Gegensätzliche Strategien der USA und Chinas: Aussichten auf Frieden und die Lösung globaler Probleme

29.12.23 – USA – Pressenza New York, von Roger D. Harris

Es ist geradezu ein tragisches Defizit, dass die westliche Presse uns weigehend uninfomiert lässt über die weltpolitischen Vorstellungen und Konzepte von China. In der Regel wird uns einseitig das Narrativ der USA und des mit ihr verbündeten “Wertewestens” erzählt.

Am 13.Januar ist Wahl in Taiwan. Die USA versuchen alles, dass die auf Konfrontation mit China ausgerichtete aktuelle Regierungspolitik durch die Wahl bestätigt und fortgesetzt werden kann. Allerdings erreicht die Regierungsfraktion in den Umfragen lediglich noch 33 Prozent Zustimmung bei den taiwanesischen Wählern. Eine übergroße Mehrheit lehnt die Konfrontationspolitik ab. Eine fast gleichgroße relative Mehrheit wie die Konfronteure wünscht sich sogar eine enge politische Kooperation mit dem chinesischen Festland. Der Rest will mindestens eine friedliche Koexistenz. Zuletzt gelang es den Hardlinern, dass ein gemeinsames Vorgehen der Opposition verhindert wurde. So hoffen sie weiter auf den Sieg, da aufgrund des taiwansesischen Wahlrechts auch jemand Präsident werden kann, der nur die relaltive Mehrheit ereicht und nicht einmal ein Drittel der abgegebenen Wahlstimmen repräsentiert. Es ist zu befürchten, dass uns suggeriert wird, dass dieser Präsident dann den Mehrheitswillen und die “Freiheit” der taiwanesischen Bevölkerung gegen den “undemokratischen” Kohtrahenten China verteidigen würde. [1]https://www.deutschlandfunk.de/taiwan-wahl-2024-102.html [2]https://hbapp.handelsblatt.com/cmsId/100003024.html?utm_medium=app&utm_source=verschicken&utm_campaign=freiartikel

Aktuelles Update. Die Fortschrittspartei stellt nach einer Aufholjagd mit 39 oder 40 Prozent wie befürchtet wieder den Präsidenten. Das ändert nichts an der grundsätzlichen Einschätzung. Die Vorgängerin erzielte noch 57 Prozent. Also ein Minus von 17 Prozent. Die Opposition, die jegliche Konfrontation ablehnt, erzielte zusammen 60 Prozent. Auch dürfte der neue Ministerprasident nicht mehr über eine Mehrheit im Parlament verfügen! [3]https://www.handelsblatt.com/politik/international/taiwan-wahl-taiwans-vizepraesident-lai-ching-te-wird-neuer-praesident/100003031.html 

Der folgende Artikel unserer Partnerseite Pressenza soll helfen, unser Informationsdefizit – was die aktuellen geopolitischen Strategien der beiden weltweit bedeutendsten Kontrahenten betrifft- zu schliessen. Wir hoffen und fordern ausdrücklich dazu auf zu helfen, den Beitrag zu verbreiten. (Vorbemerkung Peter Vlatten)

Gegensätzliche Strategien der USA und Chinas: Aussichten auf Frieden und die Lösung globaler Probleme

29.12.23 – USA von Roger D. Harris

Xi Jinping: „Es ist unrealistisch, dass eine Seite die andere umgestaltet… der Planet Erde ist groß genug, damit beide Länder erfolgreich sein können.“
Joe Biden: „Wir werden unsere Zukunft nicht den Launen derjenigen überlassen, die unsere Vision nicht teilen.“

In der jüngsten Salve, mit der die USA auf eine Konfrontation mit China vorbereitet werden, sagte Nicholas Burns ganz offen: „Ich bin nicht optimistisch, was die Zukunft der Beziehungen zwischen den USA und China angeht.“ Burns sollte es wissen. Er ist Washingtons Botschafter in Peking.

Die Haltung der USA zu den bilateralen Beziehungen mit China, so Burns, sei eine des „strategischen Wettbewerbs in den kommenden Jahrzehnten… im Wettstreit um globale und regionale Macht“. In der Tat bereiten sich die USA auf einen Krieg mit China vor. Der hochrangige US-Luftwaffengeneral Mike Minihan sieht einen Krieg bereits für das Jahr 2025 voraus.

Im Gegensatz dazu steht der chinesische Ansatz der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen bei der Lösung der dringendsten globalen Probleme. Kurz gesagt, die Führungen der beiden Länder präsentieren unterschiedliche Paradigmen für die Beziehungen. Die chinesische Strategie ist mit einer sozialistischen Form der Zusammenarbeit und Gemeinschaft vereinbar. Das US-Konstrukt spiegelt einen kapitalistischen Fundamentalismus der sozialen Wettbewerbsbeziehungen wider.

Welches Paradigma sich durchsetzen könnte, wird im Folgenden auf der Grundlage von Beobachtungen erörtert, die wir im Rahmen einer kürzlich durchgeführten Delegation des US-Friedensrats in China gemacht haben, wo wir mit unserem Partner, der chinesischen Volksvereinigung für Frieden und Abrüstung, zusammentrafen.

Sichtweise aus Peking

Nach chinesischer Auffassung, die auf dem so genannten „Xi Jinping-Gedanken“ beruht, ist die Partnerschaft zwischen den USA und China die wichtigste bilaterale Beziehung der Welt. Wie der chinesische Präsident Xi Jinping erklärt hat: „Wie China und die USA miteinander auskommen, wird die Zukunft der Menschheit bestimmen“. Diese Ansicht beruht auf der Akzeptanz eines hohen Maßes an Integration zwischen den Volkswirtschaften der beiden Länder. Sie sehen diese Verflechtung“ als etwas, das gefördert werden sollte, weil beide Länder von der Entwicklung des jeweils anderen profitieren können.

