der westlichen liberalen NATO-Cheerleader angesichts der ungeheuren Verbrechen von NATO-Staaten und ihren Verbündeten ist kein Whataboutismus, weil es den Kern ihrer Forderungen trifft. Die liberalen Slava Ukraini-NATO-Fans sagen: „Der russische Überfall auf die Ukraine ist ein einzigartiges, beispielloses Verbrechen und beweist, dass das russische Regime das skrupelloseste, unberechenbarste, gefährlichste Regime überhaupt ist. Der Schutzwall zur Verteidigung von Demokratie, Menschenrechten und Freiheit gegen die einzigartige russische Barbarei ist die NATO. Darum müssen wir dafür eintreten, dass die NATO militärisch noch weiter hochgerüstet wird, dass unser jeweiliger Staat in der NATO bleibt oder ihr beitritt und dass die öffentliche Meinung die NATO positiv sieht, wenn wir Freiheit und Demokratie in der Welt schützen wollen.“

Diese Argumentation fällt aber in sich zusammen, wenn die NATO selbst ein Bund von Kriegsverbrechern ist, deren Mitglieder und Verbündete selbst aus repressiven Diktaturen bestehen, die selbst regelmäßig völkerrechtswidrige Angriffskriege führen und die selbst ungeheure Kriegsverbrechen begehen. Ich kann schwerlich eine militärische und politische Stärkung der NATO zur Verteidigung von Demokratie, Menschen- und Völkerrecht fordern, wenn NATO-Staaten selbst ständig Raubkriege führen, Linke und DemokratInnen massakrieren und auch den Teufel in ihren Bund aufnehmen würden, wenn der Teufel gerade passende geopolitische Interessen hat. Der Verweis auf die türkischen Kriege, auf das saudische Regime und seinen Krieg im Jemen, auf die ungeheuren amerikanischen Verbrechen in Afghanistan oder im Irak ist kein Whataboutismus, weil er aufzeigt, dass es verrückt ist, als Protest gegen die russischen Verbrechen die weitere Hochrüstung und politische Stärkung des Verbrecherbündnisses NATO zu fordern. Es zeigt, dass die NATO kein idealistischer Bund von Menschenfreunden zur Verteidigung edler Werte ist, sondern ein aggressives, skrupelloses Kriegsbündnis zur Durchsetzung imperialistischer Machtinteressen, wobei der moralische Charakter eines Staates vollkommen irrelevant ist: Linke und DemokratInnen werden von der NATO und ihren Bundesgenossen ohne mit der Wimper zu zucken abgeschlachtet, wenn sie gerade einem Machtinteresse im Weg stehen. Und umgekehrt werden die grausamsten, repressivsten Diktaturen der Welt in der NATO herzlich willkommen geheißen, wenn ihre Bundesgenossenschaft gerade einem Machtinteresse dienlich ist. Es zeigt, dass weitere Waffen für die NATO nicht als Reserve für die Verteidigung der Demokratie gegen die Tyrannei dienen, sondern in ein paar Jahren für neue Kriegsverbrechen in neuen NATO-Imperialkriegen an einem beliebigen Punkt der Welt eingesetzt werden. Mit den NATO-Waffen, die Liberale als Reaktion auf die russischen Kriegsverbrechen fordern, werden anderswo die Kriegsverbrechen von morgen begangen werden.

Der Verweis darauf ist kein Whataboutismus, weil damit nicht die Verbrechen des russischen Imperialismus geleugnet oder bagatellisiert werden, sondern aufgezeigt wird , dass „Stärkung der NATO“ keine sinnvolle Reaktion darauf ist. Putin ist ein Kriegsverbrecher, seine Invasion völkerrechtswidrig, skrupellos und abscheulich. Vernünftigerweise kann die Reaktion darauf aber nicht darin bestehen, die Stärkung der mit ihm gerade rivalisierenden Kriegsverbrecher zu fordern und dafür zu agitieren, deren Fähigkeit zu erhöhen, morgen anderswo neue Kriegsverbrechen zu begehen. Aus „Die Verbrechen des Medellin-Kartells sind abscheulich“ folgt eben nicht „Ergo müssen wir alle leidenschaftlich dafür eintreten, dass das mit ihm rivalisierende Cali-Kartell noch mehr Geld und Waffen bekommt.“

Wir danken Fabian Lehr (ÖH Uni Wien) , seinen Text hier zitieren und wiedergeben zu dürfen.

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