Bild: GISEL. Gemeinsame Demonstration aus Belegschaften des Gillette-Konzerns am 1.Mai 2003 in Berlin
In einer Zeit, in der die Konkurrenz der Nationalstaaten und der Nationalismus immer dominanter wird und immer mehr Konflikte ausbrechen, ist eine internationale Perspektive für Gewerkschaften von höchster Dringlichkeit. Die Arbeiterbewegung muss eine gemeinsame Antwort darauf finden, wenn Standorte gegeneinander ausgespielt werden, um Unternehmensziele durchzusetzen.
Wir wollen zeigen und diskutieren, wie trotz aller Schwierigkeiten internationale Solidarität möglich ist:
im Rückblick auf die langjährige Unterstützungsarbeit der IG Metall Berlin für kämpfende Gewerkschaften und Belegschaften in allen Regionen der Erde;
im Bericht über eine Fahrt der IG Metall-Jugend nach Mauthausen mit dem Titel „Antifaschismus ist international“;
am Beispiel länderübergreifender Zusammenarbeit zwischen Belegschaften, u.a. bei Procter & Gamble (Gillette), Otis und Bosch– mit und ohne Europäischen Betriebsrat.
Nicht zuletzt geht es bei der Veranstaltung darum, die Möglichkeiten auszuloten, wie die internationale Arbeit insgesamt verbessert werden kann: innerhalb der Gewerkschaften und auch in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen.
Die Veranstaltung findet statt am
Mittwoch, 15. Oktober 2025 * 17:00 bis 19:00 Uhr,G Metall Haus, Alte Jakobstr. 149, 10969 Berlin.
Eine Finca schließt eine Lücke im spanischen Migrationssystem
Von Anika Reker
Der Artikel zeigt naheliegende Antworten auf die sog. Flüchtlingskrise. Menschliche Perspektiven in einer Zeit der Barbarei. Kooperation, Selbstermächtigung und Entwicklung von Menschen und ihrer Fähigkeiten. (Jochen Gester)
Bild: pixabay
Ein sonniger Samstagvormittag auf der Finca »La Petite« in der andalusischen Provinz Cádiz: Das vietnamesische Hängebauchschwein Roberta wälzt sich zufrieden im Schlamm, während Hühner zwischen Ponys und Ziegen nach Insekten picken. Nach und nach treffen die Mitglieder der Stiftung »Esperanza en Acción« (»Hoffnung in Aktion«) ein. Familien mit Kindern zieht es zuerst zu den Tiergehegen und dem selbstgebauten Spielplatz. An der Freiluftbar schenken Freiwillige Getränke aus. Schräg gegenüber werden Gemüsekisten verteilt – 55 sind es heute.
Der Inhalt dieser Kisten stammt aus dem Bildungsgarten, der sich im Zentrum des Geländes befindet. »Hier wachsen Möhren, dort drüben Bohnen, dort Salate«, erklärt Pape, der vor anderthalb Jahren aus dem Senegal nach Spanien gekommen ist. »Das hier ist Mangold – den kannte ich von zu Hause gar nicht. Auch Spinat nicht. Das habe ich alles erst hier kennengelernt.« Er zeigt auf die verschiedenen Gemüsesorten, die er und die anderen Finca-Bewohnenden in diesem Jahr ausgesät haben.
Im November 2023 erreichte Pape nach siebentägiger Bootsfahrt von seiner Heimatstadt Dakar aus die kanarische Insel El Hierro. Auf seinem Tiktok-Kanal zeigt er ein Video: Über 300 Menschen in orangefarbenen Schwimmwesten, dicht an dicht gedrängt auf engstem Raum. Die Reise sei sehr hart gewesen. Nicht alle an Bord hätten überlebt. »Ab dem vierten Tag hatten wir kein Essen und kein Wasser mehr. Keine Medizin. Sechs Menschen seien gestorben. Wir mussten sie ins Meer werfen«, erinnert er sich mit zitternder Stimme.