Aus chinesischer Sicht überwiegt in den bilateralen Beziehungen eine Haltung der freundschaftlichen Zusammenarbeit. Ein „gemeinsamer Wohlstand“, so glauben sie, kann auf drei Prinzipien aufgebaut werden. Das erste ist der gegenseitige Respekt. Ein entscheidender Aspekt dieses Pfeilers der gegenseitigen Beziehungen besteht darin, die roten Linien der beiden Weltmächte nicht zu überschreiten. Zweitens: die friedliche Koexistenz. Dazu gehört die Verpflichtung, Meinungsverschiedenheiten durch Kommunikation und Dialog zu bewältigen. Und drittens die Zusammenarbeit, von der beide Seiten profitieren. So hat beispielsweise der verstärkte Handel mit China die jährliche Kaufkraft der US-Haushalte erhöht.

Die Tatsache, dass die USA und China eine derart dominante Stellung in der Welt einnehmen, bringt auch eine entsprechende Verantwortung mit sich. Die Chinesen sind der Meinung, dass die führenden Länder eine besondere Verantwortung für die Menschheit haben. Sie weisen darauf hin, dass globale Probleme wie der Klimawandel ohne die Zusammenarbeit zwischen den USA und China nicht gelöst werden können. Tatsächlich tragen die USA und China zusammen zu 40 % der derzeitigen Treibhausgasemissionen der Erde bei.

Peking kontrastiert seine Haltung mit dem, was es ausdrücklich als „Nullsummen-Mentalität“ der Regierung Biden kritisiert. In einem Nullsummenspiel ist der Gewinn des einen Spielers gleichbedeutend mit dem Verlust des anderen. Dies steht im Gegensatz zur chinesischen Vision von „Win-Win“-Beziehungen, die auf Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen beruhen. Die Chinesen lehnen es ab, dass die USA die bilateralen Beziehungen als einen antagonistischen „strategischen“ Wettbewerb definieren.

Konfrontation zwischen Biden und Xi

Die gegensätzlichen Paradigmen wurden auf dem APEC-Gipfel in San Francisco am 15. November deutlich, wo sich die beiden Staats- und Regierungschefs zum ersten Mal seit zwei Jahren von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden. Wir wissen nicht, was bei dem Treffen hinter verschlossenen Türen besprochen wurde. Aber in einer anschließenden Pressekonferenz sagte US-Präsident Joe Biden über die Person, mit der er gerade vier Stunden verbracht hatte: „Nun, sehen Sie, er ist ein Diktator in dem Sinne, dass er ein Land regiert, das ein kommunistisches Land ist, das auf einer völlig anderen Regierungsform basiert als unseres.“

Selbst der neokonservative US-Außenminister Antony Blinken zuckte bei der Pressekonferenz zusammen. Seine Grimasse wurde in einem Video festgehalten, das im Internet verbreitet wurde.

Später an diesem Tag erklärte der chinesische Präsident Xi als Reaktion auf Bidens Indiskretion gelassen: „Es ist unrealistisch, dass eine Seite die andere umgestaltet. Eine friedliche Koexistenz setzt für die Chinesen Toleranz und Akzeptanz unterschiedlicher Gesellschaftssysteme und Lebensweisen voraus. Xi sagte weiter: „Der Planet Erde ist groß genug, damit beide Länder erfolgreich sein können“.

Fortune erkannte an, dass Xi eine andere Vision als Bidens „Winner-take-all“-Mentalität vertrat. Das Wirtschaftsmagazin wies darauf hin, dass Biden Trumps Zölle auf einige chinesische Produkte beibehalten und gleichzeitig die Exportkontrollen und Investitionen in High-Tech-Bereiche wie moderne Chips verschärft habe.

Über das Undenkbare nachdenken

Es ist kein geografischer Zufall, dass China von einem Ring aus rund 400 US-Militärstützpunkten umgeben ist. Biden hat (1) das 2007 ins Leben gerufene Quad-Militärbündnis mit Indien, Australien und Japan, (2) den 2021 gegründeten AUKUS-Sicherheitspakt mit dem Vereinigten Königreich und Australien und (3) den auf den Beginn des Ersten Kalten Krieges zurückgehenden Geheimdienstaustausch der Five Eyes mit dem Vereinigten Königreich, Australien, Neuseeland und Kanada gestärkt und (4) im vergangenen August ein neues Mini-NATO-Bündnis mit Japan und Südkorea geschmiedet.

Obwohl die Chinesen keine Stützpunkte in Nordamerika haben, stellte ein chinesischer „Spionageballon“, der sich vor einem Jahr über den „amerikanischen Himmel“ verirrte, laut Pentagon eine „noch nie dagewesene Herausforderung“ dar. Eine Studie der halbstaatlichen RAND Corporation gibt weiteren Aufschluss über die offizielle Haltung der USA. Der Titel der Studie, die von der US-Armee in Auftrag gegeben wurde, sagt alles: „War with China – thinking through the unthinkable“. Die besten Köpfe, die man für Geld kaufen kann, wurden von den US-Steuerzahlern bezahlt, um das Armageddon durchzuspielen.

Ausgehend von der offiziellen nationalen Sicherheitsdoktrin der USA, der „Dominanz des gesamten Spektrums„, spielten die Analysten von RAND verschiedene Kriegsszenarien der USA mit China durch. Das Ergebnis, so sagten sie voraus, würde für beide Seiten katastrophal sein. Doch gemäß der Moral, die auf einem Autoaufkleber zum Ausdruck kommt, den ich in meiner Nachbarschaft gesehen habe, nämlich „Wer am Ende das meiste Spielzeug hat, gewinnt“, würden die USA als Sieger hervorgehen.

