Ukraine: Die Invasion des Kapitals

Von Michael Robert

Letzte Woche stimmten die privaten Auslandsgläubiger der Ukraine dem Ersuchen des Landes zu, die Zahlungen für Auslandsschulden in Höhe von rund 20 Mrd. USD für zwei Jahre einzufrieren. Damit könnte die Ukraine einen Zahlungsausfall bei ihren Auslandsschulden vermeiden. Im Gegensatz zu anderen „Schwellenländern“, die sich in einer Schuldenkrise befinden, sind die ausländischen Anleihegläubiger offenbar bereit, der Ukraine zu helfen – wenn auch nur für zwei Jahre. Durch diesen Schritt spart die Ukraine in diesem Zeitraum 6 Mrd. Dollar und kann so den Druck auf die Reserven der Zentralbank verringern, die seit Jahresbeginn trotz erheblicher ausländischer Hilfe um 28 Prozent gesunken sind.

Es überrascht nicht, dass sich die ukrainische Wirtschaft in einem desolaten Zustand befindet. Für 2022 wird ein Rückgang des realen BIP um mehr als 30 % prognostiziert und die Arbeitslosenquote liegt bei 35 % (Constantinescu et al. 2022, Blinov und Djankov 2022, Nationalbank der Ukraine 2022). „Wir sind dankbar für die Unterstützung unseres Vorschlags durch den Privatsektor in diesen für unser Land so schrecklichen Zeiten“, antwortete Yuriy Butsa, der stellvertretende Finanzminister der Ukraine, „Ich möchte betonen, dass die Unterstützung, die wir bei dieser Transaktion erhalten haben, kaum zu unterschätzen ist. Wir werden auch in Zukunft mit der Investorengemeinschaft zusammenarbeiten und hoffen, dass sie sich an der Finanzierung des Wiederaufbaus unseres Landes beteiligen, nachdem wir den Krieg gewonnen haben“, so Butsa.

Hier offenbart Butsa den Preis, der für diese begrenzte Großzügigkeit ausländischer Gläubiger zu zahlen ist: die zunehmende Forderung ausländischer multinationaler Konzerne und Regierungen, die Kontrolle über die ukrainischen Ressourcen zu übernehmen und sie ohne jegliche Einschränkungen und Begrenzungen unter die Kontrolle ausländischen Kapitals zu bringen.

In einem früheren Beitrag hatte ich den Plan skizziert, die riesigen landwirtschaftlichen Ressourcen der Ukraine zu privatisieren und ausländischen multinationalen Unternehmen zu überlassen. Und seit mehreren Jahren dokumentiert eine Reihe von Berichten der Wirtschaftsbeobachtungsstelle des Oakland Institute die Übernahme durch ausländisches Kapital. Vieles von dem, was hier steht, stammt aus Oakland.

Die postsowjetische Ukraine verfügt mit ihren 32 Millionen Hektar fruchtbarer Schwarzerde (bekannt als „Cernozëm“) über ein Drittel der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche in der Europäischen Union. Die „Kornkammer Europas“, wie sie genannt wird, hat eine Jahresproduktion von 64 Millionen Tonnen Getreide und Saatgut und gehört zu den weltweit größten Produzenten von Gerste, Weizen und Sonnenblumenöl (bei letzterem produziert die Ukraine etwa 30 Prozent der Weltproduktion). 

Wie ich in meinem vorherigen Beitrag erläutert habe, hat die geplante Übernahme der ukrainischen Ressourcen den Konflikt teilweise provoziert: den Halbbürgerkrieg, den Aufstand auf dem Maidan und die Annexion der Krim durch Russland. Wie das Oakland Institute dargelegt hat, wurde 2001 ein Moratorium für den Verkauf von Grundstücken an Ausländer verhängt, um die ungezügelte Privatisierung zu begrenzen. Seitdem ist die Aufhebung dieser Regelung ein Hauptziel westlicher Institutionen. So stellte die Weltbank bereits 2013 ein Darlehen in Höhe von 89 Millionen Dollar für die Entwicklung eines Programms für Grundbucheintragungen und Landtitel bereit, das für die Kommerzialisierung von staatlichem und genossenschaftlichem Land benötigt wird. In den Worten eines Weltbankpapiers von 2019 war das Ziel eine „Beschleunigung privater Investitionen in die Landwirtschaft.“ Diese Vereinbarung, die damals von Russland als Hintertür zur Erleichterung des Einstiegs westlicher multinationaler Konzerne angeprangert wurde, beinhaltet die Förderung der „modernen landwirtschaftlichen Produktion … einschließlich des Einsatzes von Biotechnologien“, eine offensichtliche Öffnung für GVO-Kulturen auf ukrainischen Feldern.

Trotz des Moratoriums für Landverkäufe an Ausländer kontrollierten zehn multinationale Agrarkonzerne im Jahr 2016 bereits 2,8 Millionen Hektar Land. Heute sprechen einige Schätzungen von 3,4 Millionen Hektar in den Händen ausländischer Unternehmen und ukrainischer Unternehmen mit ausländischen Fonds als Anteilseignern. Andere Schätzungen gehen von bis zu 6 Millionen Hektar aus. Das Verkaufsmoratorium, dessen Aufhebung das US-Außenministerium, der IWF und die Weltbank wiederholt gefordert hatten, wurde schließlich von der Regierung Zelenski im Jahr 2020 aufgehoben, noch vor einem für 2024 anberaumten endgültigen Referendum zu diesem Thema.

Nun, da der Krieg weitergeht, verstärken westliche Regierungen und Unternehmen ihre Pläne, die Ukraine und ihre Ressourcen in die kapitalistischen Volkswirtschaften des Westens einzugliedern. Am 4. und 5. Juli 2022 trafen sich Spitzenbeamte aus den USA, der EU, Großbritannien, Japan und Südkorea in der Schweiz zu einer sogenannten „Ukraine Recovery Conference“.

Die Agenda der URC war ausdrücklich darauf ausgerichtet, dem Land politische Veränderungen aufzuzwingen – nämlich „Stärkung der Marktwirtschaft“, „Dezentralisierung, Privatisierung, Reform staatlicher Unternehmen, Landreform, Reform der staatlichen Verwaltung“ und „euro-atlantische Integration“. Die Agenda war eigentlich eine Fortsetzung der Reformkonferenz 2018 in der Ukraine, die die Wichtigkeit der Privatisierung des größten Teils des verbleibenden öffentlichen Sektors der Ukraine betont hatte und erklärte, dass das „ultimative Ziel der Reform der Verkauf staatlicher Unternehmen an private Investoren“ sei, zusammen mit der Forderung nach mehr „Privatisierung, Deregulierung, Energiereform, Steuer- und Zollreform.“ Der Bericht beklagt, dass die „Regierung der größte Vermögensbesitzer der Ukraine ist“ und stellt fest: „Die Reform der Privatisierung und der staatlichen Unternehmen wurde lange erwartet, da dieser Sektor der ukrainischen Wirtschaft seit 1991 weitgehend unverändert geblieben ist.“

Die Ironie ist, dass die Pläne der URC 2018 von den meisten Ukrainern abgelehnt wurden. Eine Meinungsumfrage ergab, dass nur 12,4 % die Privatisierung staatlicher Unternehmen (SOE) unterstützten, während 49,9 % sie ablehnten. (Weitere 12 % waren gleichgültig, während 25,7 % keine Antwort gaben.)

