Eine Stimme der ukrainischen Friedensbewegung
Es passt zum Gesamtbild, das der gegenwärtige Journalismus in der Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine gibt, dass wir einiges über Proteste gegen die Invasion der Ukraine in Russland und über desertierte Soldaten der angreifenden Armee wissen, aber so gut wie nichts über diejenigen in dem Land, das zum Schlachtfeld wurde, die Zweifel haben, ob der laufende Krieg zu einem guten Ende führen kann. Die Ukraine wird uns von den meisten Medien sozusagen als einiges kämpfendes Kollektiv vorgeführt. Doch diese kritischen Stimmen gibt es natürlich. Und es ist ein Verdienst der „Wiener Zeitung“ einer solchen Stimme einmal Aufmerksamkkeit geschenkt zu haben. Der Journalist Markus Schauta interviewte für die WZ Jurij Scheljaschenko, Geschäftsführer der Ukrainischen Friedensbewegung, über gewaltfreien Widerstand, die Idee kollektiver Sicherheit statt kollektiver Verteidigungund warum er die Sanktionen gegen Russland skeptisch sieht. Auf die Frage hin, warum sich die Friedensbewegung den Kriegsanstrengungen beiden Seiten entgegensetzen will, antwortete Scheljaschenko:
„Wenn wir über gewaltlosen Widerstand gegen das Militär sprechen, sollten wir verstehen, dass jene, die den Frieden lieben, sich nicht nur dem angreifenden Militär widersetzen. Vielmehr setzen sie sich gleichzeitig auch gegen das verteidigende Militär ein. Die Opfer dieses Krieges sind Zivilisten auf beiden Seiten der Fronten. Damit meine ich nicht nur direkte Opfer der Kampfhandlungen, sondern auch jene, die Angst ausgesetzt sind, von Kriegspropaganda getäuscht oder vom Staat gezwungen werden, sich an den Kriegsanstrengungen zu beteiligen. Zurzeit sind davon offensichtlich die Ukrainer mehr als die Russen betroffen, was daran liegt, dass es in Russland noch keine Generalmobilmachung gibt.“
Hinzu kämen Kriegsverbrechen wie die Vergewaltigung ukrainischer Frauen durch russische Soldaten, Folter und Massenerschießungen von Kriegsgefangenen. Letztere würden von beiden Seiten verübt, wie die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, Anfang Mai festgestellt habe. Auf die Frage, welche Art von gewaltfreiem Widerstand er denn unterstützen wolle, sagte der Friedensaktivist:
„Es gab von Beginn an aktiven Widerstand, indem Wegweiser übermalt, Straßen blockiert oder Proteste organisiert wurden. Wichtig ist dabei jedoch, dass die Protestaktionen nicht vom Militär instrumentalisiert werden, um militärische Ziele zu erreichen. Wegen des Fehlens einer Friedenskultur in post-sowjetischen Staaten ist der Widerstand des Volkes gegen den Krieg, nicht gegen eine bestimmte Armee, sondern gegen jede Armee und jede Regierung, jedoch meist passiv. Die Menschen geben vor, auf der Seite der Regierung zu stehen und die Armee zu unterstützen. Aber im Privatleben vermeiden sie es, sich im Krieg zu engagieren, was gut und verständlich ist. Das ist nicht nur in der Ukraine so, sondern auch in vielen anderen Gesellschaften. Wir kennen Beispiele aus dem Westen, wo Soldaten bei Erschießungen bewusst danebengeschossen haben oder die Schützengräben verließen, um mit den sogenannten Feinden Weihnachten zu feiern.“
Zum Thema „Waffenlieferungen“ äußerte er sich wiefolgt:
„Mehr Waffen bedeuten mehr Blutvergießen und mehr tote Zivilisten. Indem Waffen geliefert werden, befürwortet man eine militärische Lösung des Konflikts. Offenbar ist man auch bereit in Kauf zu nehmen, was ein jahrelanger Krieg an Zerstörung und Tod für die Ukraine mit sich bringt. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin zeigte sich (Anm.: bei der Ukraine-Konferenz am US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein im April dieses Jahres) überzeugt, dass die Ukraine den Krieg auf dem Schlachtfeld gewinnen könne. Oberstes Ziel sei es, Russland nachhaltig zu schwächen. Auch aus Russland hören wir, dass die „Spezialoperation“ bis September verlängert werden soll. Wobei das nicht viel zu sagen hat, da der Kreml dann die eine Phase des Krieges für beendet erklären und eine neue eröffnen könnte. Diese Absicht, unbegrenzt Krieg zu führen, liegt im Interesse der kriegstreibenden Eliten in Russland und im Westen. Dabei geht es natürlich um Profit, es geht aber auch um ein konservatives Sicherheitsdenken.“
Und Scheljaschenko machte auch deutlich, was er unter „konservativem Sicherheitsdenken versteht:
„Ich meine damit das System der kollektiven Verteidigung, dem diese Eliten anhängen. Der italienische Staatspräsident Sergio Mattarella hat das erkannt. Er hat bei der parlamentarischen Versammlung des Europarates die Bedeutung des Dialogs betont und daran erinnert, dass, um zu gewinnen, der andere nicht notwendigerweise verlieren müsse. Wir könnten alle gemeinsam gewinnen. Es geht also um kollektive Sicherheit, was bedeutet, dass jeder Staat akzeptiert, dass die Sicherheit eines Staates die Angelegenheit aller ist. Kollektive Verteidigung hingegen bedeutet, dass wir uns gegen jemanden zusammenschließen. So wie wir uns in der Ukraine um Präsident Selenskyj scharen, um Russland zu zerstören, und Russland wird uns zurück zerstören und so weiter. Auch die Nato basiert auf kollektiver Verteidigung – wir mit den USA gegen Russland und später gegen China und dann China gegen uns. So geht das dahin, bis zur Apokalypse, wenn kein Leben mehr auf der Erde sein wird. Auf diese Weise könne der Frieden erreicht werden, wollen sie uns weismachen. Das ist natürlich Blödsinn! Stattdessen sollten wir eine gemeinsame Sicherheit entwickeln und verstehen, dass alle Menschen Teil der Sicherheit der gesamten Menschheit sein sollten. Doch kriegstreiberische Regierungen respektieren die rationale Idee der gemeinsamen Sicherheit nicht.“
Das ganze Interview ist hier nachzulesen:
https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/europa/2151177-Mehr-Waffen-bedeuten-mehr-Blutvergiessen.html