Ja, die USA würden sich laut RAND durchsetzen. Aber der Bericht enthielt auch einen Vorbehalt… wenn sich ein solcher Krieg in Grenzen hält. Das heißt, wenn andere Länder sich nicht in das Handgemenge einmischen und wenn es nicht zu einem Atomkrieg kommt, könnte der Konflikt eingedämmt werden.

Die Militärstrategen warnen jedoch davor, dass die Chancen auf eine Eindämmung mit dem Fortschreiten eines Konflikts immer geringer werden. Wenn ein solcher Konflikt erst einmal begonnen hat, kann er zunehmend unbeabsichtigte Folgen für die Protagonisten haben. Außerdem stellen sie fest, dass es für die eine oder andere Seite einen enormen militärischen Vorteil bedeutet, zuerst zuzuschlagen.

Wettstreit um die Zukunft unserer Welt

In seiner offiziellen Nationalen Sicherheitsstrategie beschrieb Joe Biden den „Kampf um die Zukunft unserer Welt“. Dem US-Präsidenten zufolge befindet sich „unsere Welt an einem Wendepunkt“. Er fuhr fort: „Meine Regierung wird dieses entscheidende Jahrzehnt nutzen, um … unsere geopolitischen Konkurrenten auszumanövrieren“, womit er vor allem China meinte.

Biden mahnte: „Wir werden unsere Zukunft nicht den Launen derjenigen überlassen, die unsere Vision nicht teilen“. Für den kaiserlichen US-Präsidenten heißt es: „‚My way or the highway‘.

Biden versprach dann, die „amerikanische Führung“ – also die Vorherrschaft, denn niemand hat ihn zum planetarischen Machthaber gewählt – „auf der ganzen Welt“ durchzusetzen. Die Führung der USA in der Welt zeigt sich bereits in den meisten Massenerschießungen, der höchsten Staatsverschuldung und der größten Zahl an Inhaftierten. Die USA sind derzeit weltweit führend beim Verkauf von Militärgütern, bei den Militärausgaben und den ausländischen Militärstützpunkten.

Im Dunkeln pfeifend schloss Biden: „Unsere Wirtschaft ist dynamisch“. Tatsächlich wird die US-Wirtschaft von den unproduktiven Sektoren Finanzen, Versicherungen und Immobilien dominiert, während China zur „Werkstatt der Welt“ geworden ist. Statista schätzt, dass China die USA bis 2030 als größte Volkswirtschaft der Welt überholen wird.

Im Gegensatz dazu ist Chinas Neue Seidenstraße (Belt and Road Initiative, BRI) ein globales Infrastrukturentwicklungsprogramm, das in über 150 Länder investiert hat. Kein Wunder, dass Biden befürchtet, dass die chinesische Alternative in seinen eigenen Worten „das globale Spielfeld zu seinen Gunsten kippt“.

Die von China angebotene Alternative

Anders als der Westen, dessen Reichtum auf kolonialen Ausbeutungen beruht, hat China 800 Millionen Menschen aus der Armut geholt, ohne auf imperiale Kriege zurückzugreifen. Aber ist China, das von Xi Jinpings „Sozialismus mit chinesischen Merkmalen“ geleitet wird, tatsächlich sozialistisch? Innerhalb der sich selbst als sozialistisch bezeichnenden Linken gibt es eine Reihe von Meinungen, je nachdem, welcher Lackmustest angewendet wird.

Für die einen existiert der Sozialismus weder in China noch irgendwo anders in der Vergangenheit oder Gegenwart. Für sie ist der Sozialismus ein Ideal, das erst noch verwirklicht werden muss. Andere halten China unter Mao Zedong hoch, aber nicht unter der nachfolgenden Revision durch Deng Xiaoping. Am anderen Ende des Spektrums stehen die Befürworter, die behaupten, China habe den Sozialismus bereits erreicht. Dazwischen gibt es, entsprechend der gemischten Wirtschaft Chinas mit staatlichen und privaten Unternehmen, verschiedene Schattierungen, die China im Übergang zwischen Sozialismus und Kapitalismus sehen. Für die einen schreitet der Übergang voran, für die anderen ist er rückläufig.

Die chinesische Führung vertritt die Auffassung, dass die materiellen Voraussetzungen für die vollständige Verwirklichung des Sozialismus noch in der Entwicklung begriffen sind.

Diese bescheidene Abhandlung wird die Frage, ob China sozialistisch ist, nicht klären, darüber wird letztlich die Geschichte entscheiden. Es ist jedoch klar, dass das chinesische Paradigma der globalen Zusammenarbeit dem Nullsummenwettbewerb der USA entgegengesetzt ist. Wenn auch nicht gerade sozialistisch, so bietet China doch zumindest ein Paradigma, das eine sozialistische Zukunft nicht ausschließt. Wichtig ist, dass in diesem umstrittenen geopolitischen Klima China und damit auch der globale Süden einen Gegenpol zur imperialen Hegemonie der USA bilden.

Die Chinesen scheinen sich der „Krieg statt Frieden“-Haltung der Yankees bewusst zu sein, aber die 4000 Jahre junge Zivilisation scheint selbstbewusst zu sein, dass sich die Rationalität einer friedlichen „Win-Win“-Entwicklung durchsetzen wird. Nach dem, was ich bei meinem Besuch gesehen habe, strahlen sie zuversichtlich die Geduld der Reife und die solide Vitalität der Jugend aus.

Wir danken unserer Partnerseite Pressenza für die Publikationsrechte, erschienen 29.12.23 – USA – Pressenza New York, von Roger D. Harris

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Alina Kulik vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Pressnza sucht Freiwillige!

Der Autor Roger D. Harris arbeitet für die Menschenrechtsorganisation Task Force on the Americas und ist Mitglied des Exekutivausschusses des US Peace Council.