Endlich wieder ein Zuhause
Von den Kanaren aus gelangte Pape mithilfe des Roten Kreuzes aufs spanische Festland. Er beantragte Asyl und verbrachte die nächsten drei Monate in einer Unterkunft. Dort bestimmte der für solche Unterkünfte typische triste Alltag sein Leben: wenig Beschäftigung, viel Zeit für dunkle Gedanken. Hier, auf der Finca »La Petite« ist nun alles anders: »Ich stehe gegen 5 Uhr auf, gehe duschen und danach bete ich, ich bin schließlich Muslim. Gegen 7 Uhr trinken wir Kaffee und dann arbeiten wir.«
Während Pape in den Beeten steht und von seinen Erfahrungen spricht, stoßen Paki Ortega und ihr Ehemann Ermindo dazu. Die beiden leben nur wenige Kilometer entfernt. Seit über drei Jahren sind sie Mitglieder der Stiftung, über die sich das Programm überwiegend finanziert, und zahlen monatlich einen Beitrag von 20 Euro pro Person. Als Dankeschön können sie einmal pro Monat eine Kiste mit Gemüse aus dem Garten abholen. Im Biosupermarkt würden sie für insgesamt 40 Euro deutlich mehr bekommen – das wissen sie. »Wir unterstützen das Projekt vor allem wegen des sozialen Aspekts. Darum geht es uns«, sagt Paki.
»Wenn die staatlichen Hilfen für Menschen, die auf illegalem Wege nach Spanien kommen, auslaufen, dann führt der Weg häufig in die Obdachlosigkeit. Viele kommen da dann nicht mehr raus.« José Gonzáles Díaz Gründer von »Esperanza en Acción«
Für den Stiftungsgründer José Gonzáles Díaz ist es wichtig, dass Unterstützer*innen wie Paki und Ermindo regelmäßig die Finca besuchen. »Deshalb liefern wir die Kisten nicht aus. Unsere Mitglieder sollen herkommen und die Menschen kennenlernen, die hier leben. So können sie sich nach und nach ein soziales Netz vor Ort aufbauen«, erläutert er. Gerade hat er eine Tour über das Gelände mit potenziellen neuen Stiftungsmitgliedern beendet und lässt sich auf einer aus alten Paletten zusammengezimmerten Bank unter einem Obstbaum nieder.
Rund 220 Menschen unterstützen die Initiative derzeit finanziell. Auch die Stadt Chiclana beteiligt sich mit einem Zuschuss. Für dieses Jahr sind auch Fördergelder beantragt. Dank dieser Mittel kann die Finca Pape und aktuell vier weiteren jungen Männern ein Zuhause bieten, während sie auf die Bearbeitung ihrer Asylanträge oder eine Arbeitserlaubnis warten. Essen, Kleidung, Arztbesuche und ein monatliches Taschengeld in Höhe von 100 Euro – all das wird über die Stiftung finanziert.
Der 2,5 Hektar große Bauernhof befindet sich im Besitz der Familie von Josés Ehefrau Rocio Martínez, die an diesem Vormittag hinter der Bar steht. »Dass uns das Gelände seit fünf Jahren kostenlos zur Verfügung steht, ist eine der größten Unterstützungen, die wir bekommen«, erzählt José. Unter der Woche geht er seinem Job als Anwalt nach.
Sprachkurse und Handwerk
Auf der Finca lernen die Teilnehmenden an dem Programm nicht nur, wie man Gemüse anbaut. Am Nachmittag gibt es Kurse, die von etwa 30 Freiwilligen ehrenamtlich gestaltet werden. Spanisch, Bewerbungstrainings und andere praktische Kurse wie Schweißen, Tischlern oder Maurern stehen auf dem Programm.
Die Ergebnisse dieser Arbeit sind überall auf dem Gelände sichtbar – der Kinderspielplatz und die Bank, auf der José sitzt, sind nur zwei davon. »Die Menschen sind dankbar dafür, dass sie etwas zurückgeben können. Sie fühlen sich gebraucht, und wir wertschätzen ihren Beitrag sehr«, sagt er.
Ein festes Programmziel besteht außerdem darin, den Bewohnenden ihre erste Arbeitsstelle in Spanien zu vermitteln. Dafür arbeitet »Esperanza en Acción« eng mit Firmen in der Umgebung zusammen – darunter Bauunternehmen, Restaurants und Hotels, eine Gärtnerei, eine Elektrofirma und ein Metallbauer.
