Video-Konferenz: Organisierung in der Plattformökonomie

Die Konferenz will Essenslieferanten aus Deutschland und China (Festland und Hong Kong) zu einem Austausch über Arbeitsbedingungen und Arbeitskämpfe in ihren Ländern zusammenbringen.

Dabei wird berücksichtigt, dass die Zustellung auf unterschiedliche Art geschieht – zu Fuß, mit dem Fahrrad, E-Bike, Moped, Motorrad oder auch Auto.

Der Austausch soll die Unterschiede und Gemeinsamkeiten aufzeigen und die Art und Weise reflektieren, wie sich in diesem Sektor arbeitende Menschen organisieren und wie sie international zusammenarbeiten. Als Teil der Arbeiterklasse stellt sich die Frage ihrer Organisierung: In Form traditioneller oder anarcho-syndikalistischer Gewerkschaften oder in Kollektiven auch jenseits von Gewerkschaften.

Fragestellungen:

a) Wie hat sich die Essenslieferindustrie in Festland-China, Hong Kong und Deutschland in den letzten Jahren entwickelt?

b) Wie sehen die Arbeitsbedingungen von Essenslieferantenin Festland-China, Hong Kong und Deutschland aus?

c) Wie haben sie Arbeitskämpfe ausgefochten und Organisationsstrategien entwickelt?

d) Was sind dabei ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den zweiLändern?

Programm

Samstag, den 10. Dezember, 09:00 – 13:30 Uhr,

Konferenzsprachen sind Englisch und Chinesisch mit Simultanübersetzung

09:00Welcome by the convenors Overview of the delivery industry and the platform economy worldwide
by Simon Schaupp, University of Basel
09:20
09:35
09:50
Overview on China: Food Delivery Platforms and Workers in a Strong State by Lee Yu, Researcher of platform labor in China, Hong Kong Overview on the situation in Hong Kong by Au Gaawing, Riders‘ Rights Concern Group, Hong Kong, Overview on the situation in Germany by Simon Schaupp, University of Basel Followed by questions and comments from participants
10:30Break

11:00
11:30
Reports on working conditions and labour disputes from activists: A delivery worker from mainland China Followed by questions and comments from participants Siutong on Food Panda delivery workers‘ struggle in Hong Kong Followed by questions and comments from participants
12:00Short break
12:15

12:45 13:30
Elmar Wiegand (Flink, Action against Labour Injustice) Cologne Delivery worker from Gorilas, Berlin Followed by questions and comments from participants Final open discussion + closing remarks End of the conference

Tagungsleitung

Rosa Luxemburg Stiftung (https://www.rosalux.de)

Thomas Sablowski, e-mail: thomas.sablowski@rosalux.org

Kritisches China-Forum:

Peter Franke, e-mail: forumarbeitswelten@fuwei.de

Anmeldung

Erbeten wird eine schriftliche und verbindliche Anmeldung per e-mail für die Teilnahme an der Online-Konferenz unter Angabe von Namen, Adresse, ggf. Organisationzugehörigkeit und e-mail bis spätestens Donnerstag den 8.12.2022an Peter Franke,  forumarbeitswelten@fuwei.de

Die Teilnahme wird schriftlich bestätigt und ein Zugangscode kurz vor der Konferenz verschickt.

Über das Kritisches China-Forum

In der polarisierten Debatte zu Entwicklungen in China und seiner Rolle in den Verschiebungen und Umbrüchen in der kapitalistischen Weltordnung kommen differenzierte Analysen häufig zu kurz. Wir wollen in die politische Diskussion emanzipatorische, internationalistische Positionen einbringen und solidarische Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. Es geht darum, sowohl die Vorurteile im „Westen“ gegenüber China als auch die Herrschaftsverhältnisse, die kapitalistische Ausbeutung sowie die Naturzerstörung in China zu thematisieren. Wir wenden uns dabei gegen Rassismus, Chauvinismus, schlichtes Schwarz-Weiß-Denken und militärische Eskalation, die im Zuge der wachsenden Weltmarktkonkurrenz und geopolitischen Machtkonfrontationen an Bedeutung gewinnen und derzeit staatliches Handeln prägen.