Titelbild: Imagem de Bing / Pressenza) (Bild von Bing / Pressenza)

References

References
1 https://www.deutschlandfunk.de/taiwan-wahl-2024-102.html
2 https://hbapp.handelsblatt.com/cmsId/100003024.html?utm_medium=app&utm_source=verschicken&utm_campaign=freiartikel
3 https://www.handelsblatt.com/politik/international/taiwan-wahl-taiwans-vizepraesident-lai-ching-te-wird-neuer-praesident/100003031.html

Sanktionen als Instrument von Wirtschaftskriegen

Die umfassenden Analysen von Jörn Rieken lassen kaum einen Zweifel: Sanktionen sind ein Instrument von Wirtschaftskriegen. Oft sind ihre Auswirkungen sogar noch verheerender als die von “heissen” Kriegen. Für einen Sozialisten gibt es keine “guten” Sanktionen des eigenen kapitalistischen Landes oder imperialen Blocks gegen deren Konkurrenz. Ebenso wenig wie es “gute Kriegskredite” gibt. (Peter Vlatten)

Bei Sanktionen geht es letztlich um eine neoliberale Umverteilung im globalen Maßstab

Die Verhängung wirtschaftlicher Strafmaßnahmen erreicht nur in Ausnahmefällen die vorgeblichen Ziele einer Veränderung von Regierungshandeln der sanktionierten Länder. Im Kern geht es bei den Sanktionen um die Aufrechterhaltung westlicher Dominanz gegenüber drohender Multipolarität.

Dr. Jörn Rieken, Jahrgang 1956,
arbeitete als Entwicklungsökonom über 25 Jahre im Ausland für GIZ, EU und UNO mit Schwerpunkt multilateraler Handelsabkommen.
Der hier veröffentlichte Artikel ist
die gekürzte Fassung eines Textes
aus der jüngsten Ausgabe des
außenpolitischen Journals Welttrends.de, das einen Themenschwerpunkt »Globaler Wirtschaftskrieg« enthält. Eine noch ausführlichere Fassung sowie weitere Informationen befinden sich ebenfalls auf Welttrends.de. Jörn Rieken gehört zum Autorenkreis von FGLB und ist Aktivist der IG BAU.

Weitgehende Umlenkungsmöglichkeiten der Handelsströme, eine massive Stärkung der innenpolitischen Reputation und mangelnde Konditionierung von wirtschaftlichen Strafmaßnahmen führen im Gegenteil eher zu einer Stärkung von Regierungen in den sanktionierten Ländern.

Weltweit Hauptleidtragende sind die ärmeren Bevölkerungsteile und die energieabhängige industrielle Produktion. Es ist eine neoliberale Umverteilung im globalen Maßstab. Bezogen auf die innerstaatlichen Verhältnisse droht der sanktionsgetriebene Weltwirtschaftskrieg zu sozialen Kriegen zu führen.

Handelspolitik ist immer auch Interessenpolitik – bestenfalls zum Gesamtnutzen der beteiligten Länder, oftmals jedoch nur für deren Eliten. Sanktionen setzen die in der Welthandelsorganisation (WTO) einstimmig ausgehandelten und vertraglich fixierten Regelungen außer Kraft. Nicht zuletzt deshalb ermächtigt das Völkerrecht einzig den UN-Sicherheitsrat dazu, Sanktionen zu verhängen.

“Unilateral verhängte wirtschaftliche Strafmaßnahmen”, so die offizielle Bezeichnung von nicht durch die UN genehmigte Sanktionen, hingegen “stellen eine einseitige kollektive Bestrafung dar” und wurden daher bereits 2013 von der UN-Generalversammlung als Menschenrechtsverletzungen verurteilt.

Mit seinem Beschluss vom 27. März 2023 stellte der UN-Menschenrechtsrat noch einmal fest, dass Sanktionen völkerrechtlich verboten sind und gegen das Internationale, das Menschen- und das Humanitäre Recht verstoßen. Auch darüber hinausgehende Maßnahmen, wie die Eingriffe in internationale Zahlungssysteme und die Beschlagnahmung von Konten, verstoßen ganz offen gegen internationale Abkommen und die Grundprinzipien des internationalen Rechts.

Ein entsprechender Bericht an die 17. Generalversammlung der UN stellte 2015 fest, dass “unilateral verhängte Maßnahmen, besonders Handelsembargos, schwere nicht-intendierte Folgen auf Menschenrechte, öffentliche Wohlfahrt und langfristige Wachstumsperspektiven für die betroffenen Länder haben.”

Der UN geht es nicht um rückwärtsgewandte Bestrafung, sondern um Erzielung eines Friedens. Daher wurden bei UN-Sanktionen zeitliche Begrenzungen mit regelmäßigem Monitoring eingeführt. Bei einer Bewertung des Nutzens von Sanktionen kann nicht allein deren Effektivität in Betracht gezogen, sondern es müssen auch die Kosten für sanktionsverhängende Staaten berücksichtigt werden.

Die bisher umfangreichste Studie wurde von Hufbauer et al. im Jahr 1990 erstellt und 2000 erneuert. In über 115 Fällen haben Sanktionen nur in einem Viertel der Staaten grundlegende politische Veränderung erzwingen können.

Allerdings führten wirtschaftliche Strafmaßnahmen in mehr als der Hälfte der Staaten zu einer Destabilisierung des Ziellandes. Nach der Neuauswertung 2000 konnte ein klarer Erfolg gemäß der ursprünglichen Zielsetzung in nur 5 von 115 Fällen beschrieben werden.

Unilaterale Sanktionen

In fundamentaler Abgrenzung zu UN-legitimierten Sanktionen leistet sich der Westen “eine Art idealistischen Oberschusses” an sanktionspolitischem Unilateralismus.

