Es ist an der Zeit

Der linke Diskurs um die „Zeitenwende“ hat Fahrt aufgenommen. Hier ein weitreichender Beitrag dazu, quasi der „lange Weg“ in die Zeitenwende. Im Fokus diesmal weniger der Kriegskurs, sondern mehr Profitmaximierung, Neoliberalismus, Abbau des Sozialstaats und auch die Rolle der Gewerkschaften dabei. Es ist überfällig, konsequent zu kämpfen! (Peter Vlatten)

„Die Herren machen das selber, dass Ihnen der arme Mann Feind wird.“ (Thomas Müntzer)

Harald Weinberg, September 2025

Spätestens seit der Zeitenwende von 1989/1990 erleben wir weltweit einen entfesselten Kapitalismus und (besonders auch in Deutschland) in aufeinander-folgenden Wellen einen entfesselten Klassenkampf der besitzenden Klasse gegen die besitzlosen oder besitzarmen Klassen. Der „Mittelstand“ wurde und wird dabei zerrieben. Damit hat sich auch das „Aufstiegsversprechen“, nachdem Jede und Jeder „es schaffen könne, wenn sie/er sich nur genug anstrenge“, in Luft aufgelöst. Bisweilen wurden die Besitzlosen abgespeist und ruhig gestellt mit dem Märchen vom „Trickle Down“: „Wenn die Reichen reicherwerden und wenn das Kapital mehr Profit macht, dann fällt auch für euch was ab.“ – Pustekuchen, wie wir heute wissen.

Inzwischen wird auf derartige Verklausulierungen verzichtet: Profitmacherei und Bereicherung gilt als selbstverständlicher und unhinterfragbarer Selbstzweck der herrschenden Politik. Und wenn es dann klemmt bei den Staatsfinanzen? Dann muss eben der Sozialstaat, den „wir uns nicht mehr leisten können“, geschliffen werden. Und dazu wird er zunächst sturmreif geredet und geschrieben: Organisierte Bürgergeldbetrügereien, fehlende Sanktionierungen von „Arbeitsverweigerern“, zu geringes Lohnabstandsgebot (weshalb nicht etwa die Löhne erhöht werden sollten, sondern das Bürgergeld abgesenkt), Rentenkürzungen, Arbeiten bis zur Grablegung, Zuzahlungen beim Arzt und im Krankenhaus usw. usf. Der Phantasie der Grausamkeiten sind keine Grenzen gesetzt, vor allem unter einem Kanzler Merz und mit einer hilflosen SPD. Und der Drohung, im Zweifel das Ganze mit der AfD durchzusetzen, die sich im Hintergrund bereit hält.

„Death of a Clown“ [1]https://www.sozialismus.de/vorherige_hefte_archiv/supplements/liste/detail/artikel/death- 1
of-a-clown/

Wobei wir mit der hilflosen SPD auch bei den Gewerkschaften und ihrem Dachverband DGB wären. Eigentlich die Interessenvertretung der lohnabhängig arbeiteten Menschen und allen anderen, die nicht von ihrem Vermögen leben können oder als leitende Angestellte des Kapitals aus der Profitmasse alimentiert werden.