Wir bieten eine Informationsplattform an und organisieren öffentliche Diskussionsveranstaltungen zu China. Wir beschäftigen uns unter anderem mit Arbeitsbeziehungen, sozialen Bewegungen, Geschlechterverhältnissen, Umweltpolitik und internationalen Beziehungen. Im Forum haben bisher u.a. Mitarbeiter*innen der Universitäten Erfurt, Kassel, Köln, Leipzig, Passau sowie der HU Berlin, der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der NGO PowerShift sowie Mitglieder von gongchao.org, des Forum Arbeitswelten, der IG Metall, der IG BCE und der GEW mitdiskutiert.

Faschistische Regierung in Italien – alles ganz normal?

Von Angela Klein

Der erdrutschartige Wahlsieg der rechtsextremen Partei Fratelli d’Italia bei den jüngsten Parlamentswahlen wird von italienischen Marxisten als „Wendepunkt historischen Ausmaßes“ bezeichnet. Denn er bringt eine Partei an die Macht, die das Erbe des Faschismus antritt.

Der Antifaschismus ist Bestandteil der italienischen Verfassung und eigentlich sind faschistische Parteien von der Regierungsbildung ausgeschlossen. Und jetzt ist Giorgia Meloni neue Regierungschefin. Sie ist ein Sproß der MSI, der Italienischen SozialBewegung, gegründet 1946 als Nachfolgerin der Republikanisch-Faschistischen Partei von Mussolini. Bisher kam sie als Regierungspartei deshalb nie infrage.

Als Berlusconi Mitte der 90er Jahre eine Regierung zusammen mit Gianfranco Fini bilden wollte, der ebenso wie Meloni aus der MSI hervorgegangen war, kam er nicht umhin, eine neue Partei zu gründen, die Alleanza Nazionale (AN). Und diese musste auf ihrem Gründungskongress 1995 feierlich erklären: „Der Antifaschismus war ein historisch wesentlicher Moment für die Rückkehr der demokratischen Werte, die der Faschismus mit Füßen getreten hatte“.

Melonis Partei Fratelli d’Italia ist eine rechte Abspaltung der Alleanza Nazionale, sie versammelte die Leute, denen die bürgerliche Wendung dieser Partei nicht gepasst hat. Parteichefin Meloni betont bis heute, sie habe zum Faschismus ein „unbeschwertes Verhältnis“.

Für die Geschäftswelt war die Regierungsübernahme dieser Partei kein Aufreger, weder in Italien noch in Deutschland. Sie hat sie einfach abgenickt – ein Wahlsieg wie jeder andere. Offenbar sind Faschisten kein Schreckgespenst mehr. Das konservative Leitorgan FAZ forderte sogar „Respekt für eine Wahl“. Da Melonis Vorgänger im Amt, der Interims-Ministerpräsident Mario Draghi, nicht gewählt, sondern ernannt worden war, meinte die FAZ, das neue Rechtsbündnis vor Anfeindungen schützen zu müssen: Es sei ein „erster Schritt bei der Rückkehr zum verfassungsgemäßen Prozess der demokratischen Willens- und Regierungsbildung“ gegangen worden“. Zuvor hatte sie Draghi als „Retter der Nation“ gefeiert.

Die Novemberausgabe der Zeitschrift konkret kommentiert zu Recht: „Es war schon immer ein Trugschluss zu meinen, zwischen der liberalen Demokratie und dem Faschismus gebe es eine Brandmauer. Demokratie bedeutet dem Bürgertum nur Herrschaft nach Recht und Gesetz.“ Das fordert der Markt, der ist seit alters her für sein Funktionieren darauf angewiesen, dass ihm ein Machthaber Rechtssicherheit verschafft – gleich ob Despot oder nicht. Wenn Faschisten in diese Position hineingewählt werden, ist das vielleicht nicht schön, aber als „Wille des Souveräns“ hinzunehmen. Auch Hitler ist schließlich legal an die Macht gekommen (nachdem er zuvor massiv mit Geldern der Hochfinanz gepuscht worden war) – und das hat dem bürgerlichen Antifaschismus immer eine enge Grenze gesetzt. „Wer an der vermeintlichen Dichotomie von Demokratie und Faschismus festhält“, schreibt Rolf Surmann in der Zeitschrift, „trägt lediglich zur Affirmation der bestehenden Ordnung bei“.