Auch aufgrund ihrer empirisch belegten geringen Erfolgsbilanz weisen sie eine Tendenz zu Verhärtung und Eskalation auf. Praktisch gefangen in einer immanenten Eskalationsdynamik können USA und EU nicht aufhören, immer weitere Maßnahmen zu verhängen in der Befürchtung, ansonsten keine weiteren Optionen mehr zu haben.

Gemäß einer Untersuchung des Instituts für Wirtschaftsforschung Ifo zu Sanktionen mit dem Stand von 2020 stellen die Autoren fest, dass westliche Demokratien die häufigsten Urheber von Wirtschaftssanktionen sind, vor allem die USA und EU, während afrikanische Länder die häufigsten Sanktionsziele sind.

Seit Ende des Kalten Kriegs hätten Wirtschaftssanktionen rapide zugenommen. Eindeutige Folgen zeigten sich als Kollateralschäden in sinkender Lebenserwartung in den sanktionierten Ländern, bei Frauen stärker als bei Männern.

Bereits heute sind die Kosten für den sanktionierenden Westen im Falle Russlands und Chinas evident. Baldwin wies in seiner Auswertung von Sanktionen bereits im Jahr 2000 darauf hin, dass die Bedeutung von Kosten anerkannt werden müsse, “Pyrrhus-Siege seien kein Erfolg (…); es benötige komplexere Konzepte als den Sieg”.

Auch der IWF konstatierte bereits im Juni 2022, dass “die gegenwärtigen Wirtschaftssanktionen weltweit sogar größere Schocks auslösen würden als je zuvor”.

Trotz dieser eindrücklichen Warnungen mutiert das sanktionspolitische Instrumentarium zunehmend zum “Standrepertoire der Außenpolitik”. Im Juni 2004 veröffentlichte die EU ein die Sanktionen betreffendes Konzept zu den “Basic Principles on the Use of Restrictive Measures”, in dessen Mittelpunkt zielgerichtete Sanktionen stehen. Unter diesen “smart sanctions” werden insbesondere individuelle Finanz- und Reisesanktionen beschrieben.

Europa degeneriert zum Vasallen der USA

In aller Offenheit hatte der frühere Präsident Bush den Einsatz wirtschaftlicher Strafmaßnahmen damit begründet, dass “es das oberste Ziel der US-Strategie nach dem Ende des Kalten Kriegs sein muss zu verhindern, dass irgendwo auf der Welt irgendeine Macht zum ebenbürtigen Konkurrenten wird.”

Gemäß dem gegenwärtigen Präsidenten Biden werden derzeit vom Westen “beispiellose Sanktionen” eingeführt, die “in ihrer Gesamtheit die Potenz entfachen, Schäden zuzufügen, die der Anwendung militärischer Macht gleichkommen”.

Die EU folgt mit ihren Maßnahmen dem Sanktionsregime der USA, meist mit einem gewissen zeitlichen Abstand. Die Gründe hierfür lägen in der “maßgeblichen Rolle des US-Dollars” und der “amerikanischen Kontrolle über das internationale Finanzsystem”.

Für eine “strategische Autonomie der EU bleibe daher keinerlei Raum”, diagnostiziert der European Council on Foreign Relations (ECFR), das wichtigste Beratungsgremium der Europäischen Kommission. Und konstatiert eine zwangsläufig “erfolgende Vasallisierung Europas”.

Gezielte Sanktionen

Neben den allgemeinen ökonomischen Strafmaßnahmen setzen USA und EU vorwiegend auf sogenannte “gezielte” Sanktionen gegen Einzelpersonen, Unternehmen und Organisationen. Betrug deren Anzahl vor Februar 2022 noch rund 2.700, so zählte Castellum AI im August 2023 fast 15.000 allein gegen Russland.

Bereits im Ersten Sanktionspaket der EU wurden sämtliche 351 Abgeordnete des russischen Parlaments mit Sanktionen belegt, die für die Anerkennung der “Volksrepubliken” gestimmt hatten. Auch 27 Banken und Unternehmen, denen Geschäfte mit den separatistischen Gebieten unterstellt wurden, trafen die Strafmaßnahmen, ebenso sowie Moderatoren von Nachrichten und Talkshows.

Dabei werden wirtschaftliche Strafmaßnahmen von einem exklusiven Kreis an EU-Entscheidern beschlossen, zu deren Begründungen selbst EU-Parlamentarier keinen Einblick erhalten.

Auch auf den Widerspruch von EU-Mitgliedstaaten wie Ungarn, einzelne Personen auszunehmen, wurde nicht reagiert. Für sanktionierte Einzelpersonen bestehen keinerlei Anreize zu Verhaltensänderungen, selbst wenn sie es könnten. Auch “gezielte” wirtschaftliche Strafmaßnahmen sind damit als “Vergeltung ohne Zielsetzung” zu beschreiben.

Umgehungsstrategien

Wenn mit sogenannten “gezielten” Sanktionen gegen Einzelne also nur symbolische oder unspezifische Effekte erzielt werden können, verbleiben noch wirtschaftliche Strafmaßnahmen.

Effektiv können Exportbeschränkungen aber nur dann wirken, wenn sie unter weltweiter Beteiligung möglichst vieler Im- und Exporteure erfolgt. An den vom Westen gegen Russland auferlegten Sanktionen beteiligen sich allerdings außer den USA, Kanada und den 27 EU-Staaten nur noch acht weitere Länder.

Einige Länder des Globalen Südens hingegen profitieren von den bis zu 30 Prozent betragenden Rabatten auf von ihnen importierte Rohstoffe. Trotz Preisabschlägen für nicht-westliche Abnehmer konnte Russland seine Exporteinnahmen im Jahre 2022 drastisch ausweiten und auch 2023 bei geringerem Handelsvolumen höhere monatliche Einnahmen erzielen als vor 2021.

