Heute vor 40 Jahren … Arbeitsbrigaden für Nicaragua

Von Matthias Schindler

Genau heute vor vierzig Jahren – am 21. Dezember 1983 – haben meine Füße zum ersten Mal nicaraguanischen Boden berührt. Aus einer spontan entstandenen Begegnung sollte eine innige Verbindung entstehen, die in vier Jahrzehnten die abenteuerlichsten Höhen und Tiefen durchlaufen hat. Die Sandinistische Revolution (1979 – 1990) war ein Versuch, soziale Gerechtigkeit mit politischer Freiheit und den Marxismus mit dem Christentum zu verbinden. Den Menschen, die Nicaragua damals besucht haben, war es nahezu unmöglich, sich der Euphorie des einfachen Volkes zu entziehen, das dieses Projekt mit all seiner Phantasie und Energie – ja auch seiner Opferbereitschaft – mitgestalten wollte. Das „Sandinistische Modell“ nährte die Hoffnung auf eine neue Gesellschaft, jenseits vom imperialen Kapitalismus und versteinerten Sozialismus, und zwar weit über Nicaragua hinaus.

Einen großen Teil meiner politischen Energien und meines gesamten Lebens habe ich diesem Land und seinen Menschen gewidmet. Nach vierzig Jahren ist von dieser Beziehung und von den mit ihr verbundenen Idealen nichts als ein Trümmerhaufen übrig geblieben. Ein Diktatorenpaar – Daniel Ortega und Rosario Murillo – hat ein Unterdrückungsregime errichtet, für das es keine wirklich angemessenen Adjektive gibt. Nahezu alle kritischen Stimmen wurden inzwischen ins Ausland abgeschoben oder ins Gefängnis geworfen; sie wurden ihrer Staatsbürgerschaft beraubt; ihr Eigentum wurde konfisziert; ihre Renten gestrichen; ihre Einträge im Geburtenregister gelöscht; als juristische Personen wurden sie eliminiert. Die Menschenrechte und die politischen Grundrechte wurden abgeschafft. Von außen wird niemand mehr ins Land hineingelassen. Die Opfer dieser Repression haben weder im Lande, noch international irgendeine Möglichkeit einer freien Kommunikation. Aus der FSLN – der Sandinistischen Befreiungsfront – ist eine mafiöse Familiendynastie hervorgegangen.

Vor vierzig Jahren flog ich als Teil einer Arbeitsbrigade nach Nicaragua, um den selbstbestimmten Aufbau einer freien Gesellschaft zu unterstützen. Die US-Regierung unter Präsident Reagan führte damals einen massiven Interventionskrieg gegen Nicaragua, um genau diesen Aufbau einer neuen Gesellschaft militärisch zu zerstören. Im Oktober 1983 haben US-Luftlandetruppen die kleine Karibikinsel Grenada überfallen und militärisch besetzt. Diese Aggression wurde international als eine Drohung verstanden, auch Nicaragua militärisch zu besetzen und die sandinistische Regierung zu stürzen. Daraufhin wurden innerhalb von nur zwei Monaten auf der ganzen Welt Arbeitsbrigaden organisiert, die in einer friedlichen Mission ihre Solidarität mit Nicaragua ausdrückten. Wir ernteten Kaffee, bauten Häuser und Gesundheitsposten, säten Kartoffeln und arbeiteten im Bildungs- oder Gesundheitswesen. Tief beeindruckt von unseren dortigen Erfahrungen kehrten wir zurück in unsere Länder und bauten eine internationale Solidaritätsbewegung auf, wie es sie vorher noch nicht gegeben hat.