Grund für die verständnisvolle Reaktion im bürgerlichen Lager ist schnell ausgemacht: Die neue Regierungschefin steht stramm hinter der NATO und poltert auch nicht – anders als früher Berlusconi – gegen die EU, zumal sie von ihr gerade 190 Milliarden aus dem Wiederaufbaufonds zur Bewältigung der Folgen der Pandemie haben will. Sie arbeitet von innen gegen die bestehenden Strukturen. Meloni und ihre Partei betonen den Vorrang nationaler Interessen: „Italien muss wieder dahin zurückkehren, zuerst seine nationalen Interessen zu verteidigen“, sagt sie etwa auf einer Veranstaltung in Mailand. Italien lasse sich von europäischen Partnern und Brüssel herumkommandieren und sei nicht gleichberechtigt. Ihr schwebt ein konföderales Modell vor, in dem Europa sich um die „großen Fragen“ kümmert, bei denen sich die Nationalstaaten in einer globalisierten Welt „als unzulänglich“ erweisen, während alles andere von den Nationalstaaten übernommen wird. Ihre Fraktion hat einen Gesetzesentwurf in der Schublade, der den Primat des nationalen Rechts über das europäische Recht festschreibt. Damit wäre ein Kernstück der EU, nämlich der Europäische Gerichtshof, aus den Angeln gehoben – und die EU in ihrer jetzigen Form am Ende. Für eine Änderung der italienischen Verfassung fehlt ihr allerdings die Zweidrittelmehrheit im Parlament. „Daher könnte Meloni umso mehr bemüht sein, gemeinsam mit den rechtsextremen Fraktionspartnern im Europaparlament, der polnischen PiS und der spanischen Vox, den Rechtsstaatsmechanismus zugunsten einer ‚Union der freien europäischen Völker‘ außer Kraft zu setzen“, schreibt Surmann.

Meloni hat ihr Programm unter das Dreigestirn „Gott, Familie, Vaterland“ gestellt. Der neue Patriotismus richtet sich in allererster Linie gegen Migrant:innen. Für die wird es immer schwerer, italienische Küsten zu erreichen; und solche, die sich bereits im Land befinden, werden es noch schwerer haben, Zugang zu Sozialleistungen zu bekommen. Gern würde Meloni vor der libyschen Küste eine Seeblockade errichten.

Der zweite Grund aber, und er ist es, der Meloni in den Augen von Unternehmern so akzeptabel macht, ist ihr völlig neoliberales Programm. Da unterscheidet sie sich nicht von Draghi. Projekte wie die Hochgeschwindigkeitstrasse von Lyon nach Turin oder die Brücke über die Meerenge von Messina werden weitergeführt. Das erst 2019 eingeführte Bürgereinkommen, eine italienische Version des Grundeinkommens, soll gekürzt und vielleicht sogar ganz abgeschafft werden. Die sieben Milliarden, die dafür vorgesehen sind, werden an Unternehmen umgeleitet. Melonis Partei macht das Bürgereinkommen für den Arbeitskräftemangel im Dienstleistungssektor verantwortlich. Nach Angaben der Statistischen Behörde hat es über einer Million Menschen in Italien aus der Armut geholfen.

Im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit dieser Regierung stehen weder die Armen noch die arbeitenden Menschen, sondern die Kleinunternehmer und Selbständigen. Von denen gibt es in Italien mehr als in anderen Ländern. Der Dienstleistungsbereich macht mittlerweile 74 Prozent der Wertschöpfung aus. Die dynamischsten Sektoren sind haushaltsnahe Dienstleistungen für Privathaushalte und der Billigtourismus. Über 12 Millionen Arbeiter:innen (von insgesamt 18 Millionen) arbeiten im Dienstleistungssektor, zusätzlich 3 Millionen Kleinunternehmen und 5 Millionen „Selbständige“. Für die italienische Politik ist das eine wichtige Größe – und das schon seit langem. Noch vor der endgültigen Niederlage des Faschismus hat die Kommunistische Partei Italiens (PCI) 1944 beschlossen, den Aufbau von Organisationen von Kleinunternehmern zu fördern – mit erheblichem Erfolg. Sie förderte die Bildung des Verbands der Tankstellenbesitzer, der Straßen- und Kleinhändler, der Handelsvertreter usw. 1971 gründeten sie einen landesweiten Dachverband, der seine Tätigkeit auf die gesamte Welt des Handels ausdehnte. Sie förderte die Bildung des Dachverbands der Handwerker und der kleinen und mittleren Unternehmen. Diese Verbände verschafften der PCI erheblichen politischen Einfluss und waren zugleich die Säule des Reformismus in der PCI. Heute stehen diese Organisationen alle rechts.

Der Zusammenbruch der sozialen Solidarität ist inzwischen eine statistische Größe. Immer mehr Menschen beklagen, dass sie sich auf ihre Freunde nicht mehr verlassen können, auch die Unzufriedenheit mit den familiären Beziehungen nimmt zu, vor allem unter Jugendlichen. Wo das soziale Gefüge zerstört ist, greift der Glaube an eine autoritäre Herrschaft um sich.

Erschien in der Dezemberausgabe 2022 der „Sozialistischen Zeitung“
https://www.sozonline.de/

Wir danken der SoZ-Redaktion für das Abdruckrecht.


			

Berlin und der „ukrainische Holocaust”

Bundestag will die Hungersnot in der Ukraine 1932/33 zum Genozid erklären und übernimmt damit politisch motivierte Positionen aus dem Milieu der ukrainischen Ex-NS-Kollaboration.

28.11.2022

BERLIN/KIEW (Eigener Bericht) – Der Deutsche Bundestag will die Hungersnot in der Ukraine während der Jahre 1932 und 1933 zum Genozid erklären und übernimmt damit eine politisch motivierte Einstufung aus dem Milieu der ukrainischen Ex-NS-Kollaboration. Dies geht aus Untersuchungen von Historikern hervor. Demnach ist die Behauptung, bei der Hungersnot handle es sich um einen willentlich herbeigeführten „ukrainischen Holocaust“, im ukrainischen Exil in Kanada entstanden, in dem einstige NS-Kollaborateure den Ton angaben. Ende der 1980er Jahre wurde die Behauptung in dem neu geschaffenen Wort „Holodomor“ gebündelt. Historiker weisen sie in der überwiegenden Mehrheit zurück, nicht zuletzt, weil die Hungersnot die Bevölkerung in agrarischen Regionen in der gesamten Sowjetunion traf. Der Bundestag will seine Resolution zum „Holodomor“ schon an diesem Mittwoch verabschieden. Dies droht auch gravierende innenpolitische Folgen hervorzurufen: Am Freitag hat der Bundesrat die jüngste Verschärfung des §130 StGB abgenickt, nach der „das öffentliche Billigen, Leugnen oder gröbliche Verharmlosen“ von Kriegsverbrechen sowie darüber hinaus von Völkermord unter Strafe gestellt wird.

Die Hungersnot

Gegenstand der Bundestagsinitiative ist die verheerende Hungersnot, die die Sowjetunion in den Jahren 1932 und 1933 erfasste. Sie hatte verschiedene Ursachen. Im Jahr 1931 hatten erst eine Dürre, dann weitere widrige Wetterbedingungen die Ernte ernsthaft geschädigt. Dies geschah, als die 1929 eingeleitete Kollektivierung der Landwirtschaft zu Spannungen führte und zugleich so viel Getreide zur Versorgung der Industriearbeiter wie zur Sicherung des Exports zwangsweise aus den Anbaugebieten abtransportiert wurde, dass dort gravierender Mangel auftrat. Dies war in allen wichtigen Getreideanbaugebieten der Sowjetunion der Fall – neben dem bedeutendsten Anbaugebiet, der Ukraine, etwa auch in Teilen Russlands oder in Kasachstan. Die Hungersnot forderte in der Sowjetunion insgesamt mutmaßlich zwischen sechs und sieben Millionen Todesopfer, davon wohl rund 3,5 Millionen im größten Getreideanbaugebiet – der Ukraine –, weitere 1,5 Millionen in Kasachstan; es kamen zahllose Opfer in Russland und anderen Gebieten der Sowjetunion hinzu. Gemessen an der Größe der Bevölkerung hatte während der gesamten Hungersnot nicht die Ukraine, sondern vielmehr Kasachstan die höchste Zahl an Todesopfern zu beklagen. Fachhistoriker beurteilen die Verantwortung der sowjetischen Regierung unterschiedlich; von einem gezielten Genozid geht jedoch nur eine kleine, in der Regel weit rechts stehende Minderheit aus.

Im Milieu ehemaliger NS-Kollaborateure

Erstmals in einer breiteren Öffentlichkeit zum Thema und zugleich zum Mittel politischer Propaganda gemacht worden ist die Hungersnot in der Ukraine Anfang der 1980er Jahre, und zwar in der ukrainischen Exilcommunity in Kanada, in der ukrainische NS-Kollaborateure klar den Ton angaben. Hintergrund war, wie der Historiker Per Anders Rudling von der Universität Lund es bereits vor Jahren beschrieben hat [1], die Debatte über die Shoah, die nach der Ausstrahlung der Fernsehserie Holocaust im Jahr 1978 erstarkte. In diesem Kontext fürchteten ukrainische NS-Kollaborateure in Kanada, ins Visier von Öffentlichkeit und Ermittlungsbehörden zu geraten, und gingen zu einer Art Gegenoffensive über, indem sie – so schildert es Rudling – die Hungersnot von 1932/33 zu einem angeblich gezielten Massenmord, zum Genozid erklärten. Dabei seien Trennlinien zwischen Polit-Aktivismus und Wissenschaft verschwommen: So habe in den 1980er Jahren zum Beispiel ein Veteran der Waffen-SS-Division Galizien deren lokalen Traditionsverband im kanadischen Edmonton angeführt, dem Vorstand des Canadian Institute of Ukrainian Studies angehört und als Kanzler der University of Alberta gewirkt.[2] Zunächst sei vom „Hungersnot-Holocaust“ oder vom „ukrainischen Holocaust“ die Rede gewesen; Ende der 1980er Jahre sei dann der Begriff „Holodomor“ aufgekommen.

Das Geschichtsbild des Exils

Rudling beschreibt zudem, wie nach dem Zerfall der Sowjetunion die Geschichtsschreibung des ukrainischen Exils in der Ukraine dominant wurde. Zwar sei es dem ukrainischen Exil – anders als demjenigen der baltischen Staaten – nicht gelungen, staatliche Spitzenpositionen in der Ukraine zu erobern, stellt Rudling fest. Doch hätten ukrainische Exilhistoriker es binnen kürzester Zeit vermocht, die alte sowjetische Geschichtsschreibung zu verdrängen. Damit sei das im Exil dominante, stark von NS-Kollaborateuren geprägte Weltbild, dem zufolge die NS-Kollaborateure der OUN wie auch der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) als heldenhafte „Freiheitskämpfer“ einzustufen seien und die Hungersnot von 1932/33 als „Genozid“ zu gelten habe, in die Geschichtsschreibung in der Ukraine selbst übergegangen. Staatliche Weihen habe sie unter Präsident Wiktor Juschtschenko erhalten, schreibt Rudling.[3] Juschtschenko, in der „Orangenen Revolution“ des Jahres 2004 mit massiver Unterstützung des Westens an die Macht gelangt, erklärte nicht nur OUN-Führer Stepan Bandera im Jahr 2010 posthum zum „Helden der Ukraine“; während seiner Amtszeit stufte außerdem das Parlament die Hungersnot offiziell als „Genozid“ (2006) ein. Es widersprach damit der weit überwiegenden Mehrheit der Historiker außerhalb der Ukraine.

„Als Genozid anerkennen“

Der Einstufung der Hungersnot als „Genozid“, die mehrere westliche Staaten und Parlamente bereits vorgenommen haben – Kanadas Regierung etwa schon im Jahr 2008, der US-Senat im Jahr 2018 –, will sich jetzt auch der Bundestag anschließen. Zuletzt hatten ukrainische Politiker Druck gemacht; so hatte etwa Außenminister Dmytro Kuleba in der Tageszeitung Die Welt verlangt, der Bundestag solle „den Holodomor als Genozid anerkennen“.[4] Zudem hatte der ukrainische Parlamentspräsident Ruslan Stefantschuk erklärt, er würde sich einen „Holodomor-Beschluss des Bundestages“ „sehr wünschen“.[5] Jetzt heißt es in einer Vorlage für eine Parlamentsresolution, die Berichten zufolge von dem Grünen-Abgeordneten Robin Wagener initiiert wurde, die von den Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und CDU/CSU unterstützt wird und an diesem Mittwoch vom Bundestag verabschiedet werden soll, „aus heutiger Perspektive“ liege „eine historisch-politische Einordnung“ der Hungersnot „als Völkermord nahe“: „Der Deutsche Bundestag teilt eine solche Einordnung“.[6] Damit macht sich das deutsche Parlament die Position des von NS-Kollaborateuren geprägten ukrainischen Exils im Kanada der 1980er Jahre ausdrücklich zu eigen.

„Historisch-politisch“

Aufschlussreich ist, dass der Resolutionsentwurf die Einstufung der Hungersnot als Genozid explizit als „historisch-politisch“ einschränkt. Berlin ist bis heute nicht bereit, den Genozid an den Herero und Nama unumwunden anzuerkennen, weil dann Entschädigungen gezahlt werden müssten. Um den Völkermord nicht auf Dauer stumpf leugnen zu müssen, versteift es sich inzwischen darauf, ihn „historisch-politisch“ anzuerkennen, nicht aber juristisch, da vor dem Inkrafttreten der UN-Völkermordkonvention am 12. Januar 1951 ein Straftatbestand Genozid schlicht nicht existiert habe (german-foreign-policy.com berichtete [7]). Diese Rechtsposition wäre schwer zu halten, stufte der Bundestag die Hungersnot uneingeschränkt als Völkermord ein; daher die Einschränkung „historisch-politisch“.

Berliner Prioritäten

Zudem wirft die Übernahme von Positionen des einstigen ukrainischen Exils in Kanada ein Schlaglicht auf die Haltung Berlins zu einer UN-Resolution, die seit Jahren regelmäßig bei den Vereinten Nationen eingebracht wird und die insbesondere die „Bekämpfung der Verherrlichung des Nationalsozialismus“ und „des Neonazismus“ zum Ziel hat. Bereits seit Jahren enthält sich die Bundesrepublik in der Abstimmung darüber, anstatt klar gegen NS-Verherrlichung Position zu beziehen.[8] Am 4. November dieses Jahres hat Deutschland sogar explizit mit Nein gestimmt. Der Grund: Der Resolutionsentwurf war, wie üblich, von Russland eingebracht worden, das dabei auch die Verherrlichung der NS-Kollaborateure im Sinne hat, wie sie in den baltischen Staaten und der Ukraine bis heute an der Tagesordnung ist.[9] Vor die Wahl gestellt, entweder NS-Verherrlichung inklusive der Ehrung von NS-Kollaborateuren zu verurteilen oder durch die Ablehnung des Entwurfs Russland zu brüskieren, hat sich Berlin für Letzteres entschieden: Der heutige Machtkampf des Westens gegen Moskau hat Vorrang vor dem Bekenntnis zum Kampf gegen den Nazismus.

Angriff auf die Meinungsfreiheit

Womöglich weit reichende Fragen wirft der Resolutionsentwurf schließlich in Verbindung mit der im Oktober erfolgten Verschärfung von §130 StGB auf, wonach jetzt „das öffentliche Billigen, Leugnen oder gröbliche Verharmlosen von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen unter Strafe“ stehen. Die Verschärfung ist als Angriff auf die Freiheit der Meinungsäußerung scharf kritisiert worden. In Zukunft könnte sie, gestützt auf die für Mittwoch angekündigte Bundestagsresolution, auch auf Äußerungen über die Hungersnot der Jahre 1932/33 in der Ukraine angewandt werden. Das träfe die Mehrheit der Geschichtswissenschaft außerhalb der Ukraine, die die Hungersnot für eine furchtbare Katastrophe hält – mit durchaus divergierender Einschätzung der Verantwortung Moskaus –, aber eben nicht für einen Genozid.

[1], [2], [3] Per Anders Rudling: Memories of “Holodomor” and National Socialism in Ukrainian political culture. In: Yves Bizeul (Hg.): Rekonstruktion des Nationalmythos? Frankreich, Deutschland und die Ukraine im Vergleich. Göttingen 2013. S. 227-258

[4] Dmytro Kuleba: Darum sollte der Bundestag den Holodomor als Genozid anerkennen. welt.de 21.11.2022.

[5] „Sie warten auf den Sieg und werden zurückkehren“. Frankfurter Allgemeine Zeitung 25.11.2022.

[6] Florian Gathmann, Marina Kormbaki, Severin Weiland: Ampel und Union wollen Hungersnot in der Ukraine als Völkermord anerkennen. spiegel.de 25.11.2022.

[7] S. dazu Schweigegeld statt Entschädigung (II).

[8] S. dazu Das Gedenken der Wehrhaften.

[9] S. dazu Von Tätern, Opfern und Kollaborateuren (II) und Von Tätern, Opfern und Kollaborateuren (III).

Erschienen in „German-Foreign-Policy“-News, am 22.11.22
https://www.german-foreign-policy.com/

Wir danken der GFP-Redaktion für das Abdruckrecht.


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