Seit dem Projektstart vor fünf Jahren haben 16 Personen das Programm durchlaufen. Einer davon ist der 25-jährige Abdou aus Gambia, dem die Stiftung erfolgreich eine Art Ausbildungsvertrag in einer kleinen Tischlerei vermitteln konnte.
Seit seinem Auszug vor einigen Monaten besucht er fast jeden Samstag den Hof und hilft freiwillig im Garten. Auch heute ist er gekommen, sortiert in der alten Scheune mit seinen ehemaligen Mitbewohnern frische Eier in Kartons und erklärt dabei, warum er an seinem freien Tag freiwillig früh aufsteht: »Ich liebe Gartenarbeit und war einfach sehr zufrieden. Rocio und José haben mir so sehr geholfen hier. Es war einfach ein großes Glück, dass sie mich hier aufgenommen haben.«
Nach seiner Ankunft in Spanien hatte Abdou, genau wie Pape, einige Monate in einer Asylunterkunft verbracht. Er habe jedoch kein Asyl beantragt, weil er aus anderen Gründen nach Spanien gekommen sei. Migrant*innen, die keinen Asylantrag stellen, sondern vor allem eine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis erlangen wollen, werden vom spanischen Staat nur in den ersten Monaten nach Ankunft unterstützt. Abdou wäre deshalb beinahe auf der Straße gelandet und hätte sich irgendwie mit illegalen Jobs durchschlagen müssen. Dann wurde auf der Finca »La Petite« ein Platz frei.
Die Stiftung half ihm dabei, einen legalen Aufenthaltstitel nach dem spanischen Prinzip des »Arraigo« (Verwurzelung) zu erhalten. Spanien ist das einzige Land in der Europäischen Union, das eine Aufenthaltserlaubnis erteilt, wenn jemand im Land Fuß gefasst hat – das kann zum Beispiel familiärer oder beruflicher Natur sein.
Um eine berufliche »Verwurzelung« zu erlangen, brauchen Migrant*innen ein Stellenangebot oder – wie in Abdous Fall – einen Ausbildungsvertrag. Um den Antrag zu stellen, muss man außerdem einen festen Wohnsitz vorweisen und eine bestimmte Zeit im Land verbracht haben. Genau an dieser Stelle setzt die Stiftung an, erläutert Gründer José: »Wir füllen hier eine Lücke, die von der öffentlichen Verwaltung nicht ausreichend abgedeckt wird. Wenn die staatlichen Hilfen für Menschen, die auf illegalem Wege nach Spanien kommen, auslaufen, dann führt der Weg häufig in die Obdachlosigkeit. Viele kommen da dann nicht mehr raus.«
Bisher betrug die Zeit für eine solche »Verwurzelung« ab der Wohnsitzanmeldung drei Jahre. Mit einer Reform des Einwanderungsrechts, die seit Mai 2025 in Kraft ist, wurde diese Zeit auf zwei Jahre reduziert. Diese Verkürzung begrüßt José sehr, denn so müssten Zugewanderten zumindest weniger Zeit in der Illegalität verbringen. Die wenigen Plätze, die auf der Finca zur Verfügung stünden, würden schneller wieder frei.
Einen anderen Punkt der Reform findet er allerdings mehr als ungerecht. Bisher war es so: Wer in Spanien ankam und zuerst einen Antrag auf Asyl stellte, der dann nach einigen Monaten oder Jahren abgelehnt wurde, konnte diese Wartezeit auf die »Verwurzelung« anrechnen lassen. Das ist seit der Reform nicht mehr möglich, wird ein Asylantrag abgelehnt, beginnt man sozusagen wieder bei null. »Die Gruppe der Asylbewerbenden wird dadurch benachteiligt. Sie haben sich für den Weg des Asyls entschieden, weil sie das in dem Moment für die beste Option gehalten haben, nun werden sie dafür in gewisser Weise bestraft.«
Der Asylantrag, den Pape bei seiner Ankunft in Spanien vor etwa anderthalb Jahren stellte, wurde bisher weder bewilligt noch abgelehnt. Der 35-Jährige nimmt es jedoch gelassen und macht sich wenige Gedanken über das, was passieren könnte. »Ich muss jetzt halt warten, und wenn es länger dauert, dann ist das eben so. Angst habe ich keine«, sagt er schulterzuckend, während er am Herd steht und in einem großen Kochtopf rührt. Er hat sich nach dem Trubel am Vormittag ins Wohnhaus zurückgezogen und bereitet ein Gericht aus seiner Heimat für sich und seine Freunde zu: »Poulet Yassa«, Hühnchen mit Reis.