Selbst der IWF bescheinigt Russland eine ausgesprochen stabile finanzielle Situation, niedrige öffentliche Verschuldung und hohe Leistungsbilanzüberschüsse. Auch wenn die Einnahmen aus Energieexporten 2022 um fast ein Viertel zurückgingen, erwartete der Fonds für 2023 ein russisches Wirtschaftswachstum von 1,7 Prozent.

Umgehungsstrategien erwiesen sich bisher als recht erfolgreich. In der Sanktionsliteratur wird immer wieder auf die begrenzte Effektivität unmittelbarer, das sanktionierte Land direkt betreffender Strafmaßnahmen hingewiesen.

In vielen Artikeln wird beschrieben, dass – gemessen an den deklarierten Zielsetzungen – Kubas wirtschaftliche Entwicklung, selbst nach Wegfall der sowjetischen Unterstützung, relativ stabil weitergelaufen wäre, Nordkoreas technologische Entwicklung bisher weitgehend ungestört verlaufe, und Iran sich wirtschaftlich und geopolitisch zur regionalen Mittelmacht entwickeln konnte.

Im Fall Nordkoreas waren wirkungsvoll einzig die extremen humanitären Kosten für den ärmeren Teil der Bevölkerung. Auch in Kuba und Iran wurde ein Großteil der Kosten auf die ärmere Bevölkerung abgewälzt.

Ein vollkommenes anderes Bild ergibt sich für sanktionierte Länder mit geringerer wirtschaftlicher Entwicklung.

Der Menschenrechtsbeauftragte der UN, Volker Türk, konstatierte im Januar 2023, “dass die seit 2017 gegen Venezuela verhängten sektoralen Sanktionen die Wirtschaftskrise verschärft und die Menschenrechte beeinträchtigt haben”.

Noch drastischere humanitäre Auswirkungen zeigen sich in Afghanistan. Dessen Wirtschaft wurde der endgültige Todesstoß versetzt, als die Reserven der Zentralbank durch USA und EU eingefroren und das Land vom Zahlungsdienstleister Swift ausgeschlossen wurde. Während die UN vor “einer der umfassendsten humanitären Krisen, die die Welt je sah” warnen, sind die Unama-Mittel für Afghanistan nur zu 30 Prozent finanziert.

Bereits im März 2022 warnte der IWF vor dem Risiko einer dauerhaften Fragmentierung der Weltwirtschaft in geopolitische Blöcke mit unterschiedlichen technologischen Standards, Zahlungssystemen und Reservewährungen.

Die vom IWF vorausgesagte “tektonische Verschiebung” würde hohe Anpassungskosten und anhaltende wirtschaftliche Effizienzverluste mit sich bringen, da Lieferketten und Produktionsnetzwerke neu ausgerichtet werden müssten.

Hier deuten sich Parallelen an zum endgültigen Zusammenbruch des Goldstandards 1931, als sich vier Währungsblöcke herausbildeten, die untereinander kaum verbunden waren.

Der internationale Handel reduzierte sich bis 1938 um mehr als 60 Prozent, die bis dahin hohe Intensität weltwirtschaftlichen Integration ging deutlich zurück. Erst in den 1970er Jahren wurde wieder das Niveau von 1914 erreicht.

Sanktionen im Energiesektor

Die Nachrichtenagentur Bloomberg berechnete bereits im Dezember 2022 die Kosten von Energiesanktionen für die EU auf eine Billion US-Dollar. Nach Angaben der Brüsseler Denkfabrik Breugel hat die EU Unternehmen und Verbrauchern bereits 2022 mit 700 Milliarden US-Dollar geholfen, einen Großteil der Preisanstiege abzufedern, “aber der Ausnahmezustand könnte noch Jahre andauern”.

Allein für Deutschland beliefen sich damals bereits sanktionsbedingte Kosten auf mehr als 440 Milliarden Euro.

Für die sanktionierenden Länder erwartete die OECD schon Mitte 2022 eine nachhaltige Schädigung des Konsums durch einen starken Verlust an Kaufkraft, eine lang anhaltende Rezession und den Rückgang von Investitionen.

Auch die Weltbank befürchtete wenig später eine Rückkehr zur Stagflation in Analogie zu den 1970er-Jahren, die von schwachem Wachstum in Kombination mit hoher Inflation geprägt waren.

Das Institut der Deutschen Wirtschaft sah EU und BRD bereits Ende 2022 als krisenbedrohte “wirtschaftliche Großmacht”. Nach den Krisen bei Banken, des Euro und der durch die Pandemie ausgelösten drohe nunmehr mit der Sanktionskrise ein lang anhaltender wirtschaftlicher Verfall.

Auch das IW formuliert, dass der “Zugang zu günstigen Rohstoffen wie Energiequellen” einen schwer wettzumachenden Standortnachteil gegenüber den USA darstelle.

Aufgrund längerfristig mehr als dreifach höherer Energiepreise erwartet der DIHK eine “strukturelle Krise” mit dem Potenzial, “Teile der wirtschaftlichen Struktur zu zersetzen” sowie einer Verschiebung von Produktionsstandorten in Ausland.

In der öffentlichen Adressierung von Kostenträgern halten sich die meisten Regierungsvertreter noch zurück. Konkretere Formulierungen finden sich bereits in Wirtschaftskommentaren, nach denen die Friedensdividende aufgezehrt sei und daher die Sozialausgaben überprüft werden müssen.

Eindeutige Umverteilungseffekte zeigen sich bei den seit 2022 außerordentlichen Gewinnen vieler multinationaler Konzerne, besonders in den Branchen Energieversorgung und Nahrungsmittelverarbeitung. Dagegen mussten abhängig Beschäftigte in Deutschland mit 4,7 Prozent den “historisch” größten Reallohnverlust seit dem Zweiten Weltkrieg hinnehmen.

Das WSI bezeichnet derweil die in so kurzem Zeitrahmen erfolgte Umverteilung von unten nach oben als “historisch”.

Sanktionen im Bereich Dienstleistungen

Bislang am effektivsten sind Sanktionen, die den Handel mit Dienstleistungen betreffen. So wurden im 7. Sanktionspaket der EU für den russischen Schiffstransport von Rohöl und Erdölprodukten Versicherungsleistungen nur noch bei Einhalten eines Preisdeckels für die exportierten Produkte erlaubt.

Diese Leistungen wurden vor 2022 zu 90 Prozent von EU- und britischen Firmen angeboten und die bedeutendsten Versicherer und Händler befinden sich in der EU, Großbritannien und der Schweiz.

Aufgrund rechtlicher Unsicherheit über den Geltungsbereich von Dienstleistungssanktionen haben sich mittlerweile auch alle westlichen Banken aus der Finanzierung von Handelsgeschäften zurückgezogen. Nicht betroffen sind allerdings Reedereien, da Griechenland Einspruch erhob.

Auch kann der Handel mit Rohstoffen aus Russland weitgehend ungestört weiterlaufen, da er vom bisher dominierenden Handelsplatz Schweiz nach Dubai umzog.

Keine Umgehungsmöglichkeiten hingegen gab es bei der Beschlagnahmung von auf ausländischen Banken deponierten Zentralbankreserven. Im Falle Irans, Venezuelas und Russlands hatte das für die betroffenen Länder zwar spürbare, bezogen auf deren Gesamtumfang jedoch begrenzte Folgen.

Der Ausschluss Jugoslawien aus dem Swift während dessen Zerfallsprozesses und die gleiche Maßnahme gegen Afghanistan heute hatte und hat gravierende Folgen für die gesamte Bevölkerung der betroffenen Staaten.

Auch in Kuba, Iran, Russland und Venezuela sind migrantische Arbeiter und private Personen für Überweisungen auf informelle Dienstleister mit oft sehr hohen Transaktionskosten angewiesen. Die regierungsberatende SWP konstatiert daher, dass es “unterschiedliche Auffassungen” darüber gäbe, wer als ideale Zielgruppe anzusehen ist.

Erbitterte Konkurrenz

Aufgrund des Boykotts russischen Pipelinegases stiegt der LNG-Import Europas bis Anfang 2023 um 65 Prozent. Infolgedessen traten die europäischen Importeure in erbitterte Einkaufskonkurrenz mit ärmeren Ländern. Indien, Pakistan und Bangladesch verloren zusammengenommen rund 18 Prozent ihrer LNG-Importe.

Sogar vertraglich fest zugesagte Importe blieben aus, sodass Pakistan und Bangladesch wegen Erdgasmangels zeitweise Fabriken stilllegen und den privaten Konsum strikt beschränken mussten.

Noch 2021 belieferten Russland und die Ukraine den Weltmarkt mit rund 30 Prozent aller Weizen- und 20 Prozent aller Maisexporte. Mitte 2022 wurde das Abkommen über ungehinderte Getreidelieferungen der Ukraine über das Schwarze Meer ausgehandelt.

In dem Abkommen waren gleichfalls Bestimmungen enthalten, die einen sanktionsfreien russischen Getreideexport ermöglichen sollten. Dieser Teil des Abkommens wurde allerdings von der EU nicht umgesetzt. Aufgrund der Sanktionen waren anfangs nur wenige Reeder, Handelsbanken und Versicherungen bereit, russische Lieferungen zu ermöglichen.

Besonders betroffen sind arme Länder wie Somalia, in denen sich die Preise für Grundnahrungsmittel verdoppelten. Trotz dieser umfangreich dokumentierten Notlage soll der für 2024 geplante Etat der deutschen Entwicklungszusammenarbeit um 22 Prozent, das darin enthaltene Budget für humanitäre Hilfe sogar um 36 Prozent gekürzt werden.

Laut einer Studie der University of Edinburgh haben Düngemittel- und Energiepreise einen viel stärkeren Einfluss auf die Getreidepreise als punktuelle Exportschranken wie die Aussetzung des Getreidedeals.

Die weltweiten Düngerpreise verbleiben in Afrika bis heute auf dem dreifachen Niveau von 2021. Gemäß dem International Food Policy Research Institute (IFRI) sind rund 20 Prozent des weltweiten Düngerhandels von den Strafmaßnahmen betroffen.

Profitieren konnten hingegen die neun weltgrößten Düngemittel-Unternehmen, deren Gewinne von rund 14 Milliarden US-Dollar im Jahr 2020 auf 49 Milliarden US-Dollar im Jahr 2022 stiegen.

Über die Sanktionen beim Waren- und Dienstleistungshandel hinaus sollen westliche Wirtschaftsstrafmaßnahmen auch auf Restriktionen für Investitionen aus dem Ausland ausgedehnt werden. Untersagte Auslandsinvestitionen wurden von 2019 bis 2022 von nur wenigen Dutzend auf mehrere Hundert vervielfacht.

Zusätzliche Probleme dürfte künftig das in westlichen Ländern geplante Outbound Investment Screening schaffen. Faktisch würde es dazu führen, dass westliche multinationale Unternehmen ihre globalen Geschäfte in eine nordamerikanisch-europäische, eine chinesische und eine indisch-südostasiatische jeweils separat geführte Firma aufspalten müssten.

Deglobalisierung

Selbst die Präsidentin der EZB und die US-Finanzministerin warnen inzwischen vor dem sanktionsbasierten Gespenst der Deglobalisierung und seinen Folgen wirtschaftlicher Fragmentierung mit weniger Handel, geringerer Produktion und höherer Inflation.

Die Auflösung der bisherigen Handelsbeziehungen werde sich gravierend auf Länder mit niedrigem Einkommen und weniger wohlhabende Verbraucher in fortgeschrittenen Volkswirtschaften auswirken.

Im bundesrepublikanischen Kontext werden wirtschaftlichen Strafmaßnahmen dagegen als “wertebasierte Handelspolitik” verbrämt und die angestrebte Entkoppelung als “friendshoring” bezeichnet.

Der IWF schätzt, dass die gegenwärtige “geoökonomische Fragmentierung” zu höherer makroökonomischer Volatilität, größeren Krisen und einer “finanziellen Regionalisierung” mit einem fragmentierten globalen Zahlungssystem führe.

Bei starker Fragmentierung des Handels könnten Kosten von bis zu sieben Prozent anfallen, und bei zusätzlicher technologischer Entkopplung der Produktionsverlust in einigen Ländern bis zu zwölf Prozent betragen.

So untergräbt die Sanktionsallianz das Fundament der internationalen Arbeitsteilung und scdigt sich langfristig selbst.

Erstveröffentlichungen: ausführliche Fassung, gekürzte Fassung auf telepolis 11.11.23 und auf ND 27.11.23

http://PDF Kurzfassung

IWF und Weltbank stellen der Ukraine ein Ultimatum

Von Urs P. Gasche / 29.08.2023

Fast vier Wochen nach Infosperber informierte auch die «NZZ am Sonntag» über den Ausverkauf des ukrainischen Ackerlandes.

Unter dem Titel «Der Krieg macht die Ukraine zum Vasallenstaat des Westens» berichtete Infosperber, dass die Gläubiger der Ukraine den Ausverkauf der riesigen Agrarflächen diktieren. Die Profiteure seien westliche Konzerne und ukrainische Oligarchen. Mit 33 Millionen Hektar verfügt die Ukraine über weite Teile des fruchtbaren Ackerlandes der Welt

«Da bahnt sich eine Katastrophe für die Kleinbauern an», erklärte Viktor Scheremata, Vorsitzender des ukrainischen Kleinbauern-Verbandes, gegenüber der NZZ, die am 20. August auf einer ganzen Seite über die fragwürdige Entwicklung informierte. 

Im Jahr 2001 habe die Ukraine gegen Landkäufe ein Moratorium verhängt. «Auf Drängen der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds IWF und der Europäischen Entwicklungsbank», wie die «NZZ am Sonntag» schrieb, «wurde das Moratorium im Jahr 2020 aufgehoben». Seither erlaube das Gesetz ausländischen Konzernen und ukrainischen Investoren, grosse Landflächen zu kaufen. Die Zeitung zitierte Wiktor Scheremata: «Die Aufhebung des Moratoriums war die Bedingung dafür, dass die Ukraine [von den internationalen Finanzinstitutionen] Kredite erhält.» Das war ein erpresserisches Ultimatum.

Bereits sind die grössten Landbesitzer Oligarchen sowie ausländische Konzerne und Investoren, darunter ein in den USA ansässiger Private-Equity-Fonds und der Staatsfonds von Saudi-Arabien. Die «NZZ am Sonntag» stützte sich dabei wie Infosperber auf den Bericht «Krieg und Diebstahl», den das kalifornische Oakland Institute im März 2023 veröffenticht hatte. Dieses Institut ist von Konzernen und Regierungsgeldern unabhängig. Infosperber hatte die Zusammenfassung des Berichts auf Deutsch übersetzt

Laut Bericht sind mit einer Ausnahme sämtliche der zehn grössten Landbesitzer im Ausland registriert, hauptsächlich in Steueroasen wie Zypern oder Luxemburg. Um das begehrte ukrainische Agrarland reissen sich viele prominente Konzerne. Der Bericht nennt Investoren beim Namen, darunter die Chemiekonzerne Bayer und Dupont, den Rohstoffkonzern Glencore, das Agrarunternehmen Cargill, die Vanguard Group, Kopernik Global Investors, BNP Asset Management Holding, die zu Goldman Sachs gehörende NN Investment Partners Holdings und Norges Bank Investment Management, die den norwegischen Staatsfonds verwaltet. Eine Reihe grosser US-Pensionsfonds, Stiftungen und Universitätsstiftungen sind über NCH Capital ebenfalls in ukrainischen Grundbesitz investiert. NCH Capital ist ein in den USA ansässiger Private-Equity-Fund, welcher mit 450’000 Hektaren gepachteter Fläche der fünftgrösste Grundbesitzer der Ukraine ist.

Die «NZZ am Sonntag» zitierte die ukrainische Nationale Akademie der Wissenschaften: «Heute kämpfen und sterben Bauern und Bäuerinnen im Krieg. Sie haben alles verloren. Die Prozesse des freien Landverkaufs und -kaufs werden zunehmend liberalisiert und beworben. Dies bedroht die Rechte der Ukrainer auf ihr Land, für das sie ihr Leben geben.»

Der Kleinbauern-Vorstand Wiktor Scheremeta sieht die Zukunft düster: «Wenn die Kleinbauern von der Front zurückkommen und realisieren, dass sie gegen die grossen Konzerne keine Chance mehr haben, wird der Protest nicht mehr friedlich sein, sondern radikal. Denn dieses Land gehört unseren Kindern und Enkeln.»

Das Oakland Institute empfiehlt, den Agrarsektor nach dem Krieg umzugestalten: Man solle dann in erster Linie diejenigen Bauern unterstützen, welche die ukrainische Bevölkerung ernähren, und nicht etwa exportorientierte Konzerne. Doch das ist Wunschdenken: Die Leasingverträge hätten eine Laufzeit von 49 Jahren, sagt Scheremeta. «Diese werden wir nicht rückgängig machen können.»

Erstveröffentlicht bei “Infosperber”
https://www.infosperber.ch/wirtschaft/landwirtschaft/iwf-und-weltbank-stellten-der-ukraine-ein-ultimatum/

Wir bedanken uns für das Abdruckrecht.


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