Die Gewerkschaften und ihr Dachverband wurden insbesondere unter den Regierungen Brandt/Schmidt ziemlich erfolgreich im Rahmen der „konzertierten Aktion“ (Wirtschaftsminister Schiller) in das „Modell Deutschland“ integriert. Sie durften als „Sozialpartner“ mit am Tisch sitzen und mitreden, wenngleich die Mitsprache nun nicht so weit ging, dass man von einer substanziellen Mitbestimmung im Sinne einer Demokratisierung der Wirtschaft reden könnte. Gelegentlich liessen sie mal ihre Muskeln spielen in Form von Warnstreiks und Branchenstreiks. Aber seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts gerieten sie in die Defensive. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen, aber der Hauptgrund scheint mir zu sein, dass die „Gegenseite“ kein Interesse mehr hatte, das „Modell Sozialpartnerschaft“ fortzusetzen. Mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Staatssystems entfiel aus ihrer Sicht die politische Notwendigkeit sich an diese Spielregeln zu halten. Und man änderte die Spielregeln unter der Hand ziemlich radikal. Rhetorisch wurde an dem Begriff festgehalten, weil man damit die Gewerkschaften ruhigstellen und immer wieder ermahnen konnte, sich ich bitte als „Sozialpartner“ nicht daneben zu benehmen. Inhaltlich wurde die Orientierung an Sozialpartnerschaft aufgegeben und „Shareholder Value“ zum alleinigen Leitstern kapitalistischen Handelns. Die Gewerkschaften haben sicher unterschiedlich darauf reagiert. Aber in wesentlichen Teilen erschöpfte sich die Reaktion darauf, zu lamentieren dass das Kapital die Spielregeln der Sozialpartnerschaft verletze, und zu appellieren doch zu diesen zurückzukehren.

Sozialstaatsabbau: Angriff auf den Besitzstand der Arbeiterklasse

Und bereits unter der Regierung Kohl (CDU) aber erst recht unter der Regierung Schröder (SPD) geriet der Sozialstaat (teilweise unter den Stichworten „Lohnnebenkosten“ und „Standortwettbewerb“) ins Visier. Hier kommt mein Staatsverständnis etwas zum Tragen: In das bürgerliche Staatsgefüge ist mehr oder weniger deutlich auch der jeweils historische Stand der Klassenauseinandersetzung eingeschrieben. Gesetze, besonders wenn sie arbeitsrechtliche, sozialrechtliche aber auch wirtschaftsrechtliche Fragen betreffen, sind insofern geronnene und für diese historische Phase festgeschriebene Kräfteverhältnisse. Das kann man zum Beispiel festmachen an der Arbeitszeitgesetzgebung oder dem Betriebsverfassungsgesetz, aber auch an der Rentengesetzgebung oder der Gesetzgebung im Gesundheitsbereich. Die große Welle der Privatisierungen, die in Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge zugelassen oder gar forciert worden sind, zum Beispiel im Krankenhaussektor. Historische Beispiele gibt es auch: Die sogenannten Bismarckschen Sozialgesetze sind ja keine Kopfgeburten eines sozial veranlagten Reichskanzlers gewesen, sondern eine Reaktion auf das Erstarken der Arbeiterbewegung und ihrer politischen Partei, der SPD, die ja zeitgleich verboten wurde und für 12 Jahre in die Illegalität verbannt wurde. Diese Doppelstrategie sollte der „gemeingefährlichen Sozialdemokratie“ den Nährboden entziehen. Aber es ist klar, dass es diese Sozialgesetze, so bescheiden sie auch waren, ohne den Druck und den Erfolg der Arbeiterbewegung nicht gegeben hätte. Ein anderes Beispiel ist das Sozialstaatsgebot im GG von 1949. Denn das ist das Ergebnis des Zusammenbruchs des Nationalsozialismus, also einer extremen Form einer bürgerlich-kapitalistischen Herrschaft. Die Mitverantwortung der Deutschen Kapitalistenklasse war so offensichtlich, dass es ja entsprechende Neuordnungsforderungen bis hinein in die CDU gab. Es war die vorübergehende Schwäche einer desavouierten herrschenden Klasse, die es sogar in einer Zeit, in der die Neuordnungsvorstellungen bereits wieder überlagert wurden durch den „kalten Krieg“, ermöglichte entsprechende Artikel in das Grundgesetz hineinzubringen. Im Zuge der Westorientierung und der kapitalistischen Restauration wurde dann auch schnell Anfang der 60er Jahre eine Verfassungsinterpretation in Stellung gebracht, die das Sozialstaatsgebot aus Art. 20 als „nicht konstitutiven Teil des Grundgesetzes“ relativierte (siehe die Forsthoff-Abendroth-Kontroverse).

Aber alles, was wir an Sozialstaatlichkeit kennen (v.a. der Schutz vor den großen Lebensrisiken Arbeitslosigkeit, Krankheit und Altersarmut) wurde teilweise in harten und verbissenen Kämpfen erkämpft und wird ganz überwiegend aus der Lohnsumme finanziert. Auch aus Unternehmenssicht sind die „Arbeitgeberanteile“ an der Finanzierung der Sozialsysteme Lohnbestandteile und gehen als solche in deren betriebswirtschaftliche Kalkulation ein. Sozialstaatliche Leistungen können somit unter diesem Gesichtspunkt auch als „Allmende“ der Arbeiterklasse bezeichnet werden, als gemeinschaftlicher Besitzstand finanziert aus dem Lohn der Arbeiterklasse. Insofern ist der Angriff auf den Sozialstaat, den wir jetzt unter Merz (CDU) erneut und verschärft erleben werden, nichts anderes als ein Raubzug gegen den gemeinschaftlichen Besitzstand der Arbeiterklasse. Haben wir es mit einer neuen Qualität des Angriffs auf den Sozialstaat zu tun? Ich würde sagen, es ist eine weitere Angriffswelle, wobei mit jeder Welle der Sozialsaat, wie er einmal erkämpft worden ist, Stück für Stück zerstört wurde. Womöglich ist es noch nicht die finale, aber sicher ist es eine entscheidende Angriffswelle. Das hat auch zu tun mit den weltpolitischen Erschütterungen, die wir aktuell erleben, und der spezifischen Reaktion der EU und der meisten europäischen Staaten hierauf: „Alles für die Rüstung, koste es was es wolle.“; „Wir müssen kriegstüchtig werden!“ usw. Und es hat etwas zu tun mit diesem Kanzler, der direkt von der Kapitalseite kommt und seinen Klassenauftrag verdammt ernst nimmt. Noch aus seiner Zeit vor „BlackRock“, als er noch stellvertretender Fraktionsvorsitzender war, stammt das Zitat: „Wir müssen die Kartelle zerschlagen und die Funktionäre entmachten!“ Mit „Kartelle“ sind hier nicht monopolkapitalistische Konzerne gemeint, sondern in klassisch neoliberaler Terminologie die „Lohnkartelle“, also die Gewerkschaften. Die Gewerkschaften gilt es zu zerschlagen, deren Funktionäre gilt es zu entmachten. Diese Denke ist heute Kanzler und setzt das um. Nicht unmittelbar aber mittelbar durch die Zerschlagung des Sozialstaats.

Die Gegenwehr muss dem Angriff angemessen sein.


Und dieser Angriff auf den Sozialstaat ist ein Angriffe auf die Lohnabhängigen und ihre Angehörigen, ist ein Angriff auf UNSEREN sozialen Besitzstand, ist ein Angriff auf uns und unsere Gewerkschaften. So ein Angriff lässt sich nicht wegargumentieren und auch nicht mit „kämpferischen Resolutionen oder Presseerklärungen“ beeindrucken. Es gibt keine „höhere Vernunft“, an die man appellieren könnte und die dann in dem Zwist entscheidet. Es geht um eine Konfrontation von Klasseninteressen. Und da entscheidet der Kampf! Da braucht es radikale Gegenwehr und da ist ein allgemeiner Ausstand aller Lohnabhängigen und ihrer Angehörigen durchaus ein angemessenes Mittel der Wahl.


Können wir da auf unsere Gewerkschaften zählen?


Bislang gibt es in diese Richtung keinerlei Signale. Bislang gefallen sich die Gewerkschaftsspitzen darin, an die „höhere Vernunft“ zu appellieren, zu lamentieren, zu bitten. Und sie scheinen auch mal wieder ihre Hoffnung darauf zu setzen, dass der kleine Koalitionspartner SPD das Schlimmste verhindern möge und dass man die mal machen lassen und nicht zu sehr unter Druck
setzen solle. Dabei bin ich fest davon überzeugt, dass ohne Druck von außen, ohne einen generellen Aufstand auch die SPD dieser Angriffswelle nichts entgegen zu setzen hat. Historisch hat sie ja mehrfach bewiesen, dass sie in zugespitzten Situationen gerne mal auf der falschen Seite steht.


Kann man den Dackel zu Jagen tragen?

Nun, das dürfte schwer werden. Nach meinem Eindruck gibt es einiges an Unmut und Zorn in den Betrieben und auch in der Bevölkerung. Es handelt sich aber vielfach um eine ungerichtete Wut, eine Wut ohne Klassenstandpunkt, eine Wut ohne klaren Gegnerbezug, ohne Ausrichtung auf die herrschende Klasse und ihre politischen Charaktermasken. An diese ungerichtete Wut knüpfen die Rechtsextremen von der AfD leider recht erfolgreich an und lenken sie um in einen „Kulturkampf“ und in einen „Fremdenhass“. Die schwere Aufgabe besteht darin, diese oft ungerichtete Wut umzuformen in einen gerechten Zorn gegen die herrschende Klasse und die mit ihr verbundenen Politik. Die Partei DIE LINKE versucht dies inzwischen ziemlich konsequent auf der politischen Bühne umzusetzen. In den Gewerkschaften sind es nach meinem Eindruck der mittlere und untere Funktionärsbereich, der Willens und in der Lage wäre, diesen Unmut und diese Wut auch in koordinierte Aktion zu überführen. Ob das gelingen könnte oder ob die Gewerkschaftsapparate Zuviel Eigengewicht besitzen, dass ihre Trägheit nicht überwunden werden kann, das weiß ich nicht. Aber wenn das nicht gelingt, dann weiß ich ziemlich sicher, dass sich diese Wut und dieser Unmut anderweitig orientiert und es steht ja eine politische Partei bereit, daraus populistisch Kapital zu schlagen. Und dann reden wir von einem existenziellen Großangriff auf alle arbeitsrechtlichen, gewerkschaftlichen, sozialen und demokratischen Rechte.

„Die Revolution ist großartig, alles andere ist Quark.“
(Rosa Luxemburg)

Wir danken für das Publikationsrecht.

References

References
1 https://www.sozialismus.de/vorherige_hefte_archiv/supplements/liste/detail/artikel/death- 1
of-a-clown/

IPPNW startet Kampagne gegen die Militarisierung des Gesundheitswesens

IPPNW-Pressemitteilung vom 11.09.2025

IPPNW startet Kampagne gegen die Militarisierung des Gesundheitswesens

und hat eine Erklärung für ein ziviles Gesundheitswesen veröffentlicht.

 Die Gesundheitsorganisation IPPNW startet eine Kampagne gegen die Militarisierung des Gesundheitswesens. Wichtiger Bestandteil ist eine Erklärung für ein ziviles Gesundheitswesen, zu der sich Beschäftigte aus Gesundheitsberufen öffentlich bekennen können:

„Die Prävention von Kriegen, ob konventionell oder nuklear, ist die beste Medizin. Ich halte alle Maßnahmen und Vorkehrungen für gefährlich, die auf das Verhalten im Kriegsfall vorbereiten sollen. Nur kriegspräventive Maßnahmen kann ich vertreten.

Ich lehne deshalb als Beschäftigte/Beschäftigter im Gesundheitswesen jede Schulung oder Fortbildung in Kriegsmedizin ab und werde mich daran nicht aktiv beteiligen. Ich lehne weiterhin jede Maßnahme ab, die einer Kriegsmedizin den Vorrang vor der zivilen medizinischen Versorgung gibt. Das ändert nichts an meiner Verpflichtung und Bereitschaft, in allen Notfällen medizinischer Art meine Hilfe zur Verfügung zu stellen und auch weiterhin meine Kenntnisse in der Notfallmedizin zu verbessern,“

heißt es in dem Text

Im Geiste der sogenannten „Zeitenwende“ soll das Gesundheitswesen auf kriegerische Auseinandersetzungen vorbereitet werden. Deutschland könnte laut Militärszenarien Aufmarsch- und Durchzugsgebiet von NATO-Soldatinnen werden. Die Bundeswehr rechnet mit bis zu 1.000 verletzten Soldatinnen täglich, über Jahre hinweg. Zudem wird in solchen Szenarien eine massive Flüchtlingswelle von verletzten Zivilist*innen erwartet. Dem stehen bundesweit fünf Bundeswehrkrankenhäuser mit insgesamt 1.800 Betten gegenüber – eine Kapazität, die in zwei Tagen erschöpft wäre. Das zivile Gesundheitssystem müsste einen erheblichen Teil seiner räumlichen und personellen Ressourcen dem Militär zur Verfügung stellen.

Im Kriegsfall würden automatisch Notstandsgesetze in Kraft treten, die weitreichende Grundrechtseinschränkungen wie Dienstverpflichtungen möglich machen. Gesundheitsfachkräften droht ein Rollenkonflikt, wenn sie in militärische Strukturen eingebunden werden. Triage im Krieg orientiert sich an der Aufrechterhaltung der „Kriegsfähigkeit“: Die Behandlung von Soldat*ìnnen hätte Priorität vor zivilen Patient*innen. Insbesondere leicht verletzte Soldat*innen würden bevorzugt versorgt, um sie schnell wieder einsatzfähig zu machen. Diese sogenannte „Reverse Triage“ würde eine grundlegende Umkehr der ethischen Prinzipien der Medizin bedeuten. Eine weitere Gefahr besteht aus Sicht der IPPNW darin, dass die Illusion erzeugt wird, in einem Atomkrieg sei medizinische Hilfe möglich. Auch wenn Katastrophenübungen dies glauben machen sollen: Es gibt keine sinnvolle medizinische Vorbereitung auf einen Atomkrieg.

Die IPPNW setzt sich daher entschieden gegen eine Militarisierung des Gesundheitswesens ein. Die Aufgabe von Ärztinnen und Ärzten, Pflegekräften und allen Beschäftigten des Gesundheitswesens bleibt die Versorgung der Patientinnen und Patienten – nicht die Unterstützung militärischer Planungen. Die Erklärung für ein ziviles Gesundheitswesen ist angelehnt an die Frankfurter Erklärung von 1982 – eine persönliche Willenserklärung, alle kriegsmedizinische Vorbereitungs-Maßnahmen abzulehnen und sich daran nicht zu beteiligen.  Sie wurde von IPPNW-Gründungsmitglied Horst-Eberhard Richter verfasst.

Kontakt:
Marek Voigt, IPPNW-Pressereferent, Tel. 030 698074-15, E-Mail: voigt@ippnw.de

Titelbild: Ralph Urban / IPPNW, Antikriegstag 2025 in Hamburg

Wohin ein solcher Wahnsinn führt

Rheinmetall streut wie eine Streubombe. Überall entstehen Kriegsfabriken und militärische Einrichtungen. Das hinterlässt hässliche Spuren und kostet – nicht nur Geld. In Berlin hat sich ein Bündnis gegen Rüstungsproduktion zusammengefunden, das der Ausbreitung dieses militärisch-industriellen Komplexes in der Hauptstadt entgegentritt. Das Beispiel sollte Schule machen! (Peter Vlatten)

Wohin ein solcher Wahnsinn führt

German Foreign Policy , 27. August 2025

Rheinmetall eröffnet Deutschlands größte Munitionsfabrik und will zu den weltgrößten Rüstungskonzernen aufschließen. Berlin stellt zur Finanzierung Sozialkahlschlag in Aussicht. Kriegsgegner sind zunehmend Repression ausgesetzt.

DÜSSELDORF/BERLIN (Eigener Bericht) – Rheinmetall eröffnet Deutschlands größte Munitionsfabrik, rechnet mit Rüstungsaufträgen in dreistelliger Milliardenhöhe und will zu den größten Rüstungskonzernen der Welt aufschließen. In der neuen Munitionsfabrik in Unterlüß, die am heutigen Mittwoch im Beisein von Verteidigungsminister Boris Pistorius, Finanzminister Lars Klingbeil und NATO-Generalsekretär Mark Rutte eröffnet werden soll, will Rheinmetall künftig bis zu 350.000 Artilleriegranaten jährlich produzieren. Der Höhenflug der Unternehmens dauert an; bis 2030 werde man womöglich Rüstungsaufträge im Wert von bis zu 300 Milliarden Euro akquirieren können, sagt Firmenchef Armin Papperger voraus. Papperger stebt bis 2030 einen Konzernumsatz von bis zu 50 Milliarden Euro an. Auf diesem Niveau bewegen sich heute die zwei größten Waffenschmieden der Welt, Lockheed Martin und RTX (beide USA). Während Berlin brutale Sozialkürzungen in Aussicht nimmt, um die Hochrüstung zu finanzieren, nimmt die Repression gegen Kriegsgegner zu. Ein am Dienstag eröffnetes Anti-Kriegs-Camp in Köln war zuerst wegen der Nutzung der Parole „Krieg dem Kriege“ verboten worden. Diese entstammt einem 1919 publizierten Gedicht des Schriftstellers Kurt Tucholsky.

Globaler Rüstungschampion

Rheinmetall, größter deutscher Rüstungskonzern, ist bislang auch der größte Gewinner der gewaltigen Aufrüstung, die die Bundesregierung im Jahr 2022 gestartet hat und jetzt in beispiellosem Ausmaß intensiviert. Der Umsatz des Unternehmens, der im Jahr 2022 bei 6,4 Milliarden Euro lag, erreichte 2024 bereits 9,8 Milliarden Euro und könnte laut Konzernchef Armin Papperger bis 2030 auf 40 bis 50 Milliarden Euro steigen. Damit stieße die Firma in die erste Liga der globalen Waffenschmieden vor; die beiden weltgrößten Rüstungskonzerne Lockheed Martin und RTX (beide USA) erzielten im Jahr 2023 Rüstungsumsätze von rund 61 respektive 41 Milliarden US-Dollar. Rheinmetall sei auf dem Weg, „ein globaler Rüstungschampion zu werden“, konstatierte Papperger Anfang August trocken.[1] Das Volumen der Aufträge, die die Waffenschmiede aus Düsseldorf in ihren Büchern hat, wächst kontinuierlich und liegt gegenwärtig laut Eigenangaben auf dem Rekordniveau von 63 Milliarden Euro. Schwach entwickelt sich lediglich das zivile Geschäft. Rheinmetall verfügt über eine Kfz-Zuliefersparte, die einst dem Zweck diente, wiederkehrende Schwächen im Rüstungsgeschäft auszugleichen. Einige zuvor zivile Rheinmetall-Standorte werden jetzt für die Rüstung genutzt; ein Verkauf der nicht zur Waffenproduktion verwendbaren zivilen Fabriken ist im Gespräch.

Aufträge bis zu 300 Milliarden Euro

Dazu errichtet Rheinmetall nicht nur in Deutschland, sondern auch in diversen weiteren Ländern Europas neue Fabriken – etwa in Ungarn oder in Litauen, wo jeweils ab dem Jahr 2026 produziert wird, in der Ukraine oder in Bulgarien, wo Papperger, wie zu Beginn dieser Woche berichtet wurde, mehr als eine Milliarde Euro investieren wird, um eine Munitions- und die größte Schießpulverfabrik Europas zu errichten.[3] Über die Größenordnung, in der sich die Munitionsgeschäfte bewegen können, äußert Papperger im Hinblick darauf, dass NATO-Staaten offiziell Munition für 30 Tage Krieg vorhalten müssen: „Allein bei 30 Tagen benötigen wir [für die Bundeswehr, d. Red.] etwa 300 Schuss am Tag pro Geschütz. Bei 5.000 Geschützen sind das 45 Millionen Schuss Artilleriemunition.“[4] Nicht nur mit Blick auf die Munitionsproduktion geht Rheinmetall – wie die gesamte Rüstungsbranche – davon aus, dass die Nachfrage nach Kriegsgerät in den NATO-Staaten Europas nach dem Fünf-Prozent-Beschluss des jüngsten NATO-Gipfels noch dieses Jahr drastisch steigen wird – am stärksten freilich in Deutschland, das das höchste Potenzial hat, mit neuen Schulden eine gewaltige Hochrüstungswelle zu finanzieren. Papperger sagt insgesamt allein „bis 2030 ein Auftragspotenzial“ für seinen Konzern „von bis zu 300 Milliarden Euro“ voraus.[5]

Rekordetats und Finanzierungslücken

Die Planungen der Bundesregierung für die dazu erforderliche dramatische Aufstockung des Militärhaushalts sind bekannt. Der Bundeswehretat für dieses Jahr ist gegenüber dem Vorjahr um rund 20 Prozent auf 62,4 Milliarden Euro erhöht worden; es kommen rund 24 Milliarden Euro aus dem sogenannten Sondervermögen hinzu. Für 2026 sehen die Planungen ein Budget von 82,7 Milliarden Euro zuzüglich 25,5 Milliarden Euro aus dem „Sondervermögen“ vor. 2027 – im letzten Jahr, in dem Mittel aus dem „Sondervermögen“ fließen – soll der Etat 93,4 Milliarden Euro betragen, 2028 beinahe 136,5 Milliarden Euro, 2029 gut 152,8 Milliarden Euro.[6] Noch nicht eingerechnet sind die Ausgaben für militärisch nutzbare Infrastruktur, für die 2029 ungefähr 70 Milliarden Euro in Aussicht stehen. Um die Rüstungskosten bezahlen zu können, sollen die Regierungsausgaben im Jahr 2029 laut aktuellem Finanzplan der Bundesregierung auf über 572 Milliarden Euro gesteigert werden. Der Militäretat verschlingt davon 26,7 Prozent.[7] Zur Finanzierung ist für 2029 zusätzlich eine Nettokreditaufnahme in Höhe von 126,9 Milliarden Euro vorgesehen – ein Plus von mehr als der Hälfte gegenüber 2025 (81,8 Milliarden Euro). Dennoch besteht laut Finanzminister Lars Klingbeil eine riesige Finanzierungslücke: 34 Milliarden Euro 2027, 64 Milliarden Euro 2028, 74 Milliarden Euro 2029.[8]

Sozialabbau und Kahlschlag

In Berlin hat die Debatte um die dramatischen Ausgabenkürzungen begonnen, die nötig sind, um die beispiellosen Hochrüstungspläne der Bundesregierung zu realisieren. Bundeskanzler Friedrich Merz äußerte Ende vergangener Woche, „der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben“, sei „nicht mehr finanzierbar“; krasse Kürzungen („Reformen“) seien unumgänglich. „Ich werde mich durch Worte wie Sozialabbau und Kahlschlag und was da alles kommt nicht irritieren lassen“, kündigte Merz an.[9] CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann verlangte einen „Paradigmenwechsel“, „weil der Sozialstaat nicht mehr finanzierbar geworden ist“. In der Bundesregierung ist weithin von einem „Herbst der Reformen“ die Rede, den auch Vizekanzler Klingbeil, zugleich Bundesvorsitzender der SPD, nicht prinzipiell in Frage stellt. Klingbeil fordert, niemand dürfe sich „auf die faule Haut“ legen; die Regierung müsse „ran an die sozialen Sicherungssysteme“. Allerdings dürfe man nicht bloß „30 Milliarden beim Sozialstaat ein[sparen]“: Auch „Menschen, die sehr hohe Vermögen und Einkommen haben“, müssten „ihren Teil … beitragen“, erklärt der Sozialdemokrat.[10]

Krieg dem Kriege

Während die Bundesregierung „Sozialabbau und Kahlschlag“ (Merz) vorbereitet, nimmt die staatliche Repression gegen Gegner der Hunderte Milliarden Euro schweren Hochrüstung zu. So mussten Aktivisten, die seit dem gestrigen Dienstag in Köln ein Anti-Kriegs-Camp unter dem Motto „Rheinmetall entwaffnen; gegen Waffenexporte, Aufrüstung und Krieg“ abhalten, ihr Versammlungsrecht gegen den Versuch der Behörden durchsetzen, ihr Camp zu verbieten. Zur Begründung ihres Verbotsversuchs brachten die Behörden vor, die Aktivisten nutzten die Parole „Krieg dem Kriege“, wollten also „der Aufrüstung mit ‘kriegerischen Mitteln‘ begegnen“.[11] Ob damit etwa gemeint war, die Aktivisten könnten planen, mit Panzern aus Köln ins benachbarte Düsseldorf zu fahren und dort die Rheinmetall-Zentrale zu beschießen, wurde in der Verbotsverfügung nicht näher erläutert. Das Verbot des Camps wurde letztlich vom nordrhein-westfälischen Oberverwaltungsgericht in Münster gekippt. „Krieg dem Kriege“ ist der Titel eines Gedichts, das der Schriftsteller und Kriegsgegner Kurt Tucholsky 1919 verfasste. Tucholsky schilderte darin das Grauen der Schützengräben („Blut und zermalmte Knochen und Dreck“) wie auch sein Bedauern über den mangelnden Widerstand („keiner, der aufzubegehren wagt“) – und er warnte: „Es darf und soll so nicht weitergehn. Wir haben alle, alle gesehn, wohin ein solcher Wahnsinn führt“.

1] Rheinmetall trotz Rekordumsatzes mit Kursrutsch. tagesschau.de 07.08.2025.

[2] Kriegstüchtig in Rekordzeit: Rheinmetall startet Testbetrieb in seiner größten Munitionsfabrik. rundblick-niedersachsen.de 23.07.2025. S. auch Der Panthersprung nach Kiew.

[3] Ewan Jones: Rheinmetall to build Europe’s largest gunpowder factory in Bulgaria. tvpworld.com 26.08.2025.

[4], [5] Roman Tyborski, Alexander Voß, Martin Knobbe: Papperger rechnet mit Aufträgen von bis zu 300 Milliarden Euro. handelsblatt.com 17.04.2025.

[6] Deutlicher Anstieg des Verteidigungshaushalts ab 2025. bmvg.de 24.06.2025.

[7] Bundesregierung führt Investitionsoffensive fort: Bundeshaushalt 2026 und Finanzplan bis 2029 beschlossen. bundesfinanzministerium.de 30.07.2025.

[8] Klingbeil richtet dringenden Sparaufruf an alle Ministerien. Frankfurter Allgemeine Zeitung 23.08.2025.

[9] Merz will harte Reformdebatte führen. tagesschau.de 23.08.2025.

[10] Vor dem „Herbst der Reformen“ wartet noch viel Arbeit. tagesschau.de 25.08.2025.

[11] Rheinmetall-Entwaffnen-Camp verboten: „Jetzt erst recht: Krieg dem Krieg!“ perspektive-online.net 13.08.2025.

Der Beitrag ist zuerst erschienen am 27.August 2025 in German Foreign Policy. Wir danken für das Publikationsrecht.


Titelbild: Collage Peter Vlatten

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