Für ihn steht fest: Zurück nach Afrika will er nicht, auch wenn er seine Eltern und Geschwister sehr vermisst. »Das Leben im Senegal ist sehr schwierig. Man arbeitet den ganzen Tag und verdient trotzdem nur fünf Euro. Davon kannst du dir kaum was leisten, keinen Arzt bezahlen.« Sobald Pape seine Arbeitserlaubnis hat, möchte er am liebsten in einer Autowerkstatt arbeiten und seiner Mutter mindestens 250 Euro monatlich schicken. »Ich habe viel Hoffnung, dass das klappt.«
Auch José und Rocio sind guter Dinge. Sie wollen die Initiative weiter ausbauen, um mehr Plätze anbieten zu können. Außerdem wünschen sie sich, dass mehr Migrant*innen von der Idee, ökologische Landwirtschaft und Integration zu kombinieren, profitieren können – in Spanien und anderswo in Europa. Beide können sich vorstellen, in Zukunft als Mentor*innen anderen Projekten auf ihrem Weg zu helfen.
In Frankreich will eine Basisbewegung die geplanten Haushaltskürzungen stoppen. Premierminister Bayrou dürfte ihr erstes Opfer werden.
Von Volkmar Wölk
Bild: telegram france
Während die jüngeren Mitglieder der deutschen Industriegewerkschaften schon nicht mehr wissen, was ein Erzwingungsstreik ist und Gewerkschaftspolitik sich in hohem Maße im Lobbyismus erschöpft, zeigen die französischen Schwestergewerkschaften, dass es auch anders geht. Nicht durch Verzicht den Unternehmen die hilfreiche Hand zu reichen, um die Geschäfte wieder zum Florieren zu bringen und auf ein besseres Wahlergebnis zu hoffen ist das Gebot der Stunde sondern Sand im Getriebe zu sein und entschlossen das Erkämpfte zu verteidigen. Der folgende Artikel von Volkmar Wölk gibt einen ersten Eindruck über die bevorstehenden Auseinandersetzungen in unserem Nachbarland. Im Nachspann habe ich den gemeinsamen Aufruf der Gewerkschaften dazuin deutscher Übersetzung hinzugefügt. (Jochen Gester)
Wer mit dem Begriff »la rentrée« (Rückkehr) nichts anzufangen weiß, kennt Frankreich nicht. Am Wochenende davor gibt es noch einmal die berüchtigten Megastaus. Dann ist die Ferienzeit vorbei, die Schule beginnt, Paris schaltet zurück in den Normalbetrieb. Und auch die Politik meldet sich wieder zu Wort. Nach »la rentrée« werden die Weichen gestellt, was in den nächsten Monaten die Hauptthemen der Politik sein werden, welche Strömungen sich Vorteile erarbeiten können.
Die politische »rentrée« hat in der Regel ein Vorspiel. Das Ende der Urlaubszeit wird eingeläutet mit Ankündigungen der Regierenden. Werden diese Ankündigungen umgesetzt, wird in Frankreich der heiße Herbst eingeläutet.
Ein Vorbote dessen, was dieses Jahr zu erwarten ist, dürfte der 4. September gewesen sein. Die Energiesparte der Gewerkschaft CGT hatte angekündigt, mindestens 40 Einrichtungen zu blockieren. Zum ersten Höhepunkt kommt es dann aber am kommenden Montag. Ministerpräsident François Bayrou hat angekündigt, im Parlament die Vertrauensfrage zu stellen. Nur zwei Tage später tritt ein neuer, völlig unbekannter Akteur ins Rampenlicht: die Basisbewegung »Bloquons Tout« (Blockieren wir alles). Für den 18. September wiederum kündigen die Gewerkschaften einen landesweiten Aktionstag an.