Der US-Krieg gegen Nicaragua war ein integraler Bestandteil einer massiven Aufrüstung der NATO mit atomaren Mittelstreckenraketen, die gegen die Sowjetunion gerichtet waren. Als die Sowjetunion jedoch in sich zusammenbrach und das östliche Militärbündnis Warschauer Pakt sich auflöste, nutzte die NATO dies nicht als Chance, um in eine Abrüstungsspirale einzutreten. Es wurde mit Worten viel von einer „Friedensdividende“ (für mehr Gerechtigkeit und Klimapolitik in der Welt) geredet, aber in ihren Taten setzte die NATO nach einer gewissen Pause ihre Aufrüstungspolitik fort. Sie wollte ihre internationale Vormachtstellung – vor allem gegenüber Russland – um jeden Preis ausbauen. Die deutsche Friedensbewegung stellte diesem Kriegskurs die Forderung nach einseitiger Abrüstung, Auflösung der NATO und Kooperation mit Russland entgegen, um auf diese Weise eine stabile internationale Friedensordnung aufzubauen. Aber die Falken in Washington und Brüssel setzten sich durch.

Die Solidaritätsbewegung mit Nicaragua erklärte sich als Teil der Friedensbewegung, weil internationale Abrüstung und Kooperation die einzige Möglichkeit ist, um dem Selbstbestimmungsrecht der Völker in den wirtschaftlich benachteiligten Regionen der Welt zum Durchbruch zu verhelfen.

Aktuell haben jedoch Militär- und Gewalt-Szenarien die absolute Oberhand gewonnen. Der Krieg in der Ukraine ist Ausdruck des totalen Scheiterns der westlichen Militärpolitik. Die NATO rüstet auf wie noch nie. Wirtschaftssanktionen stürzen die Weltökonomie in die Krise und die armen Länder in noch größere Armut. Der russische Größenwahn kennt keine moralischen Grenzen, um zehntausende unschuldiger Soldaten in einen sinnlosen Tod zu schicken. Die israelische Besatzungspolitik in Palästina ist gnadenlos. Die palästinensische Reaktion darauf ist Mord und Totschlag an Zivilisten. Israel antwortet darauf wiederum mit Völkermord. Die Regierungen der „westlichen Werte“ unterstützen dies mit Worten und Taten. Menschenrechte und humanitäres Völkerrecht werden allseits mit Füßen getreten. Und in Nicaragua ist eine der brutalsten Diktaturen an der Macht, die es in Lateinamerika je gegeben hat.

Der Bürgerkrieg in Nicaragua wurde 1990 nicht durch Waffengewalt, sondern durch Verhandlungen beendet. Die internationale Solidaritätsbewegung mit Nicaragua hat damals nicht nach immer mehr Waffen gerufen, obwohl Nicaragua das Opfer der US-Aggression gewesen ist und jedes Recht zur Selbstverteidigung hatte. Wir sind mit einer friedlichen Mission dorthin gegangen, um die USA durch eine weltweite politische Kampagne dazu zu bringen, ihren Krieg gegen Nicaragua zu beenden. Wir waren keine Pazifisten. Wir hielten die bewaffnete Verteidigung der Sandinistischen Revolution für gerechtfertigt. Aber wir haben uns – mitten im Krieg – für eine friedliche politische Aktion entschieden, weil uns dies als die sinnvollste und beste Möglichkeit erschien, uns in jener Situation für den Frieden einzusetzen. Acht – wahrscheinlich mehr – Internationalisten haben diesen zivilen Einsatz mit ihrem Leben bezahlt. Unter ihnen: Pierre Grosjean (Frankreich), Ambrosio Mogorrón (Spanien), Albert Pflaum (Deutschland), Maurice Demierre (Schweiz), Paul Dessers (Belgien), Joel Fieux (Frankreich), Berndt Koberstein (Deutschland) und Ivan Claude Leyvraz (Schweiz).

Es ist höchste Zeit, dass in der internationalen Politik Vernunft und Friedenswillen wieder die Oberhand gewinnen. Sollte dies nicht gelingen, werden die Folgen schrecklich sein.

Lissabon, 21. Dezember 2023

Wir danken dem Autor für das Publikatiosnrecht.

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