Ein Krieg kann jedoch den Unterschied ausmachen. Im Juni 2020 genehmigte der IWF ein 18-monatiges Kreditprogramm in Höhe von 5 Mrd. USD für die Ukraine. Im Gegenzug hob die ukrainische Regierung nach anhaltendem Druck der internationalen Finanzinstitutionen das 19-jährige Moratorium für den Verkauf staatlicher Agrarflächen auf. Olena Borodina vom ukrainischen Netzwerk für ländliche Entwicklung kommentierte, dass „die Interessen der Agrarindustrie und der Oligarchen die Hauptnutznießer einer solchen Reform sein werden… [Dies] wird die Kleinbauern nur weiter marginalisieren und birgt die Gefahr, dass sie von ihrer wertvollsten Ressource abgeschnitten werden.

Und nun hat die URC im Juli ihre Pläne zur Übernahme der ukrainischen Wirtschaft durch das Kapital erneut bekräftigt, wobei sie von der Regierung Zelensky voll unterstützt wurde. Zum Abschluss des Treffens verabschiedeten alle anwesenden Regierungen und Institutionen eine gemeinsame Erklärung, die so genannte Lugano-Erklärung. Diese Erklärung wurde durch einen „Nationalen Sanierungsplan“ ergänzt, der wiederum von einem von der ukrainischen Regierung eingerichteten „Nationalen Sanierungsrat“ ausgearbeitet wurde.

In diesem Plan wurde eine Reihe kapitalfreundlicher Maßnahmen befürwortet, darunter die „Privatisierung nicht kritischer Unternehmen“ und der „Abschluss der Vergesellschaftung staatlicher Unternehmen“ – als Beispiel wurde der Verkauf des staatlichen ukrainischen Kernenergieunternehmens EnergoAtom genannt. Um „privates Kapital in das Bankensystem zu locken“, forderte der Vorschlag ebenfalls die „Privatisierung von SOBs“ (staatseigenen Banken). In dem Bestreben, „private Investitionen zu steigern und das Unternehmertum im ganzen Land anzukurbeln“, drängte das Nationale Konjunkturprogramm auf eine erhebliche „Deregulierung“ und schlug die Schaffung von „Katalysatorprojekten“ vor, um private Investitionen in vorrangigen Sektoren freizusetzen.

In einem ausdrücklichen Aufruf zum Abbau des Arbeitsschutzes griff das Dokument die verbleibenden arbeitnehmerfreundlichen Gesetze in der Ukraine an, von denen einige noch aus der Sowjetzeit stammen. Das Nationale Konjunkturprogramm beklagte „veraltete Arbeitsgesetze, die zu komplizierten Einstellungs- und Entlassungsverfahren, Überstundenregelungen usw. führen“. Als Beispiel für diese angeblich „veraltete Arbeitsgesetzgebung“ beklagte der vom Westen unterstützte Plan, dass Arbeitnehmern in der Ukraine mit einem Jahr Berufserfahrung eine neunwöchige „Kündigungsfrist für Entlassungen“ gewährt wird, verglichen mit nur vier Wochen in Polen und Südkorea.

Im März 2022 verabschiedete das ukrainische Parlament ein Notgesetz, das es den Arbeitgebern erlaubt, Tarifverträge auszusetzen. Im Mai verabschiedete es dann ein dauerhaftes Reformpaket, mit dem die große Mehrheit der ukrainischen Arbeitnehmer (in Unternehmen mit weniger als 200 Beschäftigten) effektiv vom ukrainischen Arbeitsrecht ausgenommen wurde. Aus Dokumenten, die im Jahr 2021 an die Öffentlichkeit gelangten, geht hervor, dass die britische Regierung ukrainische Beamte darin unterrichtete, wie man eine widerspenstige Öffentlichkeit davon überzeugen kann, Arbeitnehmerrechte aufzugeben und gewerkschaftsfeindliche Maßnahmen umzusetzen. In den Schulungsunterlagen wurde beklagt, dass die Bevölkerung den vorgeschlagenen Reformen überwiegend ablehnend gegenüberstehe, aber es wurden auch Strategien vermittelt, um die Ukrainer zur Unterstützung der Reformen zu verleiten.

Während die Arbeitnehmerrechte in der „neuen Ukraine“ abgeschafft werden sollen, zielt der Nationale Sanierungsplan darauf ab, Unternehmen und Wohlhabende durch Steuersenkungen zu unterstützen. Der Plan beklagte, dass 40 % des ukrainischen BIP aus Steuereinnahmen stammten, und nannte dies im Vergleich zu seinem Vorbild Südkorea eine „ziemlich hohe Steuerlast“. Er forderte daher, „den Steuerdienst umzugestalten“ und „Möglichkeiten zur Senkung des Anteils der Steuereinnahmen am BIP zu prüfen“. Im Namen der „EU-Integration und des Marktzugangs“ schlug sie ebenfalls die „Beseitigung von Zöllen und nichttarifären, nichttechnischen Hemmnissen für alle ukrainischen Waren“ vor und forderte gleichzeitig die „Erleichterung der Anziehung ausländischer Direktinvestitionen, um die größten internationalen Unternehmen in die Ukraine zu bringen“, mit „besonderen Investitionsanreizen“ für ausländische Unternehmen.

Neben dem Nationalen Sanierungsplan und dem strategischen Briefing wurde auf der Sanierungskonferenz für die Ukraine im Juli 2022 ein Bericht vorgestellt, der von Economist Impact, einer Unternehmensberatungsfirma, die zur Economist Group gehört, erstellt wurde. Der „Ukraine Reform Tracker“ drängte darauf, „ausländische Direktinvestitionen“ internationaler Unternehmen zu erhöhen und nicht in Sozialprogramme für die ukrainische Bevölkerung zu investieren. Der Tracker-Bericht betonte die Bedeutung der Entwicklung des Finanzsektors und forderte die „Beseitigung übermäßiger Regulierungen“ und Zölle. Er forderte eine weitere „Liberalisierung der Landwirtschaft“, um „ausländische Investitionen anzuziehen und das einheimische Unternehmertum zu fördern“, sowie „Verfahrensvereinfachungen“, um es „kleinen und mittleren Unternehmen“ zu erleichtern, „durch den Kauf und die Investition in staatseigene Vermögenswerte zu expandieren“, wodurch „ausländischen Investoren der Markteintritt nach dem Konflikt erleichtert wird“.

Der Ukraine Reform Tracker stellte den Krieg als eine Gelegenheit dar, die Übernahme durch ausländisches Kapital durchzusetzen. „Die Nachkriegszeit könnte eine Gelegenheit bieten, die schwierige Bodenreform zu vollenden, indem das Recht auf den Erwerb von landwirtschaftlichen Flächen auf juristische Personen, einschließlich ausländischer, ausgeweitet wird“, heißt es in dem Bericht. „Die Öffnung des Weges für internationales Kapital, das in die ukrainische Landwirtschaft fließt, wird wahrscheinlich die Produktivität des gesamten Sektors steigern und seine Wettbewerbsfähigkeit auf dem EU-Markt erhöhen“, heißt es weiter. „Nach Beendigung des Krieges wird die Regierung auch die Privatisierung der Privatbank, des größten Kreditgebers des Landes, und der Oshchadbank, eines großen Abwicklers von Renten und Sozialleistungen, in Erwägung ziehen müssen, um den Anteil der staatlichen Banken deutlich zu senken“, so der Bericht.

Andernorts gibt es weniger explizite Pro-Kapital-Politiken, die von halb-keynesianischen westlichen Wirtschaftswissenschaftlern angeboten werden. In einer aktuellen Zusammenstellung des Center for Economic Policy Research (CEPR) haben verschiedene Ökonomen makroökonomische Maßnahmen für die Ukraine in Kriegszeiten vorgeschlagen. Darin „betonen die Autoren zu Beginn, dass die Krise in der Ukraine kein typisches makroökonomisches Anpassungsprogramm darstellt, d.h. nicht die üblichen IWF-Fiskalsparmaßnahmen und Privatisierungsforderungen. Aber nach vielen Seiten wird klar, dass sich ihre Vorschläge kaum von denen der URC unterscheiden. Wie sie sagen, „sollte das Ziel darin bestehen, eine umfassende radikale Deregulierung der Wirtschaftstätigkeit zu verfolgen, Preiskontrollen zu vermeiden, die Angleichung von Arbeit und Kapital zu erleichtern und die Verwaltung der beschlagnahmten russischen und anderen sanktionierten Vermögenswerte zu verbessern.“

Die Übernahme der Ukraine durch das (hauptsächlich ausländische) Kapital wird damit abgeschlossen sein, und die Ukraine kann damit beginnen, ihre Schulden zurückzuzahlen und dem westlichen Imperialismus neue Profite zu bescheren.

Quelle: https://thenextrecession.wordpress.com/2022/08/13/ukraine-the-invasion-of-capital/

Übersetzt mit www.DeepL.com/Translator (kostenlose Version)

Stand: 13.8.2022

„Verschwörungen“ und „Erzählungen“

In seiner Ausgabe vom 3. November beschäftigte sich der Berliner „Tagesspiegel“ mit dem Problem der russischen Propaganda. Zum diesem Thema war eine Umfrage unter Bundesbürger:innen durchgeführt worden, die für den Autor des Artikels beunruhigend war. Denn gerade im Osten würde sie verfangen. Dort hätten 31% der Befragten der Position zugestimmt, die NATO habe eine Mitverantwortung für den Krieg in der Ukraine, da diese Russland provoziert habe. Einer ernsthaften Auseinandersetzung damit, ob etwas daran sein könnte, sind die verantwortlichen Redakteur:innen des bedingungslos transatlatisch orientierten Blattes seit Beginn des Krieges weitgehend ausgewichen. Stattdessen wurden kritische Nachfragen zur Vorgeschichte des Krieges schnell als „russisches Narrativ“ etikettiert und damit entsorgt. Dies ist beileibe kein Alleinstellungsmerkmal. Die mit Paukenschlag von oben inszenierte Poltik der „Zeitenwende“ scheint gerade in den Medien auf bereitwillige Gefolgschaft zu stoßen. Kaum eine „offentliche Persönlichkeit“ wagt Widerspruch zu den offiziellen Erzählungen und Sprachregelungen einzulegen. Und wenn doch, muss sie nicht lange darauf warten, bis sie an den Pranger gestellt wird. Auffällig ist auch, dass die wenigsten Medien ihre Leser:innen mit Stimmen und Einschätzungen anderer Länder versorgen. Man hätte ja mal die Korrespondenz der verantwortlichen Politiker der USA und Russlands zur Ukraine – soweit sie öffentlich zugänglich ist – veröffentlichen können. Doch russische Verlautbarungen werden gar nicht erst ernst genommen. Und auch US-amerikanische nur, wenn sie die Öffentlichkeit nicht verunsichern. Gerade aus den USA gibt es immer wieder Wortmeldungen, die zeigen, dass es dort eine wache und kritische „Geisteselite“ gibt, die nicht gewohnt ist, den Kopf einzuziehen, nachdem die Regierung gesprochen hat. Aber ein Noam Chomsky ist hier einfach nicht zitierfähig. Es trifft allerdings nicht nur Intellektuelle, die schon immer auf der Linken standen. Auch Persönlichkeiten aus der politischen Mitte der US-Gesellschaft, wie Jeffrey Sachs, scheinen auf dem Index zu stehen. Was er zu sagen hat – er ist beileibe kein „Putin-Troll“ – dürfte bei unseren transatlantischen „Qualitätsmedien“ wohl auch als „Verschwörungserzählung“ oder „russisches Narrativ“ bewertet werden.

Wir verlinken hier einen Artikel von Sachs aus Telepolis v. 4.11. 2022:
https://www.heise.de/tp/features/Wir-brauchen-einen-Wechsel-in-der-US-Aussenpolitik-7329300.html

„Unsere europäischen Werte“: 1,21 Euro Mindestlohn in der Ukraine

Die Ukraine ist korrupt – wissen wir, macht nichts, ist ja für die gute Sache. Aber die ärmste und kränkeste Bevölkerung, Land als Drehscheibe der europaweiten Niedrigstlöhnerei und des Zigarettenschmuggels, Weltspitze beim Handel mit dem weiblichen Körper – und mehr Soldaten als jeder europäische NATO-Staat.

Von Werner Rügemer.

Bei der ersten Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in der Ukraine, im Jahre 2015, betrug er 0,34 Euro, also 34 Cent pro Stunde. Danach wurde er erhöht: 2017 betrug er 68 Cent, 2019 betrug er 10 Cent mehr, also immerhin 78 Cent, und seit 2021 liegt er bei 1,21 Euro. Schon mal gehört?

Selbst dieser Niedrigstlohn wird nicht immer bezahlt

Das bedeutet natürlich nicht, dass dieser Mindestlohn in diesem Staat tatsächlich korrekt bezahlt wird. Bei einer vollen Arbeitswoche im Jahre 2017 betrug so der monatliche Mindestlohn 96 Euro. Aber zum Beispiel in der Textil- und Lederindustrie kam dieser Mindestlohn bei einem Drittel der meist weiblichen Beschäftigten nur durch erzwungene und nicht eigens bezahlte Überstunden zustande. Auch Bezahlung nach Stücklohn ist verbreitet – die bestimmte Zahl an Hemden muss in einer Stunde fertiggenäht sein; wenn das nicht klappt, muss unbezahlt nachgearbeitet werden.

Wenn keine Aufträge vorlagen, wurde unbezahlter Urlaub angeordnet. Der gesetzlich zustehende Jahresurlaub wurde vielfach nicht gewährt bzw. nicht bezahlt. Die Unternehmensleitung verhinderte die Wahl von Belegschaftsvertretungen. Mit diesem Mindestlohn lagen die Menschen weit unterhalb des offiziellen Existenzminimums: Es betrug im besagten Jahr 166 Euro.

Die Hungerlohn-Kette aus der Ukraine in die EU-Nachbarstaaten

Es gibt etwa 2.800 offiziell registrierte Textilunternehmen, aber auch eine vermutlich ebenso hohe Zahl an nicht registrierten Kleinunternehmen. Sie bilden seit Jahrzehnten eine ganz normale Schattenwirtschaft, oft in Kleinstädten und Dörfern.

Dabei rangieren die meisten dieser Unternehmen nur als Zweitklasse-Zulieferer für die international besser vernetzten Billigproduzenten in den benachbarten EU-Staaten, vor allem in Polen, aber auch in Rumänien und Ungarn.

So gehen 41 Prozent der Schuhe als Hungerlohn-Halbfertigware aus der Ukraine erstmal in die Niedriglohnfabriken Rumäniens, Ungarns und Italiens: Dort kriegen sie dann das unschuldige und schöne Etikett „Made in EU“.

Textilbeschäftigte selbst können sich nur Second-hand-Importe aus Deutschland leisten

Die Mehrheit der etwa 220.000 Textilbeschäftigten sind ältere Frauen. Sie halten sich nur durch eigene Subsistenzwirtschaft über Wasser, etwa durch einen eigenen Garten mit Hühnerstall. Krankheiten wegen Mangelernährung sind verbreitet.

Ihre eigenen Kleider kaufen die Textilarbeiterinnen meist aus Second-hand-Importen: Die kommen vor allem aus Deutschland, Polen, Belgien, der Schweiz und den USA. Die Ukraine importiert nämlich viel mehr Textilien als sie exportiert.

Die teuren, in der Ukraine vorproduzierten Importe von Boss und Esprit aus dem reichen EU-Westen sind für die reiche Elite und die NGO-Blase in Kiew bestimmt – während die Mehrzahl der Importe billigste Second-hand-Textilien sind. Die Textilarbeiterinnen, aber auch die Mehrheit der Bevölkerung können sich nur die fast kostenlosen Wegwerf-Textilien aus den reichen Staaten leisten.[1]

Aber westliche Gewerkschaften und „Menschenrechtler“ blicken immer noch nach Asien und Bangladesh, wenn es um menschenrechtswidrige Niedriglöhnerei in der Textilindustrie geht. Obwohl die Niedriglöhne in der Ukraine viel niedriger sind. Auch bei den aktuellen Diskussionen in der EU und im Deutschen Bundestag über ein Lieferkettengesetz: Da geht der Blick weit hinaus, global, nach Asien, während die EU-ukrainische Armutskette verleugnet wird.

Hier sitzt sie, die Korruption: C&A, Hugo Boss, Adidas, Marks&Spencer, New Balance, Esprit, Zara, Mexx sind die profitierenden Endabnehmer. Sie leben von der menschenrechtswidrigen Ausbeutung. Hier in den reichen EU-Staaten sitzen die wichtigsten Akteure der Korruption. Klammheimlich begrüßen sie freudig die nicht vorhandene bzw. komplizenhafte Arbeitsaufsicht des ukrainischen Staates, und die EU deckt das systemische Arbeitsunrecht ebenfalls, mit rituell-heuchlerischer und folgenloser Anmahnung der Korruption in der Ukraine.[2]

Autozulieferer, Pharma, Maschinenbau

So ähnlich wie in der Textil- und Lederindustrie läuft es auch in anderen Bereichen. Die Ukraine war ein Schwerpunkt industrieller Produktion in der Sowjetunion. Nach der Selbstständigkeit 1991 übernahmen Oligarchen die Firmen, holten Gewinne raus, steckten nichts in die Innovation. Für westliche Firmen standen Millionen gut qualifizierter Beschäftigter bereit – zu Niedrigstlöhnen.

Tausende Unternehmen vor allem aus den USA und EU-Staaten – allein aus Deutschland etwa 2.000 – vergeben Zuliefer-Aufträge für eher einfachere Teile: Porsche, VW, BMW, Schaeffler, Bosch und Leoni etwa für Autokabel; Pharma-Konzerne wie Bayer, BASF, Henkel, Ratiopharm und Wella lassen ihre Produkte abfüllen und verpacken; Arcelor Mittal, Siemens, Demag, Vaillant, Viessmann unterhalten Montage- und Verkaufsfilialen. Hier werden durchaus Löhne von zwei bis drei Euro gezahlt, also mehr als der Mindestlohn, aber eben noch niedriger als in den angrenzenden EU-Staaten Ungarn, Polen, Rumänien.

Deshalb sind die ukrainischen Standorte mit den Standorten derselben Unternehmen in diesen benachbarten EU-Staaten eng vernetzt, wo die gesetzlichen Mindestlöhne über 3 Euro und unter 4 Euro liegen. Die Vernetzung gilt aber genauso mit den noch ärmeren Nachbarstaaten Moldau, Georgien und Armenien, die nicht EU-Mitglieder sind. Hier werden ebenfalls Filialen betrieben. Im Zuge der „Östlichen Nachbarschaft“, organisiert von der EU, werden alle Unterschiede der Qualifikation, der noch niedrigeren Bezahlung ausgenutzt – mit der Ukraine als Drehtür.

Millionenfache Arbeits-Migration

Diese selektive Ausnutzung von Standortvorteilen durch westliche Kapitalisten hat nicht zur volkswirtschaftlichen Entwicklung geführt, im Gegenteil. Die Ukraine wurde volkswirtschaftlich verarmt. Die Bevölkerungsmehrheit wurde ärmer und kränker gemacht. Eine massenhafte Reaktion ist die Arbeitsmigration.

Sie setzte schon früh ein. Bis Ende der 1990er Jahre wanderten mehrere hunderttausend Ukrainer nach Russland aus. Die Löhne waren zwar nicht viel höher, aber in Russland schlagen nicht die exzessive Verwestlichung des Lebensstils und die Verteuerung der Lebenshaltungskosten für Nahrung, Mieten, Gesundheit und staatliche Gebühren durch.

Seit den 2000er Jahren und beschleunigt durch die Folgen des Maidan-Putsches 2014 sind etwa 5 Millionen UkrainerInnen als Arbeitsmigranten unterwegs – etwa zwei Millionen mehr oder weniger dauerhaft im Ausland, etwa drei Millionen pendeln in die Nachbarstaaten. Insbesondere der polnische Staat, der ohnehin Ansprüche auf westliche Teile der Ukraine erhebt, fördert die Arbeitsmigration aus der Ukraine. Etwa zwei Millionen UkrainerInnen verdingen sich in Polen vor allem in niedrigen Diensten als Putzkräfte, Haushaltshilfen, Kellner, Altenbetreuer, LkW-Fahrer.[3] In Polen blüht auch das Geschäft von Vermittlungsagenturen: Die erklären Ukrainer zu polnischen Staatsangehörigen und vermitteln sie etwa als häusliche Pflegekräfte nach Deutschland und in die Schweiz: Da wird dann schon mal der dortige Mindestlohn bezahlt, für eine 40-Stunden-Woche, aber in Wirklichkeit müssen die Pflegekräfte 24 Stunden in Bereitschaft sein, so steht es im Vertrag mit der polnischen Agentur.

Hunderttausende UkrainerInnen verdingen sich zudem dauerhaft, auf Zeit oder hin- und herpendelnd in Rumänien, Ungarn, der Slowakei und Tschechien, mit Mindestlöhnen zwischen 3,10 Euro und 3,76 Euro. Da freuen sich die UkrainerInnen, auch wenn sie ein bisschen unter diese Mindestlöhne gedrückt werden – das ist immer noch viel besser als in ihrer Heimat, und die Arbeitsaufsicht sagt nichts und die EU sagt auch nichts.

Studierende aus der Ukraine sind gern engagierte Saisonkräfte in der EU-Landwirtschaft. Allein in Niedersachsen sind es jährlich etwa 7.000 Studierende, die freilich nicht unbedingt studieren, sondern mit gefälschten Immatrikulationspapieren einreisen. Weder in der Ukraine noch in Deutschland wird kontrolliert, wie eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung ergab.[4]

Mindestlohn in Litauen: 2015 betrug er 1,82 Euro, also fünf mal höher als damals in der Ukraine; 2020 betrug er 3,72 Euro. Die EU fördert den Ausbau Litauens zur europäischen Speditions-Zentrale: Mithilfe Künstlicher Intelligenz werden billige und willige LkW-Fahrer aus Drittstaaten wie Ukraine, Moldau, aber auch von weiter her wie von den Philippinen quer durch Europa gelenkt. Sie brauchen keine Sprache zu lernen, sie bekommen ihre Anweisungen über Smartphone und Navigator. So fehlten mit Beginn des Krieges in der Ukraine den Speditionen in Litauen und Polen plötzlich über 100.000 LkW-Fahrer – aus der Ukraine, sie durften wegen des Militärdienstes nicht mehr ausreisen.[5]

Frauen-Armut I: Es blüht die verbotene Prostitution

Der patriarchale Oligarchenstaat Ukraine hat die Ungleichheit zwischen Mann und Frau extrem vertieft. Mit 32 Prozent gender pay gap stehen ukrainische Frauen an der allerletzten Stelle in Europa: Im Durchschnitt bekommen sie ein Drittel weniger Lohn und Gehalt als ihre männlichen Kollegen, im Bereich Finanzen und Versicherung sind es bei gleicher Arbeit sogar 40 Prozent[6] – der EU-Durchschnitt ist 14 Prozent. Wegen der patriarchalen Stereotype werden Frauen zudem besonders häufig in prekäre Teilzeitjobs abgedrängt, sogar noch weit mehr als in Merkel-Deutschland, das bei der Benachteiligung von Frauen unter den EU-Staaten mit an vorletzter Stelle steht.

Zu dieser patriarchalen Frauen-Armut gehört das Verbot der Prostitution, die aber genau unter diesen Bedingungen besonders blüht. Auch Grundschullehrerinnen, die mit ihren 120 Euro im Monat nicht auskommen, zählen zu den geschätzten 180.000 Frauen, die in der Ukraine als Prostituierte arbeiten, geschiedene alleinstehende Frauen mit Kind, Arbeitslose.

Weil die Prostitution verboten ist, verdienen Bordellbetreiber ebenso mit wie Polizisten und Taxifahrer, weil sie durch Schweigen gute Einnahmen haben. Auch Privatwohnungen werden genutzt, wie die Bordelle in bester Lage in der Hauptstadt Kiew. Touristen werden angelockt – mit 80 Euro sind sie dabei. Acht Dienstleistungen pro Nacht – keine Seltenheit. Etwas weniger als die Hälfte der Einnahmen bleibt bei den Frauen. So manche hoffen auf eine Übergangszeit von einem Jahr, zwei oder auch drei Jahren. Oft vergeblich. Ein Drittel wird drogensüchtig, ein Drittel gilt als HIV-positiv.[7]

Nach der „Liberalisierung“ der Sexualdienste durch die Bundesregierung aus Schröder/SPD und Fischer/Grünen wurde Deutschland zum „Bordell Europas“. Die bundeseigene Entwicklungsgesellschaft GTZ warb in ihrem „Deutschland-Reiseführer für Frauen“ um Ukrainerinnen, die jetzt gute Aussichten im Sex-Geschäft hätten. Viele kamen. Merkel-Deutschland wurde zum europäischen Zentrum für gewerbliche Prostitution, mehrheitlich zudem illegal und behördlich geduldet – günstige Bedingungen für Frauen, die nicht aus einem EU-Mitgliedsstaat kommen. So liegt es nahe, dass Zuhälter jetzt im Jahre 2022 flüchtende ukrainische Frauen schon an der Grenze anzuwerben versuchen.[8]

Frauen-Armut II: Der weibliche Körper als Nutzungsmaterial

Die Ukraine ist für westliche Unternehmen ein gefälliger Standort für Praktiken, die sonst verboten sind, ein tausendfach genutzter Standort für die US-geführte Globalisierung. Das gilt auch für die gewerbliche Nutzung des weiblichen Körpers, weit über illegale Prostitution hinaus.

Die Ukraine ist der globale hot spot für industrielle Leihmutterschaft, mit weitergehender „Liberalisierung“ als sonst. Die weit verbreitete Frauen-Armut bietet ein unerschöpfliches Reservoir.

Vittoria Vita, La Vita Nova, Delivering Dreams oder etwas prosaischer BioTex – unter solchen Namen preisen in Kiew und Charkiw Agenturen für Leihmutterschaft ihre Dienste bzw. ihre Frauen an. In Katalogen werden, für zahlungskräftige Ausländer, hübsche gesunde Ukrainerinnen angeboten. Zwischen 39.900 und 64.900 Euro liegen die Preise für ein gesund abgeliefertes Baby. Aus den USA, Kanada, Westeuropa, China kommen die Wunschkind-Touristen.[9]

Das Wunscheltern-Paar liefert in einer der Dutzend Spezialkliniken Ei und Samen ab. Die werden in der Retorte befruchtet. Dann wird das fremde Embryo der Leihmutter eingepflanzt. Diese trägt ein genetisch fremdes Kind aus. Das wurde in den USA entwickelt, ist aber viel teurer: Zwischen 110.000 und 240.000 Euro. In der Ukraine ist es weniger reguliert. Die austragende Frau darf genetisch nichts mit dem Kind zu tun haben, sie ist nur ein fremdes Werkzeug, das nach Benutzung sofort vergessen werden soll, gar nicht mehr existiert – und für die nächste Nutzung für ein ganz anderes fremdes Paar bereitsteht.

Die Preise unterscheiden sich je nachdem, ob die Wunscheltern für ihr bestelltes Baby ein bestimmtes Geschlecht haben wollen oder nicht: Ohne Geschlechtswahl kostet es bei BioTex 39.900 Euro, mit zweimaligem Versuch auf das gewünschte Geschlecht kostet es 49.900 Euro, und bei zahlenmäßig unbegrenzten Versuchen kostet es 64.900 Euro. Zu diesen Angeboten gehört die Hotel-Unterbringung, die Ausstellung der Geburtsurkunde und des Reisepasses im deutschen Konsulat. Bisher wurden mehr als 10.000 solcher Babys weltweit ausgeliefert.

Die Leih- oder Surrogatmutter – eine Leihmutterfirma trägt den dazu passenden Namen: Surrogacy Ukraine – bekommt während der Schwangerschaft eine monatliche Prämie zwischen 300 und 400 Euro, nach gelungener Ablieferung des Produkts wird die Erfolgsprämie auf 15.000 Euro aufgestockt. Wenn es eine Fehlgeburt gibt, das Kind behindert ist oder dessen Annahme verweigert wird, bekommen die Leihmütter nichts. Deren seelische Verfassung bleibt unbeachtet, gegen gesundheitliche Schäden besteht keine soziale Absicherung. Untersuchungen über Langzeitfolgen werden nicht angestellt.

Null-Stunden-Verträge, Enteignung der Gewerkschaften

Die Selensky-Regierung erhöhte zwar den Mindestlohn auf 1,21 Euro, schwächt und zerstört aber gleichzeitig die ohnehin schon seit der Unabhängigkeit immer mehr geschwächten Gewerkschaften. Das Arbeitsgesetz vom Dezember 2019 ist der bisherige Höhepunkt des extremen Arbeitsunrechts:

*Der Null-Stunden-Arbeitsvertrag ist zulässig: Arbeit auf Abruf. Wenn der Unternehmer Arbeit zu vergeben hat, holt er sich kurzfristig den Beschäftigten. Da kann die Zahl der Arbeitsstunden und das Arbeitseinkommen auch mal Null betragen.

*Entlassungen müssen nicht mehr begründet werden.

*Die individuelle Aushandlung der Arbeitsverträge wird gefördert – „Aushandlung“ ist natürlich ein beschönigender Begriff für alternativlose Angebote, was bei der hohen Arbeitslosigkeit kein Problem ist. In Unternehmen mit weniger als 250 Beschäftigten – das sind über 95 Prozent der Unternehmen – können Tarifverhandlungen ausgesetzt werden. Die davon profitierenden Unternehmen sind insbesondere staatliche, dann die Agrar- sowie Nahrungsmittel- und Tabakkonzerne wie Nestle und Philip Morris.

Außerdem sollen die Gewerkschaften enteignet, das Vermögen soll eingezogen werden. Auch wenn sie geschwächt sind, so haben sie aus sowjetischer Zeit noch Grundstücke und teilweise große Häuser, und zwar in den Zentren der Städte. Für Selensky sind das „russische Überreste“ – also enteignen!

Hunderttausende Ukrainer protestierten gegen das neue Gesetz – darüber berichtete keine westliche Tagesschau. In einem gemeinsamen Brief vom 9. September 2021 haben die Internationale Gewerkschafts-Föderation und die Europäische Gewerkschafts-Föderation – ITUC, CSI, IGB – die ukrainische Regierung und das mit der Integration der Ukraine beauftragte EU-Komittee darauf hingewiesen: Die Ukraine verletzt mit dem neuen Arbeitsgesetz nicht nur alle Arbeitsrechte der UNO und der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, sondern auch die niedrigen Standards der EU – keine Reaktion.[10]

Enteignung und Verarmung der Bauern

Nach der Selbstständigkeit bekamen die etwa 7 Millionen Bauern aus ihren Kollektivfarmen im Durchschnitt etwa vier Hektar Land als Eigentum zugeteilt. Das ist zu wenig, um eine eigenständige Landwirtschaft zu betreiben. Deshalb verpachten die Bauern bisher ihr kleines Land an in- und ausländische Oligarchen für eine niedrige Pachtgebühr, gegenwärtig im Durchschnitt für 150 Dollar pro Jahr, 2008 waren es noch 80 Dollar.

So hat etwa der Oligarch Andry Werewsky mit dem Konzern Kernel 570.000 Hektar Pachtland zusammengerafft, der Oligarch Oleg Bachmatjuk schaffte es mit UkrLandFarming auf 500.000 Hektar, der US-„Heuschrecken“-Investor NCH Capital aus New York brachte es auf 400.000 Hektar, der Oligarch Juriy Kosuk für MHP auf 370.000 Hektar, der Oligarch Rinat Achmetov für seine Agro-Holding auf 220.000 Hektar, während die Continental Farmers Group aus Saudi-Arabien „nur“ 195.000 Hektar pachtet. Schwedische und niederländische Pensionsfonds mischen mit. Aus Bayern kommen Klein-Oligarchen wie Dietrich Treis und Hans Wenzel, die zuhause 60 Hektar haben, in der Ukraine aber unvergleichlich günstig gepachtete 4.500 Hektar bewirtschaften.[11] Alexander Wolters aus Sachsen hat sich 4.200 Hektar zusammengepachtet, für 60 Euro pro Hektar im Jahr.[12]

Sie alle sind voll in die EU und den westlichen Weltmarkt integriert:

*Die rechtlichen und Steuersitze sind vorzugsweise in den EU-üblichen Finanzoasen Zypern, Luxemburg und der Schweiz, die ukrainischen Regierungen brachten Steuererlasse und Subventionen bei.

*Sie erhalten immer wieder hohe Kredite der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) und der Europäischen Investitionsbank (EIB).

*Die Samen-, Düngemittel-, Pestizid- und Landtechnik ist v.a. in den Händen von US- und deutschen Konzernen wie Cargill, Archer Daniels, John Deere, Corteva, Bayer und BASF.

Hochbezahlte Manager führen die Geschäfte. Einige wenige der Bauern können zum Mindestlohn Hilfsdienste in diesem großflächig organisierten Agrobusiness ausführen. Ein bisschen nicht-verpachtetes Land ermöglicht ihnen kümmerliches Überleben.[13]

Doch die Selensky-Regierung hat die Pacht-Praxis beendet: Seit 1. Juli 2021 können die Bauern ihr Land verkaufen, zunächst nur an Käufer mit ukrainischer Staatsangehörigkeit. Dafür richtet die Regierung ein Auktionsportal ein, in dem auch anonym geboten werden kann. Die Freigabe des Verkaufs der höchst fruchtbaren ukrainischen Schwarzerde wurde nicht nur von oligarchischen land grabbern verlangt, sondern auch vom Internationalen Währungsfonds IWF, der der hochverschuldeten Ukraine für einen neuen 5-Milliarden-Kredit u.a. diese Auflage machte: Land darf verkauft werden, das führt zu wirtschaftlichem Aufschwung! Ein späteres Referendum 2024 soll dann den nächsten Schritt einleiten: Verkauf des Bodens auch an Ausländer. Die weitere Verarmung der Bauernfamilien ist eine der Folgen, die unter diesen Bedingungen eingeleitet wird. Deshalb protestierten viele Bauern gegen diese „Landreform“ – ohne Wirkung.

Schmuggelzentrale Ukraine: Seit 30 Jahren

Ab 1992 kauften die größten Zigarettenkonzerne Philip Morris, R.J. Reynolds, Britisch American Tobacco und Japan Tobacco die Zigarettenfabriken in der Ukraine. Teilweise blieb der Staat ein paar Jahre als Minderheitsgesellschafter dabei.

Die Produktion mit guten, aber nun schlechter bezahlten Fachkräften galt zum wenigsten für den ukrainischen Markt. Das große Spektrum der Luxusmarken wie Marlboro und Chesterfield bis hinunter zu Billigstmarken wurde für den Export produziert. Dafür senkte die komplizenhafte Regierung die Tabaksteuer auf ein international konkurrenzloses Niveau, weniger als die Hälfte der in Europa sonst geltenden Steuer. Gleichzeitig blieben die Zollkontrollen auf niedrigstem Niveau.

Ende der 1990er Jahre erkannte die Europäische Kommission: Philip Morris & Co produzieren in der Ukraine mehr als 90 Prozent für den Export, einschließlich mit den Billigzigaretten für den globalen Schmuggel in arme Staaten, aber auch in die reichen EU-Staaten. Durch den Schmuggel würden die EU-Staaten jährlich um 4 Mrd. Euro geschädigt. Die EU klagte gegen Philip Morris und Reynolds auf Schadenersatz. Das Gericht in New York wies die Klage 2001 ab. Drei Jahre später willigte Philip Morris ein, an die EU 1,3 Mrd. Dollar zu zahlen, um den Kampf gegen Schmuggel und gefälschte Etiketten zu unterstützen.

Morris zahlte aber erstmal nicht, 2010 wurde das Abkommen erneuert. Morris hat sich verpflichtet, die Summe, auf 12 Jahre verteilt, an Belgien, Finnland, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Portugal und Spanien zu bezahlen. Diese Staaten haben das Abkommen unterzeichnet – aber alle osteuropäischen EU-Staaten nicht. Gleichzeitig blühte hinter den Kulissen die Komplizenschaft: Michel Petite, von 2001 bis 2007 Generaldirektor des Juristischen Dienstes der EU-Kommission, wechselte 2008 zur US-Kanzlei Clifford Chance, übernahm dort den Mandanten Philip Morris und wurde auch noch Vorsitzender des „Ethik-Komitees“ der EU.[14]

In der Ukraine kostet eine Schachtel Marlboro-Zigaretten trotz inzwischen etwas erhöhter Tabaksteuer 2,50 Euro und im Kosovo 1,65 (Stand 2021) – während die Schachtel in Deutschland 7 Euro kostet, in Belgien 6,20, in Frankreich 10, in Italien 6 usw. Deshalb gehen natürlich der Export und der Schmuggel aus der Ukraine weiter. Deshalb wird rituell-ergebnislos verhandelt, so auch beim 21. Gipfeltreffen EU-Ukraine. „Die Ukraine ist zu einer weltweiten Drehscheibe für die Lieferung illegaler Zigaretten nach Europa geworden“, so gestand der Vizechef des ukrainischen Präsidentenamtes, Alexej Hontscharuk. Präsident Zelensky hat natürlich wieder zugesagt, dass die Ukraine den Tabakschmuggel noch heftiger bekämpfen wird als bisher.[15]

Ukraine: Höchste Militärausgaben in Europa

Durch den von westlichen Akteuren – NATO, Horizon Capital, Swedbank, National Endowment for Democracy, Black See Trust, Soros Foundation – organisierten Maidan-Putsch 2014 wurde der kleine Banker Arsenij Jazeniuk ins Amt des ukrainischen Ministerpräsidenten gehievt.[16] Die Boykotte gegen Russland führten zum Verlust mehrerer hunderttausend Arbeitsplätze in der Ukraine – allein für deutsche Unternehmen wie den Autozulieferer Leoni waren es etwa 40.000.

Die ukrainische Regierung orientierte sich nun an der EU und führte 2015 einen gesetzlichen Mindestlohn ein: 34 Cent pro Arbeitsstunde. Das war eine deutliche Ansage, auf welchem Niveau sich die Arbeitseinkommen bewegten. Die Beschäftigten wie in der Textilindustrie und im Agrobusiness freuen sich, wenn der Mindestlohn wirklich gezahlt wird. Andere Beschäftigte freuen sich, wenn der Stundenlohn in die Nähe von drei Euro kommt. Die Arbeitsmigration Richtung Ausland beschleunigte sich, wurde und wird von den nicht so stark verarmten osteuropäischen Nachbarstaaten gern genutzt. Die Ukraine wurde endgültig zur „Lieferantin billiger Arbeitskräfte in die EU-Länder.“[17]

Der hinsichtlich der Bevölkerungsmehrheit allerärmste Staat in Europa rüstete mithilfe der NATO, insbesondere der USA und Großbritanniens, ab 2016 noch schneller auf, von 2,9 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) für das Militär innerhalb eines halben Jahrzehnts auf das Doppelte bis 2020, also schon vor dem Krieg: auf 5,9 Prozent – hochprozentigster Musterknabe für die Forderung von US-Präsident Obama, die Militärbudgets auf 2 Prozent zu erhöhen. Damit steht die Ukraine nach Saudi-Arabien weltweit an 2. Stelle, noch vor dem zweitbesten US-Musterknaben, dem hochgerüsteten Israel.[18]

Das Nicht-NATO-Mitglied Ukraine mit jetzt 41 Millionen Einwohnern hat mit seinen 292.000 Soldaten mehr Militärs als die anderen und auch größeren NATO-Mitglieder (USA natürlich ausgenommen), also mehr Soldaten als Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Griechenland, Spanien, Polen, Rumänien… Der Staat mit der allerärmsten Bevölkerungsmehrheit in Europa leistete sich bzw. seinen Herren und Damen in Washington, Brüssel, London, Paris und Berlin zugleich die weitaus höchsten Militärausgaben, vielleicht zur Vorbereitung eines Krieges, oder wofür?

Die ärmste und kränkeste Bevölkerung Europas

Der IWF vergab dem „korruptesten Staat Europas“ (Transparency International) Kredite mit Auflagen für Sozial- und Rentenkürzungen, für Erhöhung der Kommunalgebühren (Wasser, Abwasser, Müll) und der staatlichen Energiepreise sowie für weitere Privatisierungen. Der IWF war auch Kriegstreiber: Der Verlust des Donbass würde sich negativ auf die Höhe der westlichen Kredite auswirken, ließ er verlautbaren.[19]

Die Staatsverschuldung wurde 2020 auf optisch hübsche 60 Prozent herabgedrückt – hervorragend für einen Beitritt zur EU. Begleitfolge: Die Bevölkerungsmehrheit ist noch ärmer, die Lebenshaltungskosten, Nahrungsmittel, Kommunalabgaben, Mieten, Gesundheits- und Energiekosten sind gestiegen – sind nur noch teilweise bezahlbar oder eben gar nicht mehr. Die Durchschnittsrente betrug 2013, vor dem Maidan-Putsch, noch 140 Euro, das war der Höhepunkt in der Geschichte der unabhängigen Ukraine. Seit 2017 beträgt die Durchschnittsrente 55 Euro. Immer mehr RenterInnen müssen weiterarbeiten.[20]

Seit der westlich orientierten Unabhängigkeit schrumpfte die Bevölkerung der Ukraine von 51 Millionen Einwohnern auf jetzt 41 Millionen. Schon vor dem jetzigen Krieg prognostizierte die Internationale Organisation für Migration (IOM) für das Jahr 2050 eine weitere Schrumpfung: 32 Millionen Einwohner, und die würden dann noch mehr im Durchschnitt noch älter sein als jetzt schon.

Die ärmste Bevölkerung Europas ist auch die kränkeste: Die Ukraine steht in Europa an erster Stelle der Todesfälle wegen Mangelernährung.[21]

Wie lobte doch die Präsidentin der Europäischen Kommission, Frau von der Leyen, so überschwenglich: „Die Ukraine verteidigt beeindruckend unsere europäischen Werte!“ Deshalb soll die Ukraine EU-Mitglied werden. Die Präsidentin fügte hinzu: „Die Ukraine verdient diesen Status, denn sie ist bereit, für den europäischen Traum zu sterben.“[22]

Die christlich lackierte Politikerin hat mehr recht, als sie glaubt.

Titelbild: Protasov AN / shuttestock


[«1] Oksana Dutschak: Sweatshops am Rande Europas. Wie Markenkleidung in der Ukraine genäht wird, Bundeszentrale für politische Bildung 4.12.2017; siehe auch: Clean Clothes Campaign: Länderprofil Ukraine 2017, herausgegeben von der Rosa Luxemburg-Stiftung.

[«2] Werner Rügemer: Imperium EU. ArbeitsUnrecht, Krise, neue Gegenwehr. Köln 2020

[«3] Die nützlichen Migranten. Zwei Millionen Ukrainer in Polen, Deutschlandfunk 27.2.2018

[«4] Ukrainische Saisonarbeitskräfte in der Landwirtschaft, fes.de, 6.4.2022

[«5] Lastwagenfahrer fallen aus. Viele Ukrainer eingezogen, FAZ 9.3.2022

[«6] Gender Pay Gap in the Ukraine, globalpeoplestrategist.com/

[«7] Käufliche Liebe im Untergrund, Der Spiegel 30.6.2012

[«8] Ukrainerinnen auf der Flucht: „Oft schon an Grenze von Zuhältern angesprochen“, MDR Sachsen 3.6.2022

[«9] Geschäft mit dem Babyglück – Leihmütter in der Ukraine, arte-TV 29.1.2021; Babys für die Welt. Das Geschäft mit ukrainischen Leihmüttern, DLF/SWR/ORF 30.11.2021; In der Ukraine boomte das Geschäft mit der Leihmutterschaft. Dann kam der Krieg, Stern 25.3.2022

[«10] Sharan Burrow/ITUC and Luca Visentini/ETUC: Letter to Mr. Volodymyr Zelenskyy and others, Brussels 9 September 2021, pmguinfo.dp.ua/images/photo-news/09_2021/original_lista.pdf

[«11] Ukraine-Krieg: Niederbayerischer Landwirt bangt um seine Mitarbeiter, Bayerischer Rundfunk 4.3.2022; ARD Tagesschau 17.5.2022

[«12] Deutsche Landwirte in der Ukraine ächzen über Preisschwankungen und Transportprobleme, mdr.de 21.5.2022

[«13] Who Benefits from the Creation of a Land Market in Ukraine? oaklandinstitute.org, December 2020; Christina Planks: Land grabs in the Black Earth: Ukrainian Oligarchs and International Investors, Heinrich Böll-Stiftung 30.10.2013; Transnational Institute: Land Concentration, Land Grabbing and Peoples’ Struggles in Europe, June 2013

[«14] Geschichte der EU-Vereinbarungen zum Tabakschmuggel: Unfairtobacco.org

[«15] Schmuggel: Ukraine will Kooperation mit der EU verbessern, euraktiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/schmuggel-ukraine-will-kooperation-mit-der-eu-verbessern/, abgerufen 15.7.2022

[«16] Werner Rügemer: Jazeniuk made in USA, Ossietzky 9/2014

[«17] Olga Gulina / Oleksii Pozniak: Ukraine – Migrationsströme im Wandel, zois-berlin.de/publikationen/ukraine-migrationsstroeme-im-wandel, 11.4.2018

[«18] Militärausgaben der Ukraine von 2006 bis 2021, de.statista.com, abgerufen 15.7.2022

[«19] cnbc.com/2014/05/01/ukraine-gets-17bn-bailout-russian-risks-remain.html

[«20] Ukraine-analysen Nr. 200, 27.4.2018, laender-analysen.de/ukraine

[«21] Cardioviscular mortality attribuable to dietary risk factors in 51 countries in the WHO European Region from 1990 to 2016, European Journal of Epidemiology 34, 37ff. (2019)

[«22] Die Ukraine und die EU – Eine geopolitische Entscheidung, FAZ 17.5.2022

Erstveröffentlichung in „nachdenkseiten“, 21.7. 2022
Wir danken dem Autor für das Recht auf Veröffentlichung.

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