Bloquons Tout meldete sich erstmals im Mai in den sozialen Medien zu Wort – als Reaktion auf die Ankündigung des konservativen Ministerpräsidenten Bayrou. Der plant massive Haushaltskürzungen in Höhe von rund 44 Milliarden Euro, wobei ein großer Teil auf die soziale Infrastruktur, den öffentlichen Dienst und den Sozialbereich entfallen soll. Die Bewegung Bloquons Tout geht – wohl berechtigterweise – davon aus, dass Bayrou die Vertrauensabstimmung verlieren wird, denn dieser besitzt keine Mehrheit im Parlament und hat sich in der Vergangenheit seine Mehrheiten mithilfe des rechtsextremen Rassemblement national (RN) oder der Sozialisten gesucht. Inzwischen hat allerdings die gesamte Opposition angekündigt, ihm das Vertrauen zu verweigern. Bayrou fällt weich. Er ist während seiner Amtszeit als Ministerpräsident zugleich Bürgermeister von Pau geblieben.
Bei einer Umfrage befürworteten 63 Prozent der Befragten den Aufruf zur Blockade. Die drei Losungsworte »Boykott – Ungehorsam – Solidarität« reichen offenbar aus.
Weniger weich werden die Betroffenen der geplanten Kürzungsmaßnahmen fallen. In Planung ist die Streichung von zwei Feiertagen sowie der Karenzzeit ohne Lohnfortzahlung im öffentlichen Dienst bei Krankheit. Der Staatsapparat soll »verschlankt« werden, indem ausscheidende Beamte nicht ersetzt und Behörden abgeschafft werden, die die Regierung als »unproduktiv« ansieht. Vor allem aber sollen 2026 die Sozialleistungen und Renten nicht mehr wie bisher automatisch der Teuerung angepasst, sondern eingefroren werden. Eine Maßnahme, von der besonders die Armen und die unteren Einkommensschichten betroffen sind. Steigen soll lediglich der Militäretat, und zwar um 3,5 Milliarden Euro.
Bayrou hatte es ohnehin geschafft, in seiner achtmonatigen Amtszeit zum unbeliebtesten Ministerpräsidenten der V. Republik, also seit 1958, zu werden. Zuletzt erhielt seine Politik Zustimmungswerte von unter 18 Prozent. Das absehbare Ende seiner Amtszeit stellt Präsident Macron vor ein Dilemma. Denn da sich die Mehrheitsverhältnisse im Parlament nach dem Sturz der durch ihn ernannten Regierung nicht verändern, könnten eigentlich nur Neuwahlen eine Lösung herbeiführen.
Allerdings stellte die Abgeordnete Alma Dufour von der linken La France Insoumise (LFI) im Fernsehen verblüfft fest, dass sie erstmals, am gleichen Tag und an der gleichen Stelle, mit der prominenten konservativen Politikerin Valérie Pécresse einer Meinung war, nämlich dass Neuwahlen keine wesentliche Veränderung zwischen den drei Blöcken im Parlament bringen würden und nur der Rücktritt Macrons und die Neuwahl des Präsidenten einen Ausweg bieten könnten. Eine Ansicht, die bei einer Meinungsumfrage vor einigen Wochen von einer knappen Hälfte der Befragten geteilt wurde und die inzwischen noch deutlich an Zustimmung gewonnen hat.
Letztlich handelt es sich nicht um eine Regierungskrise, sondern um eine veritable Systemkrise, in der neue Akteure den Ausschlag für die künftige Richtung geben können. In dieser Situation taucht Bloquons Tout auf, zunächst als Idee auf einem rechten Telegram-Kanal. Die Idee verbreitete und verselbständigte sich schnell, von rechten Einflüssen ist nichts mehr zu spüren.
Die politische Linke, deren Bündnis Nouveau Front Populaire längst faktisch zerfallen ist, ist mehr als dankbar für den Impuls von außen. Denn die Hoffnung, gemeinsam Druck von links machen zu können, ist gegenwärtig illusorisch. Als erste unterstützte deshalb Jean-Luc Mélenchons France Insoumise das Netzwerk Bloquons Tout; zuletzt aber auch die Sozialisten, die noch immer darauf hoffen, dass Macron ihnen mit ihren lediglich 64 Abgeordneten den Auftrag zur Regierungsbildung erteilt. Inzwischen gibt es Zustimmung auch von einigen Gewerkschaften, von aktivistischen Umweltorganisationen wie den Soulèvements de la terre und von lokalen Attac-Gruppen.
Das Netzwerk fordert alle Abgeordneten auf, ihre Pflicht zu erfüllen, indem sie der Regierung das Vertrauen verweigern. Ansonsten ist Bloquons Tout diffus, unstrukturiert, hat kein Programm, verfügt über keine autorisierten Sprecher*innen. Trotzdem ist das Netzwerk in aller Munde. Inzwischen befürworten rund 63 Prozent der Befragten bei einer Erhebung des Instituts Toluna-Harris den Aufruf zur Blockade am 10. September. Ein Wert, der gegenwärtig wohl weder von den Parteien der Linken noch von den Gewerkschaften zu erreichen wäre. Die drei Losungsworte »Boykott – Ungehorsam – Solidarität« reichen offenbar aus. Die Bewegung zeigt sich entschlossen: »Sie haben uns ignoriert. Sie werden uns zu hören bekommen!«
Inzwischen gibt es um die 100 lokale und regionale Unterstützergruppen, deren Kommunikation über Telegram- und Signal-Kanäle läuft. Die Mobilisierung lief zunächst über die sozialen Medien, in denen Sharepics wie »Haushalt 2026 – Sie sollen bezahlen« und eine Auflistung der zehn reichsten Familien Frankreichs mit einem Gesamtvermögen von 442 Milliarden Euro zu sehen waren. Inzwischen finden auch lokale Vorbereitungstreffen statt – von Korsika bis Calais, mit zwischen 60 und mehreren hundert Teilnehmenden. Der Inlandsgeheimdienst zeigt sich beunruhigt und geht von 100 000 Teilnehmenden bei den angekündigten mehr als 60 Aktionen aus.
Viel erinnert an die soziale Bewegung der Gelbwesten. Dennoch wäre es wohl verfehlt, einfach von Gelbwesten 2.0 zu sprechen, denn dafür sind die Unterschiede zu deutlich. Nach einer Erhebung der Fondation Jean Jaurès bei 1100 Anhängern der neuen Bewegung speist diese sich größtenteils aus Anhängern der radikalen Linken, während die Gelbwesten weitaus heterogener waren und durchaus auch rechte Anteile hatten. Bei der Präsidentschaftswahl hatten nur zwei Prozent der Bloquons-Tout-Anhänger*innen Macron gewählt, nur drei Prozent die rechte Marine Le Pen. Stark vertreten sind die jüngeren Jahrgänge, deutlich überrepräsentiert die Alterskohorte zwischen 25 und 34 Jahre. Ein deutlicher Schwerpunkt liegt bei den Bewohner*innen kleiner und mittlerer Städte, während die Großstädte und Paris eher unterrepräsentiert sind.
Letztendlich geben auch nur 27 Prozent der von der Fondation Jean Jaurès Befragten an, bei den Geldwesten aktiv gewesen zu sein. Arbeiter*innen und Rentner*innen, beides zentrale Gruppen für die Gelbwesten, sind bei Bloquons Tout geringer vertreten als in der Gesamtbevölkerung. 28 Prozent, damit deutlich mehr als insgesamt, gehören zu der Gruppe mit einem Netto-Einkommen zwischen 1250 und 2000 Euro, sind also selbst nicht von prekären Bedingungen betroffen, rutschen aber in die Prekarität, wenn ihnen etwas genommen wird. All diese Punkte bringen das Institut zu der Einschätzung, dass sich die neue Bewegung grundlegend von den Gelbwesten unterscheidet. 2025 wird also das Jahr, in dem es eine zweite »Rentrée« gibt. Die Rückkehr der sozialen Bewegungen auf die Straße.
Hier ist der gemeinsame Aufruf der französischen Gewerkschaften
Es reicht mit den Opfern für die Arbeitswelt!
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die unsere Organisationen vertreten, sind wütend. Die Zunahme der Mobilisierungen in verschiedenen Formen bestätigt dies. Niemand kann die Unzufriedenheit und Erschöpfung der Bevölkerung ignorieren. Vertreter der Gewerkschaften CFDT, CGT, CGT-FO, CFE-CGC, CFTC, UNSA, FSU und SOLIDAIRES haben uns am Freitag, den 29. August 2025, in Paris versammelt. Die am 15. Juli vom Premierminister vorgestellten Haushaltsentwürfe wurden von unseren Organisationen sofort und einstimmig abgelehnt.
Die verschiedenen vorgeschlagenen Haushaltsmaßnahmen sind in der Tat von beispielloser Brutalität. Die Regierung hat sich erneut dafür entschieden, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen, Rentnerinnen und Rentner sowie Kranke zur Kasse zu bitten: die Streichung von zwei Feiertagen, Kürzungen im öffentlichen Dienst, die Infragestellung des Arbeitsrechts, eine weitere Reform der Arbeitslosenversicherung, das Einfrieren der Sozialleistungen und der Gehälter von Beamten und Vertragsbediensteten, die Entkopplung der Renten von der Inflation, die Verdopplung der Arzthonorare, die Infragestellung der fünften Woche bezahlten Urlaubs… All dies sind Maßnahmen, die ebenso brutal wie zutiefst ungerecht sind. Was die Verschuldung ebenfalls erhöht, sind die Steuersenkungen für Reiche und die 211 Milliarden Euro an öffentlichen Hilfen, die von den größten Unternehmen Gemeinsam warnen wir eindringlich vor diesem Kontext und der Lage unseres Landes. Seit der Präsident der Republik die Rentenreform durchgesetzt hat, versinkt unser Land in einer tiefen sozialen und demokratischen Krise.
Die Ungleichheiten und die Zahl der Menschen, die unter die Armutsgrenze fallen explodieren, die Folgen des Klimawandels nehmen zu und haben direkte Auswirkungen auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Unternehmensschließungen und Stellenstreichungen nehmen zu, die öffentlichen Dienste befinden sich in der Krise, die Löhne reichen nicht aus, um ein würdiges Leben zu führen, und die unverzichtbaren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer warten immer noch auf Anerkennung und Würde am Arbeitsplatz….
Mehr denn je sind die Verteilung von Wert und Reichtum, die Aufwertung der Löhne und die Gleichstellung von Frauen und Männern unerlässlich. Anstatt seinen Haushaltsentwurf anzupassen, um auf die beispiellose Defizitsituation zu reagieren, hat der Premierminister eine Ablenkungsstrategie beschlossen und sich am 8. September einem Vertrauensvotum unterzogen . Für unsere Organisationen ist die Aufstellung eines völlig anderen Haushaltsplans, der Hoffnung, soziale Gerechtigkeit und Steuergerechtigkeit verspricht, unerlässlich.
Unsere Gewerkschaften lehnen es ab, dass erneut die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Arbeitssuchende, jungen Menschen und Rentnerinnen und Rentner die Zeche zahlen müssen, sowohl finanziell als auch durch erhöhte Flexibilität.
Seit Juli mobilisieren sie sich in allen Unternehmen und Verwaltungen, in den Regionen und Berufen, indem sie auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zugehen, damit diese die gewerkschaftsübergreifende Petition stopbudgetbayrou.fr
Heute rufen unsere Organisationen zu einem Aktionstag im gesamten Land am 18. September 2025 auf, einschließlich Streiks und Demonstrationen. Das Horrormuseum des Haushaltsentwurfs muss aufgegeben werden. Die sozialen Forderungen müssen endlich berücksichtigt werden!
Wir wollen:
* Haushaltsmittel, die den Aufgaben der öffentlichen Dienste und Politiken gerecht werden;
* Maßnahmen zur Bekämpfung der Prekarität und zur Stärkung der Solidarität;
* Investitionen in einen gerechten ökologischen Wandel und die Reindustrialisierung Frankreichs sowie Maßnahmen gegen Entlassungen;
* Steuergerechtigkeit durch die Einführung von Maßnahmen, die große Vermögen und sehr hohe Einkommen besteuern, die Ausschüttung von Dividenden vorschreiben und die Unternehmensbeihilfen strengen Auflagen unterwerfen;
* ein hohes Maß an sozialer Sicherheit und die Abschaffung der Rente mit 64 Jahren.
Wir rufen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dazu auf, sich massiv zu mobilisieren, um die Situation zu ändern und Fortschritte zu erzielen! Unsere Organisationen bleiben in Kontakt, vereinbaren, sich nach diesem Tag der Mobilisierung und des Streiks wieder zu treffen, und behalten sich die Möglichkeit vor, alle notwendigen Initiativen zu